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Interview mit Psychiater: Schimpfen und Pöbeln: Macht uns Corona immer aggressiver?

Interview mit Psychiater

Schimpfen und Pöbeln: Macht uns Corona immer aggressiver?

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    Beschimpfungen und Beleidigungen in aller Öffentlichkeit nehmen in Corona-Zeiten zu.
    Beschimpfungen und Beleidigungen in aller Öffentlichkeit nehmen in Corona-Zeiten zu. Foto: Matthias Becker (Symbolbild)

    Beim Bäcker wird lautstark gepöbelt, nur weil die Verkäuferin einen freundlich auf die Maskenpflicht hinweist. In der Bahn rasten Fahrgäste aus, weil sie Maske tragen müssen. Herr Professor Jäger, Sie sind der Ärztliche Direktor des Bezirkskrankenhauses Kempten, werden wir immer aggressiver?

    Professor Markus Jäger: Die Unzufriedenheit nimmt massiv zu. Das beobachte ich im Übrigen auch hier in unserer Klinik: Ich habe noch nie so viele Beschwerden auf dem Tisch gehabt wie in diesem Jahr.

    Führt also die Unzufriedenheit über die Corona-Maßnahmen verstärkt zu Aggressionen?

    Jäger: Ja, das kann man schon so sagen. Die Menschen erleben jetzt sehr viele Einschränkungen in den verschiedensten Lebensbereichen, ganz massive Veränderungen in ihrem Alltag, auch eine Einschränkung der Grundrechte und das führt zu einer großen Unzufriedenheit, zu einem großen Frust, aber auch zu vielen Ängsten. Und sowohl Frust als auch Ängste können Aggressionen auslösen.

    Professor Markus Jäger ist der Ärztliche Direktor des Bezirkskrankenhauses Kempten.
    Professor Markus Jäger ist der Ärztliche Direktor des Bezirkskrankenhauses Kempten. Foto: Saskia Pavek, Bezirkskliniken Schwaben

    Und Ängste haben sicher viele.

    Jäger: Bei den Ängsten wissen wir sogar aus hirnbiologischen Untersuchungen, dass sie zu Aggressionen führen können. Wir beobachten bei der Entstehung von Aggressionen vor allem das so genannte limbische System im Gehirn, das bei der Regulation der Emotionen eine wichtige Rolle spielt und damit auch bei Aggressionen. So haben wir beispielsweise auch bei an Schizophrenie erkrankten Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung Aggressionen zeigten, erkennen können, dass bei ihnen letztendlich Angst Auslöser der Aggressionen war.

    Aber gerade auch bei den Demonstrationen der Corona-Kritiker kann man immer wieder sogar körperliche Aggressionen beobachten, wie könnte man da denn gegensteuern?

    Jäger: Man darf natürlich nicht vergessen, dass Corona nicht nur das persönliche Leben massiv einschränkt, viele Menschen verlieren aufgrund der Maßnahmen auch ihre Arbeitsstelle oder sind selbstständig und stehen plötzlich ohne Existenzgrundlage da. Diese wirklichen Existenzängste muss man ernst nehmen und nicht alles kann finanziell ausgeglichen werden. Das Problematische in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist doch die extreme Spaltung: Wir haben auf der einen Seite die Menschen, die alles still und brav mitmachen und auf der anderen diejenigen, die alles lautstark und aggressiv ablehnen. Die Mitte, die leidenschaftlich, auch emotional diskutiert und streitet, die ist uns leider abhandengekommen. Wenn es aber um ein emotionales Thema geht – und die Corona-Maßnahmen sind ein emotionales Thema – kann nicht nur im ruhigen, sachlichen Ton gesprochen werden.

    Welche Maßnahmen sehen Sie als Psychiater denn als besonders einschränkend und vielleicht sogar als gefährlich an?

    Jäger: Die Einschränkung der sozialen Kontakte ist für viele Menschen sehr schwer. Gleichwohl ist diese Einschränkung aus epidemiologischen Schutzgründen ganz wichtig und muss eingehalten werden.

    Telefon, soziale Medien können dies nicht ersetzen oder?

    Jäger: Nein, alle sozialen Kontakte nicht. Zumal ich den sozialen Medien eher skeptisch gegenüber stehe, weil dort ja eben ganz schnell Menschen verletzt, sehr aggressiv anonym angegangen werden und die Polarisierung unserer Gesellschaft noch verstärkt wird.

    Was schlagen Sie also vor?

    Jäger: Die sozialen Kontakte müssen wie vorgeschrieben, drastisch eingeschränkt werden, sie sollten aber nicht völlig zum Erliegen kommen. Denn gerade wenn man Aggressionen abbauen möchte, ist es ganz entscheidend, sich austauschen zu können. Derjenige, der über seine Sorgen, seine Ängste, seine Unzufriedenheit, seine Wut mit niemanden sprechen kann oder dies auch nicht will, läuft eher Gefahr Aggressionen aufzubauen.

    Streiten ist wichtig. Ein leidenschaftlich geführter Streit entlastet auch mal.
    Streiten ist wichtig. Ein leidenschaftlich geführter Streit entlastet auch mal. Foto: Klaus-Dietmar Gabbert

    Was raten Sie denn Menschen, die selbst spüren, dass sie zunehmend aggressiver, gereizter reagieren?

    Jäger: In erster Linie sollten sie sich sportlich betätigen und die Aggressionen versuchen, zu kanalisieren. Ich bin ein großer Freund von sportlicher Betätigung, weil man sich da sehr gut auspowern kann, das ist wichtig. Auch der berühmte Boxsack im Keller ist keine schlechte Einrichtung.

    Aber – zum Glück – reagieren nicht alle Menschen auf Frust, auf Ängste mit Aggressionen. Wer ist anfälliger für Aggressionen?

    Jäger: Ausschlaggebend ist, wie ich mit negativen Ereignissen umgehe und wie meine Gehirnausstattung ist. Beim einen richten sich die Aggressionen mehr nach außen, da er ein impulsiverer Typ ist, beim anderen ist das nicht der Fall. Viel hängt tatsächlich von der Persönlichkeitsstruktur ab. Hier spielt die genetische Veranlagung eine große Rolle. Aber auch, wie ich als Heranwachsender gelernt habe, mit negativen Gefühlen umzugehen, ist entscheidend. Lassen Sie mich aber hier noch anfügen: wenn jemand nie aggressiv ist, ist das auch nicht gut.

    Was passiert dann?

    Jäger: Nun ich bin zwar kein Freudianer, aber Sigmund Freud deutete beispielsweise die Depression als Aggression gegen sich selbst. Und auch wenn man kein Anhänger von Freud ist, kann man festhalten, dass manche Depression dadurch entstehen kann, dass sich die Aggression nach innen wendet. Daher möchte ich schon betonen: Aggressionen gehören zu unserem Verhaltensrepertoire dazu. Nicht ohne Grund sprach schon der bekannte Verhaltensforscher Konrad Lorenz bei der Aggression von einem angeborenen menschlichen Trieb, der überlebensnotwendig ist. Wenn jemand immer nur ruhig und pseudosachlich ist, seine negativen Emotionen nie raus lässt, stauen sie sich auf und entladen sich irgendwann auf einem anderen Weg.

    Es heißt ja auch immer wieder, dass ein Streit nichts Schlechtes ist oder?

    Jäger: Streiten ist sehr wichtig. Und ein lautstarker, leidenschaftlicher Streit gehört zum Leben. Er entlastet auch mal. Gerade auch in Familien. Gerade jetzt, wo wir mit so vielen Einschränkungen zurechtkommen müssen. Allerdings ist die klare Grenze bei körperlicher Gewalt zu ziehen, soweit darf es natürlich nie kommen.

    Kann man auch sagen, ab wann Aggressionen krankhafter Natur sind?

    Jäger: Nun, wir haben ja ein Strafgesetzbuch und gerade körperliche Aggressionen führen zu teils sehr hohen Strafen. Doch die wenigsten Menschen, die sich aufgrund ihres aggressiven Verhaltens strafbar machen, sind psychisch krank. Nicht wenige Menschen glauben zwar, dass jedes Verhalten, das nicht in Ordnung ist, krank ist, doch das stimmt so nicht. Hier einfach weniger zu bestrafen und noch mehr zu therapieren, wäre ein Trugschluss. Gleichwohl gibt es psychische Erkrankungen, die manchmal zu Aggressionen führen können, wie etwa schizophrene Psychosen.

    Was kann jemand denn tun, wenn er erlebt, dass jemand beispielsweise im Supermarkt aggressiv wird?

    Jäger: Ruhig bleiben, nicht dagegenreden, deeskalierend wirken, die Situation nicht weiter anheizen, da sich ansonsten die Aggressionen nur noch höher steigern.

    Haben Sie Sorge, dass gerade an Weihnachten die Aggressionen zunehmen werden?

    Jäger: Speziell an Weihnachten nicht. Das Fest an sich wird diesbezüglich eher überschätzt.

    Aber viele Experten fürchten eine Zunahme gerade an häuslicher Gewalt?

    Jäger: Das muss man tatsächlich abwarten, hier wäre es noch viel zu früh etwas zu sagen. Entscheidend wird sein, was für dauerhafte Folgen diese Corona-Beschränkungen haben, wie viele Ehen dieses dauerhafte Aufeinandersitzen gut überstehen. Da fürchte ich in der Tat, dass die große Rechnung erst noch kommen wird.

    Was raten Sie, abgesehen vom Sport?

    Jäger: Es muss schon jeder versuchen, noch sein eigenes Leben zu führen. Wovon ich nichts halte, ist ein wochenlanges völliges Isolieren. Natürlich müssen wir alle unsere Kontakte einschränken, aber mit dem einen Freund, mit der einen Freundin darf und wie ich finde soll man sich auch treffen. Auch die Oma, den Opa sollte man nach Möglichkeit besuchen oder treffen, immer natürlich unter Berücksichtigung der Abstands- und Schutzmaßnahmen. Man kann ja spazieren gehen. Ganz abreißen dürfen die Kontakte jedenfalls nicht.

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