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Katholische Kirche: Der angekündigte Rücktritt von Kardinal Marx erschüttert die Kirche

Katholische Kirche

Der angekündigte Rücktritt von Kardinal Marx erschüttert die Kirche

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    Kardinal Reinhard Marx am Freitagmittag im Innenhof seines Amtssitzes. Was er sagt, macht Schlagzeilen in aller Welt – und verschärft die Kirchenkrise.
    Kardinal Reinhard Marx am Freitagmittag im Innenhof seines Amtssitzes. Was er sagt, macht Schlagzeilen in aller Welt – und verschärft die Kirchenkrise. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Da steht er nun, im Innenhof seiner Münchner Residenz, beste Altstadtlage. Umringt von Journalisten. Vor gut drei Stunden, um exakt 11:02 Uhr, hatte seine Pressestelle eine Mail verschickt. „Betreff: Kardinal Marx bietet Papst Franziskus Amtsverzicht an“. Die Nachricht kommt völlig überraschend, sie ist eine Sensation. Einer der mächtigsten deutschen Kardinäle, langjähriger Vertrauter und Berater von Papst Franziskus, möchte zurücktreten.

    Kardinal Marx: Mitverantwortung für Missbrauchsfälle in der Kirche

    Er wolle Mitverantwortung tragen für „die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche“, ließ der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx mitteilen. Nicht ohne einen kräftigen Seitenhieb auf „manche in der Kirche“, die „jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberstehen“. Mancher Mitbruder dürfte sich davon angesprochen fühlen. Und so hat Marx’ angekündigter Abgang das Zeug dazu, die Krise der katholischen Kirche weiter zu verschärfen. Noch weiter. Die katholische Kirche sei an einem „toten Punkt“, befand er. Das ist drastisch und dramatisch. Und ohne Beispiel.

    Am Freitagmittag sagt Marx vor den Journalisten: Er wolle ein unmissverständliches Zeichen setzen, wolle Verantwortung übernehmen. Die katholische Welt trifft das Marx-Beben unvorbereitet. „Da geht der Falsche“, sagt der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, offenkundig bedrückt. Er wird als Vertreter reformorientierter Katholiken wahrgenommen. Auf katholisch-konservativer Seite dagegen wird geätzt: Mit einem groß aufgezogenen Rücktritt könne Marx noch ein Sahnehäubchen draufsetzen, wenn er sich zum Kronzeugen der äußeren Kirchenfeinde mache, kommentiert jemand im Netz. Die Gräben reichen tief.

    Kirchenrechtler ist fassungslos über Amtsverzicht von Kardinal Marx

    Einer, der hörbar fassungslos ist, ist Thomas Schüller. Der Münsteraner Kirchenrechtler wurde in den vergangenen Monaten zu einer der Stimmen der Kritik, was den innerkirchlichen Umgang mit Missbrauchsfällen angeht. Er wurde deutlich, wo andere lavierten. Er wurde im Falle des höchst umstrittenen Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki ebenso deutlich wie im Falle von Marx.

    Kirchenrechtler Thomas Schüller.
    Kirchenrechtler Thomas Schüller. Foto: Thomas Schüller

    Eine gute halbe Stunde nach Bekanntwerden der Pressemitteilung aus München sagt Schüller am Telefon: „Ich bin selten sprachlos, heute bin ich es.“ Er findet dann doch schnell wieder zu seiner Sprache und zeichnet ein Zustandsbild der katholischen Kirche in Deutschland, wie es trostloser kaum sein könnte. Woelki könne jetzt nicht länger im Amt bleiben, die Kirche müsse sich reformieren. Zunächst aber: Alle älteren deutschen Bischöfe sollten sich fragen, ob nicht auch sie ihren Amtsverzicht anbieten müssten, sagt Schüller. Ältere, weil sie zu Zeiten agierten, in denen es beispielsweise noch keine strikteren kirchenrechtlichen Vorgaben zum Umgang mit Missbrauchsfällen gab. In denen Täter versetzt und Opfern die Glaubwürdigkeit abgesprochen wurde. „Das ist eine Zäsur für die Kirche in Deutschland“, meint Schüller.

    Es ist nicht lange her, 2018, dass – ausgerechnet – Marx die Frage nach Verantwortungsübernahme für den skandalösen Umgang mit Missbrauchsfällen durch Kleriker schroff und mit einem einzigen Wort zurückwies. In Fulda hatte die Deutsche Bischofskonferenz, deren Vorsitzender er damals war, eine von ihr bei unabhängigen Forschern beauftragte Missbrauchsstudie vorgestellt. Die Oberhirten wollten endlich in die Offensive kommen und Entschlossenheit demonstrieren.

    „Ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist, und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben. Das gilt auch für mich“, sagte Marx. Doch dann fragte ihn eine Journalistin: „Hier sind jetzt über 60 Bischöfe versammelt. Gab es einen oder zwei, die im Zuge ihrer Beratungen gesagt hätten: Ich habe so viel persönliche Schuld auf mich geladen, ich kann eigentlich diese Verantwortung des Amtes nicht mehr tragen?“ Marx sagte: „Nein.“

    1670 Geistliche sollen 3677 Kinder und Jugendliche missbraucht haben

    Der Leiter der Studie, Professor Harald Dreßing, saß direkt neben ihm. Er habe gedacht, erzählte er kürzlich: „Es ist völlig erstaunlich, dass die Bischöfe nicht alles durchdacht haben. Es war doch klar, dass das Thema Rücktritt angesprochen würde.“ Die Studie hatte Deutschland aufgerüttelt und weltweit für Schlagzeilen gesorgt: 1670 Geistliche sollen zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3677 Kinder und Jugendliche, überwiegend minderjährige Jungen, missbraucht haben.

    Doch von Rücktritt wollten die Bischöfe nichts wissen. Immer wieder stellte die zunehmend erboste Öffentlichkeit fest: Reaktionen kamen erst auf massiven Druck hin. So war das auch im Erzbistum Köln. Dort hielt Kardinal Woelki ein Gutachten, das er bei einer Münchner Kanzlei in Auftrag gegeben hatte, monatelang unter Verschluss. Wegen angeblich methodischer Mängel. Ein zweites Gutachten, das „Gercke-Gutachten“, fiel schließlich im März zumindest für ihn positiv aus: Ihm sei keine straf- oder kirchenrechtliche Pflichtverletzung nachzuweisen, hieß es. Über seine moralische Verantwortung verlor Woelki wenige Worte. Mit der Folge, dass die Kritik an ihm nicht endete. Im Unterschied zu Woelki boten der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der Kölner Generalvikar war, sowie ein Kölner Weihbischof dem Papst ihren Rücktritt an.

    Würde man das Gercke-Gutachten und dessen Kriterien zum Maßstab nehmen, hat sich Marx „ein ganzes Bündel an gravierenden Amtspflichtverletzungen“ zuschulden kommen lassen, sagt Kirchenrechtsprofessor Schüller. Marx wird vorgeworfen, nicht gehandelt zu haben, nachdem er 2006 starke Hinweise darauf erhalten habe, dass Pfarrer M. aus dem Saarland ein Missbrauchstäter sein könnte. M. blieb daraufhin jahrelang unbehelligt, hatte Kontakt zu Kindern und Jugendlichen – und wurde mehrfach angezeigt, enthüllte vor kurzem die Zeit-Beilage Christ&Welt.

    Marx bedauerte sein Verhalten. Auch Unwissenheit verhindere nicht, dass Verantwortung und Schuld vorliegen und übernommen werden müssten, erklärte er und sprach sich für eine unabhängige Untersuchung aus. Zudem verzichtete er auf das Bundesverdienstkreuz, das ihm Ende April hätte verliehen werden sollen. Missbrauchsopfer hatten sich dagegen verwahrt.

    Ist Kardinal Marx’ Rücktrittsangebot also eine Flucht nach vorn?

    Der Druck auf ihn wäre auch aus anderer Richtung gestiegen. Er selbst hatte ein Missbrauchsgutachten für sein Erzbistum in Auftrag gegeben, das bis ins Jahr 2019 reicht. Marx war 2008 in sein Amt als Münchner Erzbischof eingeführt worden. Den Auftrag erhielt die Münchner Kanzlei, deren Gutachten für das Erzbistum Köln im Giftschrank verschwand.

    Es ist anzunehmen, dass das Gutachten für München reichlich Sprengstoff bieten wird, zumal es die Rolle des früheren Münchner Erzbischofs Joseph Ratzinger beleuchtet – der heute emeritierte Papst Benedikt XVI. Es wäre einiges auf Marx zugekommen. Aus Münchner Kirchenkreisen ist anderes zu hören. Weder habe seine Entscheidung zum Amtsverzicht damit zu tun noch sei er amtsmüde. Er wolle ein Zeichen setzen – für eine wirklich tief greifende Missbrauchsaufarbeitung und Reformen.

    Anfang Februar sagte Marx unserer Redaktion, er wolle das Missbrauchsgutachten für sein Erzbistum „im Laufe des Jahres“ vorstellen und Verantwortliche benennen. Im Gespräch ließ er keinen Zweifel daran, dass er das Gutachten – anders als Woelki – nicht unter Verschluss nehmen werde. Wie er da so saß, in der prachtvollen Bibliothek des Palais Holnstein, sein Amtssitz im Zentrum Münchens – da strahlte er etwas aus, das sich vielleicht so beschreiben lässt: Hier ruht einer in sich. Einer, der sich seines Weges sicher zu sein scheint. Kirchenrechtler Schüller drückt es so aus: Marx habe in den vergangenen Jahren eine persönliche Reflexion vorgenommen, die ihn verändert habe.

    Marx, das sagen engagierte Katholiken und sogar Missbrauchsopfer, sei inzwischen „glaubwürdig“. Es ist etwas, dass sie über Woelki keinesfalls sagen würden. Marx hat sich den Respekt, der ihm entgegengebracht wird, erarbeitet. Nicht mit wortgewaltigen Beteuerungen, sondern mit Taten. So gründete er eine Stiftung namens „Spes et Salus“ (Hoffnung und Heil), die Missbrauchsopfern helfen soll. In sie brachte er im Dezember 2020 „den allergrößten Teil“ seines Privatvermögens ein, 500.000 Euro. Acht Jahre zuvor bereits hatte er mit 97.000 Euro aus seinen Privatmitteln einen beträchtlichen Teil der Leistungen für Betroffene des Erzbistums München und Freising übernommen. Die Frage eines New Yorker Reporters, ob die aufgedeckten Missbrauchsfälle seinen Glauben berührt hätten, habe ihn betroffen gemacht.

    Wie geht es Kardinal Marx nach dem Rücktritt?

    Wie es Marx geht? Wie es ihm in den vergangenen Monaten ging? Der Augsburger Bischof Bertram Meier sagt am Freitag: „Ich habe Kardinal Marx lebensfroh, gesellig, zupackend, aber als Westfale auch als ,sensible Eiche‘ erlebt. Diese eher äußerlichen Züge gründen in einer tiefen Spiritualität, in einer unerschütterlichen Freundschaft zu Jesus und fester Treue zur Kirche.“

    Marx, der das Image eines barocken Genussmenschen hat, der nie einem Glas Rotwein und einer Zigarre abgeneigt ist, wurde am 21. September 1953 in Geseke geboren, sein Vater war Schlossermeister. Darin dürfte der Grund liegen, dass Sozialethik seine Herzensangelegenheit wurde. 2008 legte er mit dem Traktat „Das Kapital“ ein leidenschaftliches „Plädoyer gegen die Logik der Finanzmärkte“ vor.

    Im bischöflichen Amt kann er auf eine steile Karriere blicken. 1996 wurde er Weihbischof in Paderborn, in Trier war er bei seinem Amtsantritt 2002 der jüngste Diözesanbischof, in München der erste Nichtbayer auf dem Stuhl des heiligen Korbinian. Als er 2014 den Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz übernahm, störte seine Kritiker sein oft forsches Auftreten. Im Februar 2020 kündigte er seinen Rückzug an, ebenfalls überraschend. Er werde zu alt, ein Jüngerer solle übernehmen, erklärte er. Überzeugend wirkte das auf Beobachter nicht.

    Nun also der nächste überraschende Rückzug: Er habe Papst Franziskus gebeten, er möge über seine weitere Verwendung entscheiden, teilte Marx mit. Bis dahin solle er, so die Antwort des Kirchenoberhaupts, seinen bischöflichen Dienst weiter ausüben. Wie lange das sein wird, weiß allein Papst Franziskus.

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