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Interview: Weihbischof Anton Losinger: „Man kann Menschen nicht auf Dauer isolieren“

Interview

Weihbischof Anton Losinger: „Man kann Menschen nicht auf Dauer isolieren“

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    Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, 62, gehörte von 2005 bis 2016 dem Deutschen Ethikrat an. Im Interview spricht er darüber, warum man an den Tag nach Corona denken sollte.
    Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, 62, gehörte von 2005 bis 2016 dem Deutschen Ethikrat an. Im Interview spricht er darüber, warum man an den Tag nach Corona denken sollte. Foto: Fred Schöllhorn (Archiv)

    Herr Weihbischof, der Mensch ist ein geselliges Wesen. Darf man ihm wegen der Coronakrise für längere Zeit ein Kontaktverbot auferlegen?

    Anton Losinger: Man kann Menschen nicht auf Dauer in Isolation halten und im privaten Raum einsperren. Deshalb muss man sich jetzt bereits Gedanken machen über den „Tag danach“ und wie eine frühestmögliche Öffnung des gesellschaftlichen Lebens gestaltet werden kann. Der Shutdown muss so schnell wie irgend möglich aufgehoben werden. Der Staat muss wieder einen Zustand herstellen, der die essenziellen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Grundfunktionen unseres Lebens ermöglicht. Aber der Shutdown darf nicht fahrlässig beendet werden, sodass am Ende durch ein Wiederaufflammen der Infektion größere Schäden als zuvor entstünden. Wir brauchen ein sachlich nüchternes und überlegtes Urteil, eine klare medizinisch und politisch verantwortliche Analyse der Schritte, die wir klugerweise gehen können.

    Geld oder Leben: Ist es gerechtfertigt, dass der Shutdown des öffentlichen Lebens der deutschen Wirtschaft schweren Schaden zufügt?

    Losinger: In der Ökonomie wie im Leben hängt immer alles mit allem zusammen. Wo wir ein leistungsfähiges medizinisches System aufrechterhalten wollen, benötigen wir eine leistungsfähige Ökonomie, die es finanziert und die Ressourcen bereitstellt. Gleiches gilt für die Sicherung gegen die sozialen Grundrisiken des Lebens: Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter. Ich rate sehr, die ökonomischen Gesichtspunkte gegenüber den medizinischen nicht zu unterschätzen. Ohne leistungsfähige Wirtschaft gibt es keinen leistungsfähigen Sozialstaat.

    Macht sich der Staat sogar schuldig an der Vernichtung vieler Existenzen?

    Losinger: Die direkte Ursache des gegenwärtigen Niedergangs liegt in der Folge der Corona-Infektion. Wir sehen, dass Unternehmen in die Knie gehen, dass auf einmal Arbeitsplätze weg sind, dass der wirtschaftliche Ertrag ganzer Industriebereiche wegbricht. Alle Lebensbereiche, selbst Schulen, Universitäten und Kindergärten, Restaurants und Konzertsäle, Supermärkte und Mobilität sind tangiert. Bis dahin, dass Geschäfte ihre Mieten stunden und dadurch auch die Vermieter und damit den gesamten Wohnungsmarkt in Schieflage bringen. Der Staat kann nur durch seine ordnungspolitischen Möglichkeiten, etwa Zuschüsse und Kredite, Subventionen und Steuerstundungen den Unternehmen und Arbeitnehmern Überbrückungschancen eröffnen. Das tut die Bundesrepublik derzeit mit der bisher unvorstellbaren Summe von über einer Billion Euro.

    Was passiert mit den Schwächsten im Markt, den kleinen Ladeninhabern, Handwerkern, Solo-Selbstständigen? Darf man sie untergehen lassen?

    Losinger: Um Gottes willen! Sie sind ein Rückgrat unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Sie müssen gestützt werden. Gerade auch zur Erhaltung des vielfältigen kulturellen und sozialen Lebens unserer Gesellschaft. Hier zeigt sich ein wichtiger Aspekt unserer Sozialen Marktwirtschaft. Ihre Grundidee ist der Ausgleich von Freiheit auf dem Markt und sozialer Verantwortung, sie legt ein zentrales Augenmerk auf sozialen Frieden und auf effektive Beteiligung aller Bürger an der Wirtschaft.

    Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, 62, gehörte von 2005 bis 2016 dem Deutschen Ethikrat an. Im Interview spricht er darüber, warum man an den Tag nach Corona denken sollte.
    Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, 62, gehörte von 2005 bis 2016 dem Deutschen Ethikrat an. Im Interview spricht er darüber, warum man an den Tag nach Corona denken sollte. Foto: Christoph Kölle

    Wie steht es nach der Corona-Krise mit der Verteilungsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft? Sollen die Reichen dann stärker besteuert werden?

    Losinger: Wir müssen in der Tat darauf achten, dass am „Tag danach“ nicht die Kapitaleigner und Investoren als die großen Gewinner davonziehen und demgegenüber der Faktor produktiver Arbeit, und damit die Einkommensgrundlage der breiten Mehrheit der Menschen unserer Gesellschaft, ins Hintertreffen gerät.

    Wie vermeiden wir, dass sich in der Bevölkerung Risse auftun – zwischen widerstandsfähigen Jungen und anfälligen Alten, zwischen gerade noch Davongekommenen und Ruinierten?

    Losinger: Wir werden uns darauf gefasst machen müssen, dass als Folge der Krise soziale Risse in der Gesellschaft entstehen. Sie müssen schnellstmöglich geheilt werden im Blick auf das hohe Gut des sozialen Friedens der Gesellschaft. Unter Umständen verschärfen sich auch soziale Verwerfungen, wenn für Menschen erkennbar wird, dass keine positive Wendung ihres Schicksals eintritt. In Regionen Süditaliens feiert aufgrund dieser Stimmung sozialer Aussichtslosigkeit die Mafia gerade fröhliche Urständ und profitiert von der Not vieler Menschen.

    Wie hart muss der Staat gegen die vorgehen, die aus der Corona-Krise skrupellos ihren Profit schlagen, indem sie etwa die Preise für Schutzmasken in die Höhe treiben?

    Losinger: Unter normalen Umständen bietet die Marktwirtschaft gute Regulierungsinstrumente gegen solche Auswüchse, indem natürlicher Wettbewerb mit preisgünstigeren Angeboten auf den Markt tritt. In eklatanten Ausnahmesituationen wie jetzt kann und muss der Staat – auch mit dem Mittel des Kartellrechts – einschreiten, um extreme Preisverwerfungen zu verhindern und soziale Balance zu sichern.

    Was sagt die christliche Ethik dazu, dass in den Notstandsländern Italien und Spanien Ärzte angesichts überfüllter Krankenhäuser vor der Frage stehen, welche Patienten sie überhaupt noch behandeln können?

    Losinger: In Mitteleuropa, der Region mit dem weltweit besten Gesundheitssystem, hätte sich vor Corona kein Mediziner einen Gedanken gemacht, dass wir jemals in eine Situation geraten würden, in der wir lebensrettende und lebenserhaltende Maßnahmen den Menschen vorenthalten müssen. Das Wort von der Triage, also der Priorisierung der Überlebenschancen in extremer Notlage, macht die Runde. Vor allem für die Ärzte ist eine dramatische und herzzerreißende Herausforderung entstanden. Wie und nach welchen Kriterien sollen sie entscheiden, wenn in einer Situation eklatanter Knappheit Intensivbetten und lebenserhaltende Instrumente für eine Zahl von Patienten nicht mehr zur Verfügung stehen? Und noch drastischer: Wer soll entscheiden, ob und wann einem Menschen, der zur Behandlung an einer Beatmungsmaschine angeschlossen ist, diese abgenommen werden soll, wenn ein anderer kommt, der sie dringender braucht? Der Deutsche Ethikrat sagt dazu aktuell: Niemals dürfen Menschen nach sekundären Merkmalen, nach Alter, Herkunft, Geschlecht bewertet werden, ob eine lebenserhaltende Maßnahme fortgeführt werden soll oder nicht. Nur zwei Kriterien kann es für diese medizinische „Ultima Ratio“-Entscheidung über leben dürfen oder sterben müssen geben: erstens die vergleichbare medizinische Dringlichkeit und zweitens die erkennbare Erfolgsaussicht beziehungsweise Erfolglosigkeit einer Behandlung.

    Lässt sich eine Entscheidung über Leben oder Sterben mit christlicher Ethik vereinbaren?

    Losinger: In jeder ethischen und rechtsstaatlichen Ordnung kommt jedem Menschen prinzipiell das gleiche Recht auf Leben zu. Jeder Mensch besitzt die gleiche Würde. Wo allerdings eine extreme Notlage entsteht, wie wir sie bisher nur von Kriegen und Katastrophen kennen, muss auch nach einer christlichen Ethik ein medizinisch und rechtsstaatlich legitimiertes Kriterium entwickelt werden müssen für die gerechte Zuteilung lebenserhaltender Maßnahmen unter absoluten Knappheitsbedingungen.

    Unsere Krankenhäuser wurden angewiesen, vorsorglich alle verschiebbaren Behandlungen zu vertagen. Ist das mit ihrem Auftrag, die Menschen zu heilen, vereinbar?

    Losinger: Unseren Kliniken bleibt in einer klaren „helfenden Logik“ gar nichts anderes übrig, als Patienten nach Schweregrad ihrer Erkrankung zu priorisieren. Das kennt man aus eigener Erfahrung in der Notaufnahme der Krankenhäuser. Um der Chancen aller Patienten willen ist es sinnvoll und richtig, dass die dringlichsten Fälle zuerst behandelt werden. Das ist ein ethisch und medizinisch durchaus richtiges Verfahren.

    Und wenn es sich um ähnlich schwere Erkrankungen handelt, etwa um eine Krebstherapie?

    Losinger: Entscheidungen zwischen vergleichbaren schweren Notlagen führen in ein echtes medizinisches Dilemma und fordern die Ärzte zutiefst heraus. Sie sind ja durch ihr Ethos und ihren hippokratischen Eid verpflichtet, jedem Menschen in Not zu helfen und niemandem zu schaden. Aber dort, wo in extremen Notlagen wie derzeit in der Corona-Krise ein Engpass bei lebensrettenden und -erhaltenden Maßnahmen, bei Intensivbetten und Beatmungsgeräten im Krankenhaus entsteht, sind ihnen die Hände gebunden.

    Laden Ärzte bei einer Triage notwendigerweise Schuld auf sich?

    Losinger: Medizinisches Handeln in einer solch extremen Notlage spielt im Ausnahmezustand. Hier kann es nicht um persönliche Schuld gehen – und auch nicht um einen Straftatbestand.

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