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Foto: Jens Büttner, dpa
Foto: Jens Büttner, dpa

Gerade die Arbeit auf Intensivstationen fordert von Ärzten und Pflegekräften sehr viel. Der Verein PSU Akut möchte in allen Krankenhäusern und Praxen Hilfsmöglichkeiten auf Augenhöhe schaffen, damit Ärzte und Pflegekräfte traumatische Erlebnisse besser verarbeiten können.

InterviewWahl
10.03.2021

Intensivmediziner warnt: "Vielen Ärzten und Pflegern geht die Kraft aus"

Von Daniela Hungbaur

Ein Arzt spricht im Interview über die Belastungen in der Corona-Krise, über die viele seiner Kollegen oft nicht reden. Und er hat ein Unterstützungsangebot.

Herr Dr. Schießl, Sie haben den Verein PSU akut, eine Anlaufstelle für psychosoziale Unterstützung für Menschen im Gesundheitswesen gegründet. Sie selbst sind Anästhesist und Notfallmediziner, welchen Einsatz erlebten Sie als besonders belastend?

Dr. Andreas Schießl: Ich weiß nicht, ob dieser Einsatz für mich besonders belastend war, aber ich hatte so etwas wie ein Schlüsselerlebnis: Ich wurde zu einem Unfall in der U-Bahn gerufen. Als ich zu dem Patienten zusammen mit einer Sanitäterin hinunter gekrabbelt war und seinen Kopf ertastete, wusste ich sofort, er ist tot. Ich kann nichts mehr für ihn tun. Gleich gingen meine Gedanken zu dem U-Bahn-Fahrer, doch bei ihm saß zum Glück bereits jemand und sprach mit ihm. Dann schaute ich nach den Feuerwehrleuten, auch sie erklärten mir, ich solle mir keine Sorgen machen, sie können eine kollegiale Stressbewältigung in Anspruch nehmen. Als ich in meinem Auto saß, wurde mir klar: Lokführern, Feuerwehrleuten, Polizisten – allen wird ein Gesprächsangebot zur Bewältigung von Extremsituationen angeboten, nur bei uns Ärzten, aber auch bei den Pflegekräften in Kliniken geht man immer davon aus, die kommen schon alleine mit diesen Situationen zurecht.

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Foto: Carolin Jacklin
Foto: Carolin Jacklin

Dr. Andreas Schießl ist Oberarzt im Fachzentrum für Anästhesie & Intensivmedizin in der Schön Klinik München Harlaching. Er hat den Verein PSU akut gegründet.

So ein Notarzteinsatz gehört sicher zu den belastendsten Erlebnissen oder?

Schießl: Das kann man so nicht sagen, das ist unterschiedlich. Wichtig ist: Jeder Einzelne reagiert individuell. Das hat auch viel mit der persönlichen Lebenssituation zu tun. Wenn ein kleines Kind stirbt und man ist selbst Mutter oder Vater eines Kindes etwa in dem Alter, dann kann einen das wesentlich stärker mitnehmen, als wenn man in einer ganz anderen persönlichen Situation lebt und mehr Distanz hat.

Die Corona-Pandemie mutet täglich Extreme zu

Gerade jetzt in der Pandemie wäre Unterstützung sicher nötiger denn je, was belastet denn die Ärzte und Pflegekräfte gerade jetzt am meisten?

Schießl: Die Pandemie mutet den Menschen im Gesundheitsbereich wirklich täglich Extreme zu. Die Anstrengung, der die Ärzte und Pflegekräfte ausgesetzt sind, ist immens. Gerade auf den Intensivstationen ist es oft einfach frustrierend, zu erleben, dass man alles, wirklich alles versucht, um Menschen am Leben zu erhalten, und es funktioniert oft trotz aller Bemühungen nicht. Hinzu kommt, dass die Patienten oft allein auf den Intensiv- und Covidstationen gestorben sind – das forderte viele Ärzte und Pflegekräfte zusätzlich.

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Und die Pandemie ist noch nicht vorbei...

Schießl: Selbst jetzt, wo die Zahlen sinken, bleiben die Patienten hoch aufwendig. Wir wissen, dass manche Intensivschwester jetzt eine Rechnung aufmacht: Was kommt nach der Pandemie? Wie lange halte ich das noch durch? Wohin kann ich wechseln? Denn eine Pause ist ja nicht in Sicht, auch nicht, wenn die Pandemie irgendwann einmal in den Griff zu bekommen ist. Beispielsweise sind viele große Operationen und andere Eingriffe verschoben worden, das kommt alles noch. Die Belastung geht einfach weiter. Denn eine Klinik muss Geld verdienen, da ist eine zweiwöchige Schließung zur Erholung des Personals nicht drin.

Wenn Patienten trotz aller Bemühungen sterben und dies immer wieder passiert – wie kommt man denn generell mit so einer Situation zurecht?

Schießl: Ich denke, viele Kollegen versuchen, solche Erlebnisse zu verdrängen. Und ein gewisser Verdrängungsmechanismus ist auch gut. Ärzte und Pflegekräfte sind meist hoch resiliente Menschen, sonst könnten sie in diesem Beruf gar nicht so viel leisten. Doch wer immer weitermacht in so einem extrem hoch getakteten System, in dem es ständig zu Extremsituationen kommt, der droht auch die beste Widerstandskraft irgendwann zu verlieren. Es geht ja immer um Leben und Tod, sie müssen ständig Entscheidungen treffen, die existenziell sind. Und viele glauben, sie müssen immer weiter funktionieren, egal, was passiert.

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Das Bild der Halbgötter in Weiß gibt es nicht ohne Grund

Weil es wirklich erwartet wird?

Schießl: Ja, das ist so etwas wie eine Tradition in unserem Beruf. Es gibt nicht ohne Grund das Bild der Halbgötter in Weiß. Dass sie selbst schwächeln, passt nicht ins Bild – vor allem nicht ins Bild von ihnen selbst.

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Foto: Ralf Lienert
Foto: Ralf Lienert

Corona hat die Belastungen für Klinikärzte und Pflegepersonal noch einmal verschärft.

Gehört der Selbstschutz nicht zum Studium oder zur Ausbildung?

Schießl: Nein, aber in manchen Bereichen, etwa in der Palliativ- und in der Schmerzmedizin ist beispielsweise Supervision eingekehrt. In der Psychologie ist dies beispielsweise längst verankert. Aber gerade in der Intensivmedizin gibt es das gar nicht. Und man darf nicht vergessen: Mediziner und Pflegekräfte sind in den allermeisten Fällen Menschen mit einem sehr hohen moralischen Anspruch an sich selbst, sie wollen helfen. Und sie haben verinnerlicht, dass sie selbst immer stark sein müssen, dass sie immer weitermachen müssen. Da ist es ein Tabu, sich einzugestehen, dass man selbst verletzlich ist, dass man selbst schwach wird. Und das ist sehr gefährlich, denn man riskiert, mit der Zeit abzustumpfen.

Was auch für Patienten bitter ist.

Schießl: In der Tat, dieses Abstumpfen erfolgt aber nicht aus Bösartigkeit, sondern infolge eines Mechanismus, in dem ich glaube, dass ich alles Erlebte mit mir selbst ausmachen muss. Die Gefahr, tatsächlich nicht mehr empathisch zu sein und auch so vom Patienten empfunden zu werden, ist groß. Viele Mediziner leiden auch an ihrem eigenen Abstumpfen, aber sie haben es, wie gesagt, nicht anders gelernt.

Die Suizidrate bei Ärzten ist höher als in der Allgemeinbevölkerung

Aber Ärzte und Pflegekräfte sind doch auch nur Menschen ...

Schießl: Dass man auch nur ein Mensch ist, muss man sich aber immer wieder bewusst verinnerlichen. Und viele leiden unter den täglichen Belastungen, darüber wird aber in der Regel nicht gesprochen. Dabei weiß man längst, dass Klinikärztinnen und -ärzte häufig unter Burnout leiden oder davon bedroht sind. Nun ist Burnout keine Diagnose, aber dahinter stecken oft Angst- und Depressionserkrankungen. Auch die Suizidrate ist bei Ärztinnen und Ärzten höher als in der Allgemeinbevölkerung – bei Anästhesistinnen sogar sechsmal höher. Darüber hinaus wurde in unterschiedlichen Stichproben ein erhöhter Substanzmittelmissbrauch bei zehn bis 15 Prozent der Befragten nachgewiesen. Und der überdurchschnittlich hohe Krankenstand in der Pflege sollte doch auch zu denken geben.

Es wird aber nichts getan?

Schießl: Bis jetzt wenig. Allerdings hat die Landesärztekammer ja die Lücke erkannt und uns als Verein beauftragt, bayernweit ein System einzuführen, damit Ärztinnen und Ärzte sowie die Beschäftigten im Gesundheitsbereich die Unterstützung künftig erhalten, die sie auch benötigen. Und zwar Hilfe auf Augenhöhe, wir sprechen von einem Peer-Programm, das heißt, es sind immer Kollegen, die Kollegen unterstützen. Wir von PSU akut bilden die Kollegen aus. Und die Gespräche finden in einem geschützten Raum statt, denn diese Belastungen zu besprechen und zu verarbeiten, gelingt nicht in der Öffentlichkeit.

Heißt das eigentlich, dass viele Ihrer Kollegen die Erlebnisse auch nicht in der Familie erzählen?

Schießl: In die Familie, in den Freundeskreis gehört auch nicht der Tod eines Kindes im Schockraum, die Komplikation bei einer OP, die nicht gelungene Reanimation, um nur ein paar Beispiele großer Belastungen zu nennen – diese Erlebnisse müssen mit geschulten Kollegen besprochen und aufgearbeitet werden. Und der Ober- oder Chefarzt tauscht sich beispielsweise am ehesten, wenn überhaupt, mit einem anderen Ober- oder Chefarzt bei diesen Erfahrungen aus.

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Foto: Marijan Murat, dpa (Symbolbild)
Foto: Marijan Murat, dpa (Symbolbild)

Klinikärtinnen und -ärzte sind stärker von Bournout betroffen.

Im März vergangenen Jahres, als es mit Corona richtig losging, haben Sie eine kostenlose Helpline für Ärzte und Pflegekräfte eingeführt. Das führte sicher zu einem Ansturm oder?

Schießl: Sie wird gut genutzt, aber einen Ansturm erlebten wir nicht. Der Bedarf steigt zwar, aber, wie gesagt, Ärzte und Pflegekräfte sind es nicht gewohnt über ihre eigenen Gefühle zu sprechen. Viele sind auch gerade durch die Pandemie in so einem Aktionismus gefangen, da denkt man nicht daran, sich Hilfe zu suchen, man versucht, irgendwie durchzuhalten. Aber wir wissen: Vielen Ärzten und Pflegern geht die Kraft aus.

Auch im Augsburger Uniklinikum gibt es bereits Hilfe

Das heißt, Sie wollen die Hilfe vor Ort standardisieren?

Schießl: Genau, es muss in jeder Klinik und Praxis eine Selbstverständlichkeit sein, dass nach bestimmten traumatischen Erlebnissen diese mit ausgebildeten Kollegen besprochen werden. Und zwar in der Arbeitszeit. Und ganz wichtig: Es geht dabei nicht um Fehlersuche. Es muss sich aber unter Ärzten und Pflegekräften herumsprechen, dass das Reden über traumatische Erlebnisse kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke ist: Ich tue etwas, bevor ich selbst zerbreche. Ich tue etwas, damit ich gesund bleibe. Im Augsburger Uniklinikum haben wir im Übrigen auch schon begonnen und Peers eingesetzt.

Ist es nicht auch für Patienten gefährlich, wenn ein Arzt, eine Pflegekraft etwas Traumatisches erlebt hat, keine Möglichkeit hat, dies aufzuarbeiten, und glaubt, weitermachen zu müssen?

Schießl: Sicher ist das gefährlich. Denn es ist nun einmal so, dass sie nach Situationen im Hochstress eigentlich eine Unterbrechung bräuchten, weil ihre Kräfte, ihre Konzentration, schwinden. Wer glaubt, immer weitermachen zu müssen, auch wenn es ihm selbst schlecht geht, gefährdet letztlich auch das Patientenwohl.

Aber ist für so ein Gespräch beispielsweise in einer Notaufnahme oder auf Intensivstationen überhaupt Zeit, gerade auch mit Blick auf den Personalmangel?

Schießl: Es muss ja nicht immer gleich im Anschluss an die Extremsituation alles besprochen werden, aber zeitnah. Wichtig ist es uns, dass die Kollegen nicht um Hilfe bitten und betteln müssen, wenn beispielsweise ein Team mit einem tödlichen Unfall konfrontiert war, dann soll stets ganz selbstverständlich für alle Beteiligten die Möglichkeit bestehen, über das Erlebte zu sprechen.

Wenn so viele Ihrer Kollegen es gar nicht gewohnt sind, über ihre eigenen Gefühle zu sprechen, wie können Sie sie dann überzeugen?

Schießl: Indem wir erklären, dass es uns nicht darum geht, unsere Kollegen zu pathologisieren. Ganz im Gegenteil. Uns geht es darum, eine Unterstützung anzubieten, damit die Kolleginnen und Kollegen gesund bleiben und weiter gut ihre wertvolle Arbeit machen können. Es ist einfach bitter zu sehen, wie viele engagierte Leute aufgeben, im schlimmsten Fall krank werden oder sich gar das Leben nehmen.

Zur Person: Andreas Schießl, 53, ist Oberarzt im Fachzentrum für Anästhesie & Intensivmedizin in der Schön Klinik München Harlaching.

Informationen: Auf der Homepage www.psu-akut.de erhält man weitere Informationen zu der Arbeit des Vereins, dessen Abkürzung „PSU akut“ für psychosoziale Kompetenz und Unterstützung in der Akutmedizin steht. Kollegiale Unterstützung finden Menschen im Gesundheitswesen auch unter der kostenlosen telefonischen Helpline 0800-0-911 912 täglich von 9 bis 21 Uhr.

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