Herr Reiter, wir haben viele Fragen an Sie als Münchner Oberbürgermeister, aber zunächst brennt uns eine Frage an Sie als SPD-Politiker auf den Nägeln: Ihre Partei lag in den Umfragen lange Zeit weit hinten und ist jetzt zurückgekommen wie der Phoenix aus der Asche. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Dieter Reiter: Ja. Vor einem halben Jahr noch hätten wohl die wenigsten damit gerechnet, dass es so einen Aufschwung gibt. Ich war da, ehrlich gesagt, auch überrascht. Aber ich habe darüber schon vor längerer Zeit mit Olaf Scholz gesprochen und er war von Anfang an optimistisch. Er hat gesagt: Abwarten, wenn die Leute mal alle realisieren, dass Frau Merkel nicht mehr kandidiert, dann wird es darauf ankommen, welche Personen zur Wahl stehen. Da hat er recht behalten. Er macht von den drei Kandidaten die mit Abstand beste Figur.
Trotzdem: Dass sich die Zustimmung für die SPD in Bayern innerhalb kurzer Zeit verdoppelt, das ist doch schon ungewöhnlich.
Reiter: Da sieht man die Macht der öffentlichen Meinung. Die Spirale kann sich schnell nach unten, aber auch schnell wieder nach oben drehen. Niemand will eine Stimme verschenken. Ich kenne viele SPD-Wähler, die in der Vergangenheit andere Parteien oder gar nicht gewählt haben und jetzt wieder mit Überzeugung und Begeisterung dabei sind, weil sie spüren, dass wir eine echte Chance haben.
Ist das Hoffnung oder Realität?
Reiter: Ich spüre das tatsächlich auf der Straße. Der Unterschied zum Jahr 2017 ist gewaltig. Da war das kein Spaß an den Infoständen. Da waren die Menschen zwar nett zu mir, das sind die Münchner immer. Aber ich hab immer wieder Hartz IV gehört oder andere Dinge, die längst Vergangenheit waren. Das ist jetzt weg. Mich haben auch schon CSUler angesprochen und gesagt: Was machen wir denn jetzt? Sie überlegen ernsthaft, dieses Mal SPD zu wählen, weil sie den Kanzlerkandidaten der Union nicht für fähig genug halten.
Münchens Oberbürgermeister Reiter kritisiert den Wahlkampf
An Sie als Oberbürgermeister gefragt: Werden im Bundestagswahlkampf die Probleme der großen Städte ausreichend wahrgenommen?
Reiter: Eher nicht. Das ist aber nichts Neues. Das kritisiere ich schon seit Jahren. Ich glaube, dass bei der Bundesregierung noch nicht endgültig angekommen ist, dass die Probleme und Herausforderungen unserer Zeit in den Städten gelöst werden müssen. Ich hätte aus diesem Grund gerne einen Kommunalminister in der neuen Bundesregierung, weil wir über die Spitzenverbände – die sich abrackern und alles versuchen, aber leider kein echtes Mitspracherecht haben – nicht ausreichend repräsentiert sind. Es gibt so vieles, was man anders machen müsste.
Was denn zum Beispiel?
Reiter: Man müsste die Verantwortlichkeiten und Entscheidungsmöglichkeiten der Städte deutlich stärken. Ich kann in München nicht mal selbst regeln, wie hoch die Parkgebühren sind. Das darf ich nicht entscheiden, weil ich mich an einen Höchstrahmen halten muss, den andere festlegen. Ich kann nicht verstehen, warum solche Fragen auf Bundes- oder Landesebene geregelt werden müssen.
Was vermissen Sie noch im Wahlkampf?
Reiter: Die Hauptprobleme der Bürger wurden kaum angesprochen. Mobilität und bezahlbares Wohnen, das sind die Herausforderungen für Städte wie München und Augsburg. Aber worüber hat man stattdessen diskutiert? Natürlich ging es viel um Klimaschutz, aber inhaltliche Debatten wurden ansonsten zu wenig geführt. Es wurde doch hauptsächlich versucht, die Fehler der anderen herauszustellen. Da hat sich Olaf Scholz professionell verhalten. Er hat nicht die anderen Kandidaten angegriffen, sondern erklärt, was er selbst will und wo es hingehen muss.
Reiter fordert mehr Geld für die öffentlichen Verkehrsmittel
Was fordern Sie in Sachen Mobilität von der nächsten Bundesregierung?
Reiter: Erstens muss die Verantwortung dorthin delegiert werden, wo die Probleme gelöst werden sollen. Zweitens braucht es viel mehr Geld für die Kommunen, gerade für die größeren, die Tram-, U- und S-Bahnen haben. Da muss mehr ankommen, damit wir die Probleme lösen und für die Zukunft planen können.
Und beim Wohnen?
Reiter: Das erste und wichtigste Thema in München ist, dass damit aufgehört werden muss, bestehende Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Wir brauchen mehr Instrumente, um Mieterinnen und Mieter vor der Vertreibung zu schützen. Darüber hinaus geht es auch um die Miethöhe, also die sogenannte Kappungsgrenze. Wieso soll eine Miete alle drei Jahre steigen dürfen? Wieso kann der Gesetzgeber es nicht ändern, wenn er doch sieht, wie explosionsartig die Mieten steigen? Warum darf einer, der eine Wohnung modernisiert, die Kosten ein Leben lang auf die Miete umlegen, obwohl sich die Kosten längst amortisiert haben? Ich habe einen ganzen Forderungskatalog, den ich an die neue Bundesregierung geben werde – insbesondere an Olaf Scholz, wenn er Kanzler wird und die SPD die Regierung führt. Darauf können Sie sich verlassen.
München allein wird die Wohnungsnot und die Verkehrsproblematik im Süden Bayerns trotzdem nicht lösen können. Wie hat sich denn die Zusammenarbeit mit den Kommunen im Umkreis entwickelt?
Reiter: Wir sind zum Beispiel deutlich näher an Augsburg herangewachsen. Ein Grund dafür ist die schnelle Zugverbindung zwischen beiden Städten. Leider hat das in Augsburg auch zu unerfreulichen Preissteigerungen bei Bauland und Miete geführt. Auch der Kontakt zum Münchner Umland ist gut. Es ist ein interessanter Austausch mit den Kollegen, aber die konkreten Projekte, die wir angestoßen und realisiert haben, sind eher überschaubar. Unser Wunsch nach mehr Geschosswohnungsbau in den Nachbargemeinden kommt dort nicht gut an. Viele Bürgermeister sagen mir dazu hinter vorgehaltener Hand: „Sag mal, spinnst du? Wenn ich bei uns Geschosswohnungen baue, werde ich nicht mehr gewählt. Das wollen meine Leute nicht.“
Teurer Trend: Augsburg wurde zum Einzugsgebiet für München
Trotzdem sind ja nicht nur die Münchner und die Menschen im Umland betroffen. Der Einzugsbereich ist ja viel größer und geht bis hinter Augsburg, Landsberg und Mühldorf. Müsste man diesen Raum nicht irgendwann viel gemeinschaftlicher denken?
Reiter: Da bin ich völlig dabei. Ich habe nichts dagegen, wenn sich Unternehmen in der Region niederlassen, dann müssten aber auch dort die Wohnungen für die Mitarbeiter entstehen. In München ist es eng. Wir haben ein riesiges Verkehrsproblem. Ich betreibe keine Anwerbepolitik für Firmen in diese Stadt zu kommen. Aber aus meiner Erfahrung wollen Unternehmen einfach nach München, weil sie von hier besser Fachpersonal von unseren Unis und Mitarbeiter aus dem Ausland anlocken können. Es wäre schön, wenn sich das alles mehr auf Bayern verteilen würde. Dazu bräuchte es eine funktionierende Strukturpolitik. Doch da ist in den letzten 20 Jahren kaum etwas passiert. Das hat weder Herr Seehofer noch Herr Söder geschafft.
Apropos Söder: Der CSU-Chef schlägt vor, die Steuerlast für kleine und mittlere Unternehmen auf 20 Prozent zu begrenzen und die Gewerbesteuermindereinnahmen der Kommunen von staatlicher Seite zu ersetzen. Das gefällt Ihnen gar nicht, oder?
Reiter: Als Sozialdemokrat kann ich mich mit Blick auf die Wahl nur freuen über derart abwegige Vorschläge aus der CSU. Herr Söder sollte mal mit kleineren und mittleren Unternehmen in der Stadt reden, was deren Hauptkostenfaktor ist und ob da die Gewerbesteuer überhaupt ins Gewicht fällt. Ich glaube, dass das bei uns eher die Preise für Mieten, Ladengeschäfte und Personal sind. Die Sache mit der Gewerbesteuer ist meiner Ansicht nach ein altes CSU-Märchen, das ich schon aus den 90er Jahren kenne. Ein wirklich sehr populistischer Vorschlag. Da finde ich die Idee von Olaf Scholz viel besser, dass man endlich versucht, internationale Unternehmen wie Amazon und Google zur Kasse zu bitten. Das ist Steuerpolitik für die Allgemeinheit. Das verstehen die Menschen doch schon aus Gerechtigkeitsgründen nicht, warum Unternehmen, die Milliarden verdienen, kaum Steuern zahlen müssen.
Oktoberfest 2022: Reiter will für die Wiesn kämpfen
Sprechen wir noch über ein Thema, das nicht nur Münchner umtreibt: Wie stehen die Chancen für eine Wiesn im Jahr 2022?
Reiter: Ich möchte auf jeden Fall, dass es in meiner Amtszeit bei zwei Wiesn-Absagen bleibt. Deshalb machen wir uns jetzt schon Gedanken darüber, wie ein Oktoberfest nächstes Jahr ablaufen könnte. Ich habe mich dazu schon vor den Sommerferien mit unserem Wirtschaftsreferenten und einigen Wiesn-Experten getroffen. Ich wollte ein Gefühl dafür bekommen, was wir überhaupt machen können, ohne den Charakter der Wiesn zu beschädigen.
Wie könnte das also gehen?
Reiter: Es wird definitiv keine Wiesn für alle geben. Wenn sich jemand nicht testen oder impfen lassen will, dann wird er auch 2022 nicht aufs Oktoberfest gehen können. Das Risiko gehe ich nicht ein. Wir müssen uns deshalb jetzt überlegen, wie wir das kontrollieren, dass nur die reinkommen, die wir auch reinlassen wollen. Hierfür gibt es verschiedene denkbare Varianten, technische und personelle Kontrollen. Nur bei den Kindern müssen wir natürlich eine Ausnahme machen, sonst ist es kein echtes Volksfest!
Wann muss denn die endgültige Entscheidung fallen?
Reiter: Ich denke allerspätestens im April nächsten Jahres.
Versprechen, dass es sicher eine Wiesn geben wird, können sie also noch nicht?
Reiter: Ich kann versprechen, dass ich alles dafür tun werde, dass es eine gibt. Ich mache mir auch nicht allzu große Sorgen darüber. Wir haben zwar noch eine relativ geringe Impfquote, aber global hochgerechnet könnten wir sechs Millionen Besucher trotzdem generieren. Doch wir müssen sicherstellen, dass es eine sichere Wiesn ist. Es muss klar sein, dass eine Gefahr durch Corona möglichst ausgeschlossen ist. Viele Menschen haben noch Vorbehalte bei Veranstaltungen unter Vollbelegung. Es gibt immer noch Ressentiments in der Bevölkerung gegen Indoorveranstaltungen.
Wenn man aber drinnen im Zelt ist, soll es schon so sein wie früher, oder?
Reiter: Eine kastrierte Wiesn kann es nicht geben. In den Zelten wird es keine Beschränkungen geben können – etwa dass Abstände eingehalten werden müssen, Maske getragen werden muss oder nur jede fünfte Bank belegt werden darf. Das ist dann kein Oktoberfest. Bevor so etwas kommt, lassen wir es lieber sein. Es muss so funktionieren, dass das Flair und die Stimmung auf dem Oktoberfest so sind, wie sie vorher auch waren. Andernfalls machen wir unsere Wiesn kaputt.