Herr Kardinal, die vergangenen Wochen müssen für Sie bewegend gewesen sein. Erst die Debatte um die "Ehe für alle", dann der Tod Joachim Kardinal Meisners am 5. Juli in Bad Füssing...
Reinhard Kardinal Marx: Kardinal Meisner war eine starke Persönlichkeit, ein streitbarer Gottesmann mit klaren Überzeugungen, den ich sehr respektiert habe.
Morgen wird er in der Bischofsgruft des Kölner Doms bestattet. Was kommt Ihnen gerade in den Sinn, wenn Sie an ihn denken?
Marx: Wir waren nicht immer einer Meinung, das war offensichtlich. Als er 2014 im Kölner Dom in den Ruhestand verabschiedet wurde, habe ich zu ihm gesagt: "Du hast uns immer angeregt, aber auch aufgeregt. Aber eins kann ich sagen: Langweilig war’s mit dir nie." Er hat das mit Freude aufgenommen.
Meisner hätte das Ja von Bundestag und Bundesrat zur Ehe für alle aufs Schärfste kritisiert. Warum äußerten Sie sich eher verhalten?
Marx: Ich habe mich zum Thema angemessen, aber auch klar geäußert. Die jetzt gefundene Regelung definiert Ehe anders, als das bis jetzt auch im Grundgesetz angelegt war. Das ist also nicht nur eine katholische Position.
Insbesondere konservative Katholiken sehen in der Ehe für alle einen "Dammbruch". Auch die stellvertretende Vorsitzende der AfD, Beatrix von Storch, sagte das so in einem Interview mit unserer Zeitung.
Marx: Ich verstehe nicht, was damit gemeint sein soll.
Sie fürchten, dass die Schleusen geöffnet worden sind für die Ehe zu dritt oder die Geschwister-Ehe.
Marx: Bei dem jetzigen Gesetz geht es um die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und nicht für Verwandte oder drei, vier Personen. Ich verstehe diese Sorgen, aber man sollte nicht gleich einen Dammbruch heraufbeschwören. Übrigens sollte man bei dieser Gelegenheit durchaus daran erinnern, dass wir als Kirche nicht unbedingt Vorreiter waren, was die Rechte von Homosexuellen angeht.
Was genau meinen Sie damit?
Marx: Dass ich hier auch Bedauern aussprechen muss. Ich habe ja auch nichts dagegen getan, dass Homosexuelle strafrechtlich verfolgt wurden. Der entsprechende Paragraf wurde erst 1994 gestrichen. Wir haben uns als Kirche eigentlich damit nicht befasst.
Empfinden Sie das Gesetz zur Ehe für alle als eine Niederlage für die Kirche?
Marx: Nein, es geht ja nicht um die Kirche, sondern um die Vorstellung von Ehe und Familie. Das ist nicht nur ein Kirchenthema, aber wir haben klar unsere Meinung gesagt.
Alleine 75 Unions-Abgeordnete stimmten für die Ehe für alle. Wie christlich sind denn angesichts dessen noch CDU und CSU, die Parteien mit dem "C" für "Christlich" im Namen?
Marx: Die Christlichkeit alleine an dieser Abstimmung festzumachen, halte ich für verkehrt. Das eine ist: Was ist die christliche Überzeugung? Das andere: Kann und darf ich alle christlichen Moralvorstellungen in staatliche Gesetze überführen? Wer nicht begreift, dass das eine nicht automatisch zum anderen führen muss, hat das Wesen einer modernen Gesellschaft nicht begriffen.
Regensburgs Bischof Rudolf Voderholzer sorgt sich darum, dass Katholiken in der Politik "heimatlos" würden.
Marx: Es gibt keine Partei, die alle Meinungen der katholischen Kirche vertritt und politisch umsetzen will. Das wäre ja gar nicht möglich und wohl in einem säkularen Staat auch nicht wünschenswert.
Die AfD, von der sich Vertreter der katholischen Kirche mehrfach distanzierten, kann nun behaupten, sie sei die letzte große Partei, die noch ein christliches Verständnis von Ehe habe.
Marx: Das ist schon "Wahlkampfgetöse". Ich möchte unterstreichen: Wir sind ja nicht allein mit unserem Verständnis von Ehe als einer grundsätzlich auf Dauer angelegten Lebens- und Liebesgemeinschaft von Frau und Mann, die offen ist für die Weitergabe des Lebens – und die deswegen besonders geschützt werden soll. So hat es ja auch das Bundesverfassungsgericht bis jetzt in kontinuierlicher Rechtsprechung gesehen.
Dennoch: Die Kirche hat sichtbar an politischem Einfluss verloren.
Marx: Noch mal: Wir wollen nicht einfach unsere Moralvorstellungen in Gesetze gießen und daran den Einfluss der Kirche messen. Wir leben in einer offenen Gesellschaft, in der es Christen, Juden, Muslime, Buddhisten, Nichtgläubige gibt. Der Staat muss in einer säkularen Gesellschaft Gesetze schaffen, die für alle gelten. Eine christliche Prägung zeigt sich doch nicht und nur in den Gesetzen, sondern in den alltäglichen Werten, die in der Gesellschaft gelebt werden.
"Wir waren nicht unbedingt Vorreiter, was die Rechte von Homosexuellen angeht."
Zugleich legen Sie – zum großen Ärger einiger Unionspolitiker – Wert darauf, dass sich die Kirche in politische Debatten einmischt und ihren Einfluss geltend macht.
Marx: Es geht doch nicht einfach um unseren Einfluss, sondern um die Anliegen, die uns auch vom Evangelium für alle Menschen aufgetragen sind. Deshalb treten wir ein für die Menschen- und Grundrechte, für die Schwachen, für die Flüchtlinge, für die Bewahrung der Schöpfung, für den Schutz des Lebens vom Anfang bis zum Ende. Das genau meinen wir mit christlicher Prägung: Christen engagieren sich in dieser Gesellschaft und bringen sich politisch ein. Wir machen doch nicht nur Lobbyarbeit für die Kirche! Wir beteiligen uns aktiv an der Meinungsbildung und engagieren uns für die Menschen, wie es viele Christinnen und Christen überzeugend tun.
Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer lässt prüfen, ob Bayern die Ehe für alle vors Bundesverfassungsgericht bringen soll. Unterstützen Sie ihn dabei?
Marx: Ich würde es sehr begrüßen. Denn ich möchte schon wissen, was das Bundesverfassungsgericht über die Ehe für alle denkt. Wie eine richterliche Prüfung des Gesetzes ausgehen könnte, weiß ich nicht. Für den Rechtsfrieden in Deutschland wäre ein Urteil gut.
In wenigen Wochen findet die Bundestagswahl statt. Wird das Thema Migration und die damit verbundenen Probleme zum wahlentscheidenden Thema?
Marx: Ich denke, es wird nicht das eine wahlentscheidende Thema geben. Es geht um Grundvertrauen: Welcher Partei, welchen Politikern traue ich zu, das Land voranzubringen? Daran wird sich der Ausgang der Bundestagswahl entscheiden, nicht an einzelnen Punkten wie dem Flüchtlingsthema oder der künftigen Ausgestaltung der Rentenversicherung.
Hat die katholische Kirche vor zwei Jahren auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle etwas naiv eine "Willkommenskultur" propagiert?
Marx: Das wird uns von manchen gerne vorgehalten, aber was wäre denn im Jahr 2015 die Alternative für die Kirche gewesen?
Das Thema ärgert Sie sehr, oder?
Marx: Mir scheint, dass schon wieder vergessen wurde, was wir damals für eine schwierige Situation hatten, in der besonders Deutschland gefordert war. Die Kanzlerin sagte, aus humanitären Gründen können wir nicht anders handeln, und sie öffnete – natürlich in Übereinstimmung mit der ganzen Bundesregierung – die Grenzen, um Menschen zu helfen, die aus höchster Not geflohen waren. Und da erwartet man allen Ernstes von der Kirche oder einem Bischof, die Kanzlerin zu kritisieren und den Flüchtlingen zu sagen: Ihr seid hier nicht willkommen? Das ist doch völlig undenkbar für mich! Ich kann nicht akzeptieren, dass die Entscheidung der Kanzlerin im Nachhinein für das Schlimmste überhaupt gehalten wird.
Jetzt wird es verstärkt um die Integration der Flüchtlinge gehen müssen.
Marx: Und niemand hat gesagt, dass das ganz einfach wird. Schauen Sie sich einmal um in den Grundschulen in Oberbayern, im Allgäu oder in Augsburg. Was sollen wir den Kindern mit Migrationshintergrund, die zu uns gekommen sind, sagen? Schade, dass ihr hier seid?
"Wenn ein Flüchtling in Deutschland bleiben darf, müssen wir helfen."
Was sollten wir ihnen sagen?
Marx: Ihr seid willkommen und wir arbeiten daran, dass ihr hier eine Heimat findet! Das wird vielleicht nicht einfach sein, aber es wird möglich sein, wenn wir uns Mühe geben. Das ist alle Anstrengung wert. Wenn ein Flüchtling in Deutschland bleiben darf, müssen wir helfen.
Und wenn ein Flüchtling nach Afghanistan abgeschoben werden soll?
Marx: Ich habe kein Problem damit, dass einer, der aus rechtlichen Gründen nicht hierbleiben kann, in sein Herkunftsland zurückgeführt wird. Wir haben nie gesagt, dass jeder, der hier ist, automatisch ein Recht hat, hierzubleiben. Es darf aber niemand in eine Kriegssituation abgeschoben werden – und das ist nicht exklusive Meinung der katholischen Kirche, sondern Völkerrecht. Deshalb sind ja auch die Rückführungen nach Afghanistan von der Regierung ausgesetzt worden. Es dürfte nicht sein, dass durch Abschiebungen nach Afghanistan nur die Bevölkerung beruhigt werden soll.
Und was ist mit Gefährdern?
Marx: Das ist ein anderes Thema. Aber ich frage mich durchaus: Ist es letztlich sicherer, wenn ein Gefährder bei uns im Gefängnis sitzt oder sich im Ausland wieder den Terroristen vom Islamischen Staat anschließen kann?
Von der Bundes- zur Personalpolitik des Papstes. Kam es für Sie überraschend, dass Franziskus kürzlich die Amtszeit seines obersten Glaubenshüters, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, nicht verlängert hat?
Marx: Ja, ich wusste vorher nichts davon. Es ist aber in den vergangenen Jahren keinem verborgen geblieben, dass manche Äußerungen und Positionen Kardinal Müllers und des Papstes nur schwer miteinander vermittelbar erschienen.
Eine Jesuiten-Zeitschrift berichtete, mehrere Kardinäle hätten den Papst um Müllers Entlassung gebeten.
Marx: Davon weiß ich nichts.
Müller erklärte, der Papst habe ihm mitgeteilt, er wolle die Amtszeiten generell auf fünf Jahre begrenzen, "und da war ich der Erste, bei dem er das umgesetzt hat". Stimmt das?
Marx: Ich halte es jedenfalls für völlig legitim, dass der Papst frei ist in der Wahl seiner engeren Mitarbeiter. Die Ernennung für fünf Jahre ist ja allgemeine Regel in der Kurie.
Müller wurde auch vorgeworfen, dass die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Glaubenskongregation stockt. Hat es damit nun ein Ende?
Marx: Es geht darum, dass die Fälle, die der Glaubenskongregation vorliegen, möglichst schnell und gründlich aufgearbeitet werden. Dazu braucht es wohl mehr Mitarbeiter, da muss etwas geschehen. Der wesentliche Punkt der Aufarbeitung aber muss in den Diözesen erfolgen.
Wie in Regensburg. Dort wird ein unabhängiger Sonderermittler am Dienstag seinen Abschlussbericht zum Missbrauchsskandal bei den Regensburger Domspatzen vorlegen. Auch Müller könnte dabei eine Rolle spielen – er soll zu seiner Zeit als Regensburger Bischof die Aufklärung verzögert haben.
Marx: Ich kenne den Regensburger Abschlussbericht noch nicht. Grundsätzlich gilt: Wir sind auf einem guten Weg, dürfen aber nie nachlassen aufzuklären und alles zu tun, um Missbrauch zu verhindern. Es dauert noch etwas, aber wir werden kommendes Jahr auch die Ergebnisse einer Studie unabhängiger Experten bekommen, die sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch katholische Priester bundesweit umfassend untersuchen und bewerten.
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