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Kaisheim: Diese Frau bewacht 608 Männer

Kaisheim

Diese Frau bewacht 608 Männer

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    Wenn man genau hinhört, hört man nichts. Es ist so still, dass es auf dem langen Gang ein wenig hallt, wenn Anja Mittel ihren schweren Schlüsselbund zückt. Das Licht ist gelblich, Fenster gibt es keine. Mehrere Türen gehen nach links ab, die Türen zu den Zellen. Hinter der, die Mittel gerade geöffnet hat, ist es noch dunkel. „Guten Morgen!“, sagt sie laut und deutlich, aber freundlich. Sie bleibt in der Tür stehen – und wartet.

    Es ist kurz nach 6 Uhr, Frühkontrolle in der Justizvollzugsanstalt Kaisheim. Ein paar Minuten vorher, pünktlich um 5.45 Uhr, hat für Anja Mittel der Arbeitstag begonnen. Mit einem ihrer Schlüssel, die sie in den nächsten Stunden noch viele Male zur Hand nehmen wird, hat sie ein verschnörkeltes Tor im Eingangsbereich geöffnet, ist in einen der langen Gänge des Gefängnisses getreten. Was die Justizvollzugsbeamtin an diesem Tag erwartet, weiß sie nicht genau. Doch der 43-Jährigen macht das nichts aus: „Genau das ist es, was die Arbeit mit den Gefangenen so abwechslungsreich macht.“

    Anja Mittel wartet nach ihrem „Guten Morgen!“ auf eine Antwort. Kommt die aus dem Inneren der Zelle nicht, geht Mittel hinein und tritt an die Betten der Gefangenen heran. Sie spricht die Männer mit Namen an. Man siezt sich. Erst, wenn sich jeder Insasse gemeldet hat, geht sie wieder. Erst dann könne sie sicher sein, dass es allen gut geht, sagt sie.

    Räuber, Einbrecher, Schläger, Mörder - alle sitzen hier ein

    Mit schnellen Schritten läuft die Frau an den vergitterten Fenstern vorbei. Ihre langen Haare hat sie locker zusammengebunden, sie trägt Lippenstift, etwas Lidschatten und Wimperntusche. Angst, sagt Anja Mittel, habe sie keine bei ihren Kontrollgängen durch die Flure der Justizvollzugsanstalt. Aktuell sitzen in Kaisheim im Kreis Donau-Ries 608 Gefangene ein – alles Männer. Die Gründe dafür? „Querbeet“, sagt Gefängnisdirektor Friedhelm Kirchhoff. Es sind verurteilte Räuber, Einbrecher, Schläger, Sexualstraftäter, sogar Mörder. „Wir haben alles“, sagt Kirchhoff.

    Anja Mittel ist hier eine von 165 Mitarbeitern im Allgemeinen Vollzugsdienst, 17 davon sind Frauen. Hinter den hohen Mauern sorgen sie, wie Mittel sagt, „für Sicherheit und Ordnung“. In drei Schichten beaufsichtigen sie und ihre Kollegen die Häftlinge, kontrollieren, ob Hausordnung und Nachtruhe eingehalten werden, ob die Zellen sauber und die Gefangenen vollzählig sind. Seit über 20 Jahren ist Mittel im Dienst – und sie mag diesen Job.

    Etwa 70 Männer sind in der Abteilung inhaftiert, in der Mittel und ihre Kollegen arbeiten. Es gibt Einzel- und Gemeinschaftszellen. In manchen flimmert bereits jetzt früh am Morgen der Fernseher, aus anderen tritt der herbe Duft eines Deodorants. Bis 6.40 Uhr haben die Häftlinge Zeit, sich auf den Weg zur Arbeit zu machen, erklärt Mittel. Und dass etwa die Hälfte der Insassen im Gefängnis arbeiten kann, in der Bäckerei, Küche oder Wäscherei. Doch nicht für jeden gibt es eine geeignete Stelle. Manche sind zu alt dafür, andere holen erst einmal einen Schulabschluss nach.

    Mittel schließt eine Zelle nach der anderen ab. Auf dem Gang kehrt Ruhe ein. In der „Zentrale der Anliegen“, wie die Beamtin ihr Dienstzimmer nennt, wird sie schon von einem Kollegen erwartet. Während er die Überwachungsmonitore mit Schwarz-Weiß-Bild im Blick hat, sortiert sie die Anträge, die an diesem Morgen eingegangen sind: Einige Häftlinge bitten um einen Termin in der Krankenabteilung, einer macht auf das kaputte Fenster in seiner Zelle aufmerksam, ein anderer will mit seiner Frau telefonieren. „Das müssen die Gefangenen schriftlich beantragen“, erklärt Mittel. In der Regel dürfen die Insassen nur Briefe schreiben.

    Diese Welt hinter den hohen Mauern und vergitterten Fenstern, „das ist eine ganz eigene Welt“, sagt Mittel. Berührungspunkte dazu hatte es in ihrem Leben nicht gegeben. Und doch konnte sie der Gedanke an die Arbeit mit Straftätern nicht abschrecken. „Ich war einfach neugierig“, erinnert sich Mittel. Mit 20 entschied sie sich, die Ausbildung zu machen – zu einer Zeit, als sie noch als Zahnarzthelferin arbeitete. „Ich bekam Lust, etwas ganz anderes zu machen.“

    Damals, Anfang der 90er Jahre, begannen Frauen, in Männergefängnissen zu arbeiten. Mittel gehörte zu den ersten in Kaisheim. Es war ein „Einbruch in eine Männerdomäne“, erinnert sie sich. Sie lacht, als sie von Vorurteilen der männlichen Kollegen damals erzählt, weil so mancher gedacht habe: „Jetzt müssen wir auch noch auf die aufpassen!“ Heute sei davon nichts mehr zu spüren. Sie darf die Häftlinge keinen Leibesvisitationen unterziehen, das dürfen nur Männer. Ansonsten haben alle Justizvollzugsbeamten die gleichen Aufgaben.

    Die Häftlinge stehen unter ständiger Beobachtung

    Selbstbewusst trägt Mittel die Uniform in Moosgrün – der Farbe, wie sie zur bayerischen Justiz gehört. Die Kleidung signalisiere den Gefangenen ihre Position, sagt Mittel. Sie grenzt sie von den Häftlingen ab. Die meisten überragen die Frau, die nur 1,60 Meter groß ist, ohnehin. Mittel macht sich nichts daraus. Zielstrebig läuft sie die Treppenstufen hinunter, zückt am Tor den passenden Schlüssel und geht weiter, den Korridor entlang. Auf einem Spickzettel hat sie sich notiert, welcher der neuen Insassen am Hofgang teilnehmen will. Es ist 7.30 Uhr. Für sie ist jetzt eine Stunde an der frischen Luft vorgesehen.

    Diese geregelten Abläufe sind wichtig, ist sich Mittel sicher: „Viele Gefangene brauchen genau das.“ Neu ist der Haftalltag aber für die wenigsten. Jeder, der in Kaisheim einsitzt, befindet sich im Regelvollzug, hat also vorher schon einmal mindestens drei Monate Freiheitsstrafe verbüßt. Mittel kennt nicht nur die Namen der Häftlinge in ihrer Abteilung, sie weiß auch, warum sie hier sind – wenn auch nicht immer im Detail. „Ich bin in der Vergangenheit besser damit gefahren, nicht alle Hintergründe genau zu kennen“, sagt sie. Manchmal wirft sie auch einen Blick in die Akten. Weil es wichtig sei, gewisse Zusammenhänge zu verstehen.

    Der Himmel ist ein einziges Grau an diesem Vormittag. Drei Häftlinge in olivgrünen Parkas drehen ihre Runden im Innenhof, ringsum erheben sich hohe Mauern. Mittel setzt sich in ein Holzhäuschen und schaltet die Heizung ein. Aus den Augen lassen darf sie die Gefangenen nicht. „Sie müssen auch im Hof ständig beaufsichtigt werden“, sagt sie und blickt durch ein vergittertes Fenster zu den Männern. Mitleid, nein, das habe sie nicht. „Es gibt ja einen Grund, weshalb die hier sind.“

    Und doch ist es nicht immer so einfach, räumt Mittel ein. Gefangener sein und Mensch sein – da schließe das eine ja das andere nicht aus. Gerade bei den Jüngeren versuche sie ab und an, „etwas zu bewegen“. Zu appellieren, dass sie ihr Leben auf die rechte Bahn lenken. Weil man in jungen Jahren die Möglichkeit habe, sich privat und beruflich etwas aufzubauen. Selbst wenn Gefangene am Ende ihrer Haftzeit Besserung geloben, von einem Neuanfang sprechen, sieht Anja Mittel viele irgendwann wieder.

    Freundlich, aber bestimmt tritt Mittel gegenüber den Gefangenen auf. Und sie achtet darauf, Distanz zu den Häftlingen zu wahren. Mit dieser Haltung habe sie bisher viel erreicht, sagt sie. „Es ist wichtig, dass das Zusammenleben hier funktioniert.“ Trotzdem kam es schon zu verbalen Auseinandersetzungen, zu Streitigkeiten, es wurde laut. Übergriffe auf weibliches Personal hingegen gab es in Kaisheim bisher nicht, betont Gefängnisdirektor Kirchhoff. Einmal habe ein Insasse einer Angestellten sein Geschlechtsteil gezeigt – „angeblich ohne Absicht“. Die Folge war ein Disziplinarverfahren.

    Der Umgang ist freundlich, aber bestimmt

    Frauen würden bei vielen Häftlingen eher die Beschützerinstinkte wecken, sagt Kirchhoff. Zudem werde in Abteilungen, in denen eine Beamtin arbeitet, mehr auf Kleidung, auf Hygiene und den Ton geachtet. „Die Männer sollen hier ja an ein Leben in Freiheit gewöhnt werden“, sagt Kirchhoff. Dazu gehöre der normale Umgang mit einer Frau, auch als Respektsperson.

    Ob dieser normale Umgang auch immer funktioniert? Mittel räumt ein, dass es „schon mal vorkommen kann“, dass die Justizvollzugsbeamtinnen Liebesbriefe bekommen oder sich anzügliche Bemerkungen anhören müssen. Solche Distanzüberschreitungen, wie sie es nennt, müssten klar und deutlich angesprochen und gemeldet werden. „Das dient unserem eigenen Schutz“, sagt sie und zeigt mit ihren gefalteten Händen erst nach links, dann nach rechts: „Da sind die Gefangenen. Dort wir, die Bediensteten.“

    Nach dem Hofgang führt Mittel die neuen Insassen in ihre Zellen. Dann müssen Häftlinge in die Krankenabteilung begleitet und pünktlich zum Mittagessen alle Zellen geöffnet werden. In den nächsten Stunden wird Mittel Briefe austeilen, Hafträume kontrollieren und Büroarbeit machen. Auf dem Gang hält sie ein Sozialarbeiter auf und fragt nach, wie sich dieser eine Häftling denn mittlerweile macht.

    Um 14.15 Uhr darf Anja Mittel die Gefängniswelt hinter sich lassen – und sich aufmachen in ihre eigene Welt. In ihrem Familienleben tanke sie Kraft, sagt sie. Noch ein schweres Tor, noch ein letztes Mal zückt sie den scheppernden Schlüsselbund. „Es ist eben gut, wenn man in diesem Haus einen Schlüssel hat“, sagt Mittel und lächelt.

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