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Interview: Wissenschaftler Lesch: "2020 war für Vernunft und Verstand katastrophal"

Interview

Wissenschaftler Lesch: "2020 war für Vernunft und Verstand katastrophal"

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    Harald Lesch ist vielfach ausgezeichneter Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalist.
    Harald Lesch ist vielfach ausgezeichneter Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalist. Foto: Jacqueline Krause-Burberg, ZDF

    Herr Pfarrer Schwartz, Herr Lesch, entschuldigen Sie die Ausdrucksweise, aber ich will nicht drum herum reden: War 2020 nicht ein beschissenes Jahr?

    Thomas Schwartz: Ja und nein. Ich bin der Meinung: Wir hatten der Corona-Krise zum Trotz auch ein gutes Jahr. Weil wir ganz viele Dinge bewusster erlebt haben.

    Harald Lesch: Nun komm schon, Thomas! Sei doch mal ehrlich! 2020 war ein echt beschissenes Jahr. Wir sind in die Corona-Pandemie ziemlich unvorbereitet hineingeschlittert. Und jetzt, am Ende des Jahres, bin ich tief enttäuscht.

    Warum?

    Lesch: Wir haben nun zwar einen Impfstoff, aber dennoch wollen sich in einigen Ländern nur kleine Teile der Bevölkerung impfen lassen.

    Das regt Sie sichtbar auf.

    Lesch: Dieses Jahr war für Vernunft und Verstand eine Katastrophe. Ich habe noch nie erlebt, dass eine so stark auf Wissenschaft und Technologie ausgerichtete Gesellschaft wie die westliche angesichts massiv gestiegener Infizierten- und Totenzahlen im Dezember dermaßen versagen konnte. Wenn wir es nicht schaffen, wirklich große Teile der Bevölkerung zu impfen, wird sich die Pandemie noch lange hinziehen. Wir werden erhebliche Schäden zu beklagen haben, bei Schülern wie Alten. Um ältere Menschen zu schützen, werden regelrecht Einsamkeitswellen über sie schwappen – nur, weil andere Leute sich nicht impfen lassen wollen.

    Harald Lesch und Thomas Schwartz (rechts) bei einer Veranstaltung unserer Redaktion im Dezember 2019.
    Harald Lesch und Thomas Schwartz (rechts) bei einer Veranstaltung unserer Redaktion im Dezember 2019. Foto: Ulrich Wagner (Archivbild)

    Schwartz: Mir ist deine Sicht auf 2020 zu pauschal. Ich bin zum Beispiel dafür dankbar, wie viel Wissenschaft und Gesellschaft in diesem Jahr erreicht haben. Dass in Rekordzeit ein Impfstoff entwickelt wurde, ist doch fantastisch! Für mich war nicht das Jahr schlecht, sondern einige Menschen haben ihre schlechten Seiten gezeigt.

    Lesch: Du kannst nicht einfach zwischen Menschen und Jahr trennen. Das gehört zwingend zusammen, wenn man eine Jahresbilanz zieht. Es gibt immer noch Leute, die behaupten, das Coronavirus gibt es gar nicht, es sei eine Erfindung. Es ist besorgniserregend, wie eine laute Minderheit eine ganze Gesellschaft vergiften kann mit ihren Verschwörungserzählungen und Fake News.

    Pfarrer Schwartz: "Es gibt ein Recht auf Dummheit!"

    Was ärgerte Sie, Herr Schwartz?

    Schwartz: Am meisten ärgerte mich nicht die Dummheit einiger Menschen. Wir müssen sie sogar verteidigen, denn jeder hat hierzulande zum Glück das Recht, seine Meinung zu äußern. Es gibt ein Recht auf Dummheit! Aber wenn diese Dummheit dazu führt, dass Corona-Leugner andere anstecken, weil sie weder Maske tragen noch Abstand halten – dann macht mich das fassungslos und wütend.

    Was war Ihr Tiefpunkt des Jahres?

    Schwartz: Es war jedes Mal ein Tiefpunkt, Menschen zu treffen, die gegen jedes vernünftige Argument immun zu sein scheinen.

    Gab es noch einen Tiefpunkt für Sie?

    Schwartz: Gegen Ende des Jahres habe ich mich kurzzeitig ziemlich über Ministerpräsident Markus Söder geärgert. Er hat während der vergangenen Pandemie-Monate eigentlich seine Entscheidungen immer gut erklärt und kommuniziert. Ausgerechnet kurz vor Weihnachten aber hat er den Kirchen die Christmetten zu den traditionellen spätabendlichen Uhrzeiten verboten, die Ausgangssperre ab 21 Uhr gelte auch für sie. Viele ehren- und hauptamtliche Kirchenmitglieder haben drei Monate lang die Weihnachtsgottesdienste vorbereitet, Hygiene- und Schutzmaßnahmen erarbeitet – und das wurde alles über den Haufen geworfen, ohne wenigstens mit den Kirchen darüber ordentlich zu sprechen. Dabei haben wir uns noch nie vernünftigen Argumenten gegenüber verschlossen.

    War es denn nicht vernünftig, Menschenansammlungen – etwa nach den Christmetten – zu vermeiden?

    Lesch: Die Kirchen planten ja viele kurze Gottesdienste hintereinander, um alles zu entzerren. Diese Entzerrung hätte es gegeben. So dürfte es wieder enger geworden sein.

    Sie halten die Entscheidung der Staatsregierung für falsch?

    Lesch: Eine intensivere Kommunikation zwischen den Kirchen und den staatlichen Organen wäre auf jeden Fall besser gewesen.

    Hatten Sie als Wissenschaftler in diesem Jahr das Gefühl, dass Sie mit Ihren Erkenntnissen gehört werden – von der Politik wie von der Bevölkerung?

    Lesch: Es sind viele Wissenschaftler in die Öffentlichkeit gekommen, die Gehör gefunden haben – denn es ging schließlich um unsere Gesundheit. Es gibt aber einen erheblichen Teil der Bevölkerung, der etwa bereits lange vor der Pandemie die Schulmedizin ablehnte und sich aus pseudoreligiösen Gründen gegen die Masernimpfung sperrt. Da ist es natürlich schwierig, durchzudringen.

    Harald Lesch: "Heute gibt es 60 Millionen Virologen"

    Es war ein schwieriges Jahr für Sie?

    Lesch: Vor Corona war Wissenschaftskommunikation das Reden über Wissenschaft. Jetzt hat das Reden über Wissenschaft auch eine handlungsrelevante Dimension. Es geht letztlich darum, öffentlich mitzuteilen, wie Leben geschützt werden können.

    Der Meringer Pfarrer Thomas Schwartz ist ein bekannter Buchautor. Auch mit seinem Freund Harald Lesch veröffentlicht er Bücher oder Podcasts.
    Der Meringer Pfarrer Thomas Schwartz ist ein bekannter Buchautor. Auch mit seinem Freund Harald Lesch veröffentlicht er Bücher oder Podcasts. Foto: Bernhard Weizenegger

    Schwartz: Dabei wird Wissenschaftlern auch zu viel zugetraut. In dem Sinne, dass sie immer die richtigen Antworten haben sollen. Wissenschaft funktioniert jedoch anders, sie arbeitet sich an die Wahrheit heran. Sie darf auch Fehler machen. Das ist hoffentlich ebenfalls eine Erkenntnis dieses Jahres.

    Lesch: Ich ahne jetzt, wie sich Joachim Löw fühlen muss ...

    ... der verantwortlich für die historische 0:6-Niederlage der Fußball-Nationalmannschaft gegen das spanische Team im November war.

    Lesch: Es gibt bekanntlich 60 Millionen Bundestrainer. Heute gibt es 60 Millionen Virologen. Es herrscht eine unverschämte Respektlosigkeit Wissenschaftlern gegenüber – von Leuten, die meinen, sie könnten sich mit ein paar Klicks im Internet das gleiche Wissen aneignen wie andere nach Jahrzehnten aktiver Forschung. Für mich waren Tiefpunkte des Jahres, von solchen Leuten – von Corona-Leugnern und Verschwörungsideologen – Mails mit übelsten Beschimpfungen und Drohungen bekommen zu haben. Was bin ich angefeindet worden, als ich das Wort „Triage“ in meinen Videos und Sendungen in den Mund genommen habe!

    Pfarrer Schwartz: "Sich impfen zu lassen, ist gelebte Solidarität"

    2021 kann es nur besser werden?

    Schwartz: Ja, und ein Schlüssel dafür liegt in der Rückkehr zur Dorfstruktur. Dort, wo man sich kennt, gibt es eine heilsame soziale Kontrolle. Wer im Dorf mit Verschwörungserzählungen hausieren geht, wird zurechtgewiesen. Der spürt die Konsequenzen seines Handelns unmittelbar – im Unterschied zu den Hetzern im Netz.

    Lesch: Ich bin mir sicher: Jeder, der einen Infektions- oder gar Todesfall in seinem Umfeld kennt, wird nicht mehr behaupten, Corona sei nur eine leichte Grippe.

    Schwartz: Ich hoffe nun darauf, dass 2021 wieder mehr Nähe möglich sein wird. Das wird aber nur gehen, wenn sich möglichst viele impfen lassen. Sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen, ist gelebte Solidarität.

    Lesch: Wenn wir in der besten aller Welten leben würden, wären nächstes Jahr keine Wahlen. Denn die werden enorm viel Energie von den politischen Entscheidern absaugen, die sie besser auf die Bewältigung der Pandemie verwenden sollten. Mir graut vor einem Bundestagswahlkampf in Corona-Zeiten.

    Zu den Personen:

    Professor Harald Lesch, 60, Astrophysiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist einer der bekanntesten Wissenschaftler Deutschlands. Er moderiert im ZDF unter anderem das Magazin „Leschs Kosmos“.

    Thomas Schwartz, katholischer Pfarrer in Mering bei Augsburg, lehrt als Honorarprofessor Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität Augsburg.

    Das neue Buch der beiden heißt „Unberechenbar. Das Leben ist mehr als eine Gleichung“ (Verlag Herder, 176 Seiten, 18 Euro).

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