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Interview: "Nummer 439, vortreten!": Die Missbrauchs-Geschichte eines Domspatzen

Interview

"Nummer 439, vortreten!": Die Missbrauchs-Geschichte eines Domspatzen

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    Alexander J. Probst als Kind. Er gehörte zu den Regensburger Domspatzen - und wurde Opfer sexuellen Missbrauchs und körperlicher Gewalt.
    Alexander J. Probst als Kind. Er gehörte zu den Regensburger Domspatzen - und wurde Opfer sexuellen Missbrauchs und körperlicher Gewalt. Foto: Alexander J. Probst

    Herr Probst, wie oft haben Sie in den vergangenen Jahren eigentlich erzählt, dass Sie in Vorschule und Internat der Regensburger Domspatzen körperlich misshandelt und sexuell missbraucht worden sind?

    Alexander J. Probst: Bestimmt hunderte Male.

    Was empfanden Sie dabei?

    Probst: Als befreiend habe ich das immer schon empfunden. Mittlerweile sehe ich es vor allem als Aufklärung und als Hilfe dazu an, dass so etwas nicht mehr passiert.

    Alexander J. Probst hat ein Buch geschrieben

    Sie sind 2010 mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen. Nun haben Sie ein Buch geschrieben, mehr als 200 Seiten lang. Warum?

    Probst: Dafür gibt es zwei Gründe. Irgendwann muss jeder Betroffene einmal mit seiner Geschichte abschließen. Wer das nicht kann, an dem wird die Vergangenheit immer und immer und immer nagen.

    Das Buch ist ein Stück weit Therapie?

    Probst: Ganz klar, das ist es. Professionelle psychologische Hilfe hatte ich nie, aber meine Freunde und Kollegen hatten viel Verständnis für mich: Ich konnte mit ihnen darüber reden. Der zweite Grund für das Buch war: Vielleicht kann ich damit manchen noch dazu bringen, sich jemandem anderen zu öffnen. Manchen, der bislang schweigt, der Angst hat, der sich schmutzig fühlt.

    Sie waren acht Jahre alt, als Ihre Leidenszeit begann.

    Alexander Probst im Herbst 2016.
    Alexander Probst im Herbst 2016. Foto: Armin Weigel, dpa

    Probst: Schon in den ersten beiden Tagen in der Vorschule der Regensburger Domspatzen in Etterzhausen gab es beim morgendlichen Antritt die ersten Ohrfeigen: „439, vortreten!“

    Sie wurden mit einer Nummer angesprochen?

    Probst: In der Zusage, dass ich an der Schule aufgenommen werde, hieß es: In jedes Kleidungsstück, in jedes Handtuch, in jeden Waschlappen sind Nummern einzunähen. Ich erhielt die Nummer 439.

    Fühlten Sie sich wie im Gefängnis?

    Probst: Zumindest war ich anfangs lieber dort als zu Hause. Dort war ich unter gleichaltrigen Jungs. Mein Vater und seine neue Frau wollten mich loshaben. Sie wollten ein ruhiges Leben führen, ohne auf mich und meine Schwester aufpassen zu müssen. Das bekam ich zu spüren. Ich bin aber vom Regen in die Traufe geraten: In Etterzhausen wollte man das Kindsein an sich nicht haben.

    "Man muss irgendwann Frieden finden"

    Haben Sie inzwischen eine Erklärung gefunden, warum ausgerechnet in einer katholischen Einrichtung nicht Nächstenliebe, sondern Gewalt gelebt wurde?

    Probst: Nein. Und diese Antwort gibt es auch nicht für mich. Ich suche sie nicht mehr. 2010 bin ich aus der Kirche ausgetreten.

    Sind Sie auch selbst gewalttätig geworden, so wie andere Schüler?

    Probst: Ich habe die Uhr eines Mitschülers absichtlich fallen lassen, ein Dumme-Jungen-Streich, würde ich heute sagen. Andere wurden tatsächlich gewalttätig in diesem System der Gewalt. Ich habe gerauft, wie Jungen in dem Alter eben raufen, aber ich habe nicht brutal zugeschlagen.

    Im Herbst informierten Sie mit dem Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer die Öffentlichkeit über den Stand der Aufarbeitung. Demnach haben sich 422 mögliche Opfer gemeldet, zwischen 1953 und 1992 kam es in Vorschule und Internat des berühmten Knabenchors in hunderten Fällen zu körperlicher und sexueller Gewalt.

    Probst: Bischof Voderholzer setzt sich glaubhaft für uns Opfer ein, das ist mein Eindruck. Er hat das Bedürfnis, die Dinge zu befrieden. Das habe ich auch: Man muss irgendwann Frieden finden.

    Frieden finden – auch mit Voderholzers Vorgänger Gerhard Ludwig Müller? Sie wollten mit ihm sprechen.

    Probst: So ein Gespräch gab es noch nicht, und ich zweifle auch daran, dass es eines geben wird. Uns Opfern wäre wichtig, dass er uns glaubhaft macht, dass er sich mit dem ganzen Ausmaß des Missbrauchsskandals ehrlich befasst.

    Müller war von 2002 bis 2012 Regensburger Bischof, heute ist er als Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan oberster Glaubenshüter der katholischen Kirche. Was werfen Sie ihm vor?

    Probst: Nichtstun. Und: Er hat die Opfer als Beschmutzer seines Bistums dargestellt.

    Erst kürzlich sprach Müller von „gezielt verbreiteten postfaktischen Behauptungen“ – er habe die Aufklärung weder verzögert noch verhindert.

    Probst: Ich kann darüber nur noch lachen.

    Wann wird der Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber, der als unabhängiger Sonderermittler tätig ist, seinen Abschlussbericht vorlegen?

    Probst: Ich rechne damit in den nächsten Wochen. Er dürfte seinen Bericht fast fertig haben, ich bin sehr gespannt. Wahrscheinlich haben sich bei ihm weitere Opfer gemeldet.

    Was wusste Georg Ratzinger über den Missbrauch?

    Wird sich sein Bericht auch mit Georg Ratzinger befassen? Der Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI. war als Domkapellmeister von 1964 bis 1994 „Chef“ der Domspatzen.

    Probst: Er wird vorkommen, da bin ich mir sicher. Ratzinger wusste definitiv vom körperlichen und sexuellen Missbrauch. Ein Regensburger Historiker wird zudem in einer Studie Ratzingers Rolle genauer untersuchen.

    Sie haben Ratzinger zwischen 1968 und 1972 erlebt. Sie waren als Internatsschüler im Palestrina-Chor, den er leitete. Sie werfen ihm unter anderem vor, dass er mit einem Klavierstuhl, einem Metronom, mit Tellern und Kerzenständern nach Kindern, auch nach Ihnen, schmiss.

    Probst: Er hat mich auch verprügelt. Und einmal hat er mir die Haare ausgerissen, derart heftig, dass ich eine Fünf-Mark-Stück große kahle Stelle auf dem Kopf hatte. Ich hab die Haare aufgesammelt und in einen Geldbeutel gesteckt. Ich hab die Haare jahrelang aufgehoben.

    Sie unterstellen ihm im Buch, dass es ihm Spaß machte, Kinder zu schlagen.

    Probst: Er war cholerisch und hatte eine sadistische Ader.

    Georg Ratzinger räumte ein, Ohrfeigen verteilt zu haben. Von sexuellen Missbrauchsfällen habe er „überhaupt nichts gehört“, sagte er vor einem Jahr.

    Probst: Und er sagte, dass er sich nicht erinnern könne. Dazu fällt mir nichts mehr ein.

    Sie waren elf Jahre alt, als Sie sich Ihrem Vater anvertrauten. Nahm er Sie sofort aus dem Internat?

    Probst: Ja, und zuvor hatte er eine Auseinandersetzung mit Georg Ratzinger. Ich stand vor der Tür und hörte, dass es sehr laut wurde. Mein Vater war knapp davor, dass er zuschlug, glaube ich. Er hat darüber aber nie gesprochen.

    Im Buch beschreiben Sie auch, wie Sie Klavierspielen lernten.

    Probst: Man hat uns das Klavierspielen eingeprügelt. Ich habe es Anfang der 2000er Jahre nochmals probiert, ich konnte es nicht. Ich bin blockiert. Seit ich bei den Domspatzen rausgekommen bin, konnte ich kein Klavier mehr anfassen.

    Bis auf einen Präfekten sind alle bekannten mutmaßlichen Täter – was die Sexualdelikte betrifft – gestorben. Er arbeitete im Internat bis 1972 als studentische Hilfskraft und heißt in Ihrem Buch „Cornelius Hafner“.

    Das Logo der Regensburger Domspatzen.
    Das Logo der Regensburger Domspatzen. Foto: aw lf

    Probst: Ich werde künftig, etwa bei Fernsehauftritten, wieder seinen wahren Namen nennen. Im Buch heißt er aus juristischen Gründen „Hafner“. Er hat mich rund 200 Mal sexuell missbraucht, und nicht nur mich. Noch 2010 und 2011 zeigte er kein Einsehen oder Unrechtsbewusstsein, ganz im Gegenteil. Er hat sich niemals entschuldigt.

    Auch nicht 2011?

    Probst: Nein. Damals rief er mich an, es war ein kurzes Gespräch. Er hat mir vorgeschlagen, ein gemeinsames Buch über unsere schöne Zeit bei den Domspatzen zu schreiben. Er sagte wirklich: „schöne Zeit“!

    „Hafner“ wurde 1978 in Eichstätt zum Priester geweiht und war im Bistum

    Probst: Ach... Ich hoffe vor allem, dass er nie mehr mit Kindern arbeiten darf. Der Institution Kirche kann ich ja nicht vergeben, aber ich habe einzelnen Tätern von damals vergeben. Wem ich nie vergeben werden kann, das ist einem Kinderschänder. Auf der anderen Seite: Irgendwann muss Schluss sein.

    Alexander J. Probst mit Daniel Bachmann: Von der Kirche missbraucht. Riva, 207 Seiten, 19,95 Euro. Das Buch erscheint am 13. Februar.

    Lesen Sie dazu auch:

    Regensburger Bischof informiert heute über Missbrauch bei Domspatzen: In Regensburg wird der Missbrauch von mehr als 230 Kindern bei den Domspatzen aufgearbeitet. Bischof Rudolf Voderholzer informiert heute über die Ergebnisse.

    Ratzinger-Brüder feiern gemeinsam 65-jähriges Priesterjubiläum: Die beiden Brüder Georg Ratzinger l und der vor drei Jahren zurückgetretene Papst Benedikt XVI. mit bürgerlichem Namen Joseph Ratzinger sind seit 65 Jahren katholische Priester.


    Mindestens 231 Kinder bei Regensburger Domspatzen misshandelt Bei den Regensburger Domspatzen haben Priester und Lehrer über Jahrzehnte mindestens 231 Kinder geschlagen, gequält oder sexuell missbraucht. Das gab der Rechtsanwalt Ulrich Weber bekannt, der von der katholischen Kirche und dem weltberühmten Chor mit der Aufklärung des Skandals betraut wurde.

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