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Interview: Kriminologe zum Messerangriff in Würzburg: Islamismus-Verdacht ist nicht haltbar

Interview

Kriminologe zum Messerangriff in Würzburg: Islamismus-Verdacht ist nicht haltbar

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    Christian Pfeiffer, langjähriger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, erwartet weitere Aufklärung zu den Hintergründen der Messerattacke in Würzburg.
    Christian Pfeiffer, langjähriger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, erwartet weitere Aufklärung zu den Hintergründen der Messerattacke in Würzburg. Foto: Ole Spata, dpa

    Er ist einer der bekanntesten deutschen Kriminologen und hat sich in der Vergangenheit intensiv mit Jugendgewalt, Kriminalität und Migration beschäftigt. Auch die Opferforschung gehört zu seinen Schwerpunkten. Wie ordnet Prof. Christian Pfeiffer (77), bis 2015 Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, die Bluttat von Würzburg ein?

    Was ist Ihnen als wirklich erfahrener Kriminologe durch den Kopf gegangen, als Sie von dem Anschlag in Würzburg gehört haben?

    Christian Pfeiffer: Ich war zunächst irritiert über die schnelle Einordnung als mögliche oder gar wahrscheinliche islamistische Terrortat. Was bei Ihnen darüber zu lesen war, sprach nicht dafür. Immerhin hat Innenminister Herrmann dann im Landtag deutlich gemacht, dass es keine klaren Belege für eine islamistisch motivierte Tat gibt. Nach jetzigem Stand der Dinge gehe ich davon aus, dass es sich beim Täter um eine durch Erfahrungen in Kindheit und Jugend psychisch massiv gestörte Person handelt. Dafür gibt es Hinweise ab dem ersten Tag seiner Ankunft in Deutschland.

    Die Staatsanwaltschaft spricht davon, dass ein islamistischer Hintergrund "naheliegend" sei. Wird der Verdacht von Ermittlern und Politik zu lange aufrechterhalten?

    Pfeiffer: Eindeutig ja. Wenn man den Lebensstil des Täters betrachtet – er betet nicht, hält den Ramadan nicht ein, trinkt Alkohol, nimmt Drogen: Das alles spricht definitiv gegen einen im Glauben verwurzelten Muslim. Dass eine Islamismus-Hypothese am Anfang geprüft werden musste, war völlig richtig. Aber nun wäre es klug, wenn sich auch die Staatsanwaltschaft offiziell davon verabschieden würde. Vielmehr ist an der Biografie des Täters anzusetzen.

    Könnte er eine islamistische Prägung schon während seiner Kindheit im Bürgerkriegsland Somalia erfahren haben?

    Pfeiffer: Islamistische Prägung hieße Hass auf alle anderen Religionen. Eine solche religiös motivierte Hass-Einstellung war von ihm doch nicht zu hören. Dieser Ausruf "Allahu Akbar", den er angeblich bei dem Messerangriff gemacht haben soll, ist kein Beweis für eine islamistische Terrortat. Dieser Kriegsruf mag ihm in seiner Kindheit und Jugend eingebläut worden sein. Aber das ist noch keine grundlegende islamistische Überzeugung.

    Schließt eine psychische Unzurechnungsfähigkeit eigentlich per se eine terroristische Tat aus?

    Pfeiffer: Nein, gar nicht. Eine psychische Erkrankung kann sich sehr wohl verbinden mit einer radikal islamistischen Grundeinstellung. Aber die ist hier schon wegen seines Lebensstils nicht erkennbar geworden. Von daher halte ich es für einen Irrweg, sich länger mit diesem Verdacht aufzuhalten. Man sollte schauen, was ihn geprägt hat. Er ist ja offenbar aufgefallen als jemand, der Wahnvorstellungen und Aggressionen hatte.

    Wissen wir zu wenig, was Geflüchtete an seelischen Schäden und Störungen mitbringen?

    Pfeiffer: Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Die große Mehrheit versucht von Anfang an die Sprache zu lernen, eine Arbeit auszuüben, sich zu integrieren – die Situation des Täters hier ist nicht typisch für Geflüchtete. Er ist ein Ausnahmefall an massiver Verstörung, die nach allem, was wir wissen, schon vor seiner Ankunft in Deutschland entstanden war. So ist nicht unwahrscheinlich, dass er schon als Kind hineingezogen wurde in diesen Strudel des ewigen Krieges und dadurch geprägt wurde.

    Aber bräuchten dann nicht Flüchtlinge mit solcher Herkunft mehr Betreuung und Führung?

    Pfeiffer: Eine Betreuung kann solche psychischen Störungen nur wirksam bekämpfen, wenn es eine richtige Traumatherapie ist. Diese aber setzt eine Kommunikationsfähigkeit voraus, über die der Täter auch heute offenbar nur sehr eingeschränkt verfügt. Ein Therapeut hat nur dann eine Chance, wenn er emotional an diesen Menschen herankommt. Wenn man zuhören und sich differenziert unterhalten kann.

    Und doch hat man den Eindruck, er sei in Deutschland durchs Raster gefallen und sich selbst überlassen worden. Haben die Behörden versagt?

    Pfeiffer: Nein, ein mögliches Behördenversagen kann ich nach wie vor nicht erkennen. Ich sehe keine systematischen Fehler in der Art, wie mit ihm umgegangen wurde. Der Mann hatte Betreuungsangebote – aber er war offenkundig nicht in der Lage, sie aufzugreifen. Die Klinik in Würzburg hat immer wieder kleine Erfolge erreichen können – durch Behandlung, durch Medikamente. Aber sie konnte seine Grundproblematik nicht stabil beseitigen, weil er nicht zugänglich war. Therapie setzt intensive Kommunikation voraus. Und die Sprachfähigkeit konnte er nicht erlangen, weil er zu gestört hier angekommen ist.

    Hätte man ihn nicht spätestens nach dem fünften Psychiatrie-Aufenthalt Mitte Juni zwangsweise behalten müssen?

    Pfeiffer: Das Recht setzt für eine zwangsweise Unterbringung hohe Grenzen. Voraussetzung wäre eine fortbestehende hohe Gefährlichkeit. Die aber war laut Klinik nach der jeweils eingetretenen Beruhigung des Patienten dann nicht mehr gegeben. Der Richter hätte deshalb keine Möglichkeit gehabt, einem entsprechenden Antrag stattzugeben. Die verständliche Suche nach der Schuld für den Tod der drei Frauen muss sein. Aber ich entdecke keine Grundlage für einen Schuldvorwurf gegenüber den Behörden. Und ob der Täter schuldfähig war, werden die Gutachter zu klären haben. Sie haben einen schweren Job.

    Die Staatsanwaltschaft hat nach dem Messervorfall vom Januar ermittelt, bekam aber nach eigener Darstellung keine Einsicht in die Krankenakte. Kostet der Datenschutz am Ende Menschenleben?

    Pfeiffer: Tatsächlich wirft das Fragen auf. Sollte das so gewesen sein, wird der Datenschutz übertrieben. Wenn eine Staatsanwaltschaft die Gefährlichkeit eines Menschen, der andere mit einem Messer bedroht hat, aufklären soll, dann muss sie Zugang zu den Krankenakten bekommen. Sonst basiert eine Entscheidung nicht auf allen zur Verfügung stehenden Erkenntnissen. Fehlt die Einwilligung des Betroffenen, könnte sie durch die Anordnung eines Richters ersetzt werden. Zu prüfen ist, ob die Rechtslage in Bayern dies zugelassen hätte. Falls nicht, scheint mir der Gesetzgeber gefordert, um für künftige Fälle einen besseren Zugang zu ermöglichen.

    Warum ist die Integration des Täters eigentlich so misslungen?

    Pfeiffer: Er war offenbar von Anfang an psychisch gestört, hatte Wutausbrüche, war nicht sehr interessiert an Angeboten, schlug Einladungen zum Deutschkurs aus. Integration kann aber nur gelingen, wenn der betroffene Mensch in der Lage ist, die Angebote auch wahrzunehmen und mit aller Kraft hier Fuß zu fassen. Diese grundsätzliche Fähigkeit fehlte bei ihm. Es wird zu klären sein, ob dies aus seiner traumatischen Verstörung aus Kindheit und Jugend herrührt. In einem solchen Fall können die Integrationsangebote noch so gut sein, sie erreichen den Menschen nicht.

    Wäre eine Abschiebung in sein Herkunftsland eine Option gewesen?

    Pfeiffer: Es gab ja keine Gewalttaten, sondern nur Bedrohungen mit dem Messer. Und die Aufklärung gestaltete sich ausgesprochen schwierig. Ich kann nachvollziehen, dass das Verfahren eingestellt wurde. Es gab keine nachgewiesene Gefährlichkeit, die seinen Aufenthaltsstatus verändert hätte. Und so bestand auch keine rechtliche Möglichkeit für eine Abschiebung. Rückblickend muss man generell sagen: Deutschland hat die Herausforderung von 1,5 Millionen geflüchteten Menschen sehr gut bewältigt. Ein klarer Beleg dafür ist, dass auch nach 2015 die Gewaltkriminalität in Deutschland weiter gesunken ist.

    Wie wichtig ist es, dem Täter in Würzburg den Prozess zu machen?

    Pfeiffer: Die Voraussetzung für den Prozess war das vorbildliche Verhalten der Polizei. Großes Lob! In den USA hätte man den Täter vermutlich beim Einsatz erschossen. Bei uns gibt es einen Beinschuss. Das ist für die Opfer deshalb so wichtig, damit in einem Gerichtsverfahren alles zur Klärung der Vorgeschichte getan wird. Das wird in einem Gerichtssaal in Würzburg stattfinden, das gehört sich so in einem Rechtsstaat. Wenn der Täter tot ist, fehlt diese vom Gericht durchgeführte, gründliche Ermittlung und Aufklärung dazu, wo unter Umständen Fehler passiert sind. Alles, was einen Rechtsstaat auszeichnet, wird jetzt geschehen. Die Opfer haben einen Anspruch darauf.

    Sie forschen seit langer Zeit über Kriminalität und Migration: Ist denn eine Thematisierung ohne Stigmatisierung von bestimmten Gruppen überhaupt möglich?

    Pfeiffer: Ihre Zeitung ist ein exzellentes Beispiel, dass das geht. Ich stelle mit großem Respekt fest, wie Sie mit differenzierter, gründlicher Berichterstattung die Leser über alles informieren, was später auch im Gerichtssaal zur Sprache kommen wird – ohne dass Sie auf Einfach-Lösungen setzen. Sie ziehen keine vorschnellen Schlüsse, sondern suchen nach Wahrheit und Aufklärung. Sie bemühen sich, das Unbegreifliche verständlich zu machen. Dadurch kommt es eben nicht zu einer simplen Stigmatisierung.

    Zur Person: Er gilt als Deutschlands bekanntester und streitbarster Kriminologe. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der heute 77-Jährige mit Verbrechen, Straftaten, Strafverfolgung, mit Tätern wie Opfern. Schon früh forschte Christian Pfeiffer zu Ausländer- und Jugendkriminalität, immer wieder hat er mit seinen Thesen und Studien öffentliche Debatten ausgelöst. Zuletzt kritisierte er Kardinal Marx für dessen Umgang mit dem sexuellen Missbrauch in der Kirche. Ein gemeinsames Projekt mit der katholischen Kirche zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle war 2012/13 gescheitert. Große Beachtung fand 2018 seine Studie zur Kriminalität unter Geflüchteten. Dabei zeigte er, dass Asylsuchende ohne Aussicht auf ein Bleiberecht eher straffällig werden. Jurist Pfeiffer promovierte 1984 zur "Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren" und hatte von 1987 bis 2000 die Professur für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht an der Universität Hannover inne. Von 1988 bis 2015 war er Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, von 2000 bis 2003 niedersächsischer Justizminister für die SPD.

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