Herr Holetschek, es ist ein Ärgernis, dass Bayern bei der Impfquote im Vergleich zu anderen Bundesländern so schlecht dasteht – schließlich war der Freistaat mal Musterschüler in der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Woran liegt es?
Klaus Holetschek: Wir haben uns mit dieser Frage sehr intensiv beschäftigt, immer wieder. Wir haben einen Impfgipfel organisiert und alle Beteiligten an einen Tisch geholt. Wir haben gemeinsam mit den Ärzten versucht, Schwachstellen im System zu finden. Wir haben immer wieder nachgefragt, ob es mit der Erfassung der Daten klappt. Und wir haben reagiert und nachgesteuert, wo immer wir Probleme identifiziert haben. Jeder hat an seiner Stelle versucht, das Beste zu machen. Dennoch sind wir bei den Erst- und Zweitimpfungen aktuell nur an zwölfter Stelle in Deutschland. Wir waren mal Zweiter. Das ist in der Tat ärgerlich, aber ich kann Ihnen dafür beim besten Willen keine einfache Erklärung liefern.
Was vermuten Sie?
Holetschek: Wir beobachten bei der Impfbereitschaft ein gewisses Nord-Süd-Gefälle – in Europa, in Deutschland und sogar innerhalb Bayerns. Wenn die dänische Regierung ihren Bürgerinnen und Bürgern sagt, sie sollen sich impfen lassen, dann machen die das. Es gibt dort ein großes Grundvertrauen in die staatlichen Gesundheitsinstitutionen. Bei uns ist das anders. Die Skepsis ist umso größer, je weiter man in den Süden kommt. Ich darf aber auch sagen, ich bin heilfroh, dass bereits mehr als 8,5 Millionen Bayern vollständig geimpft sind.
Hamburg und Bremen zeigen schon mit dem Finger auf Bayern.
Holetschek: Das sind Stadtstaaten. Bayern ist ein Flächenland. Das kann man nicht vergleichen. Und wenn Sie Flächenländer vergleichen, dann erkennen Sie sofort, dass es im Norden besser läuft als im Süden. Tatsächlich liegen wir in Bayern mit Baden-Württemberg bei der Impfquote nahezu gleichauf.
Der Hamburger Bürgermeister sagt, seine Regierung habe die hohe Impfquote erreicht, weil sie auf die Menschen zugegangen sei. Wie steht es in Bayern mit den Sonderimpfaktionen?
Holetschek: Davon hatten wir bisher mehr als 5500. Diese Aktionen sind gut oder sogar sehr gut gelaufen. Ich war da selber mehrfach vor Ort. Wir hatten da alles Mögliche: Impfen auf der Donau, Impfen am Riesenrad, Impfen in Einkaufszentren. Wir hatten Aktionen mit Verbänden, mit den Sportlern und sogar mit den Hotels und Gaststätten. Da haben wir alles versucht und versuchen es noch. Wir arbeiten weiter daran, möglichst wohnortnah, möglichst viele niedrigschwellige Impfungen anzubieten. Und bitte gestatten Sie mir noch einen Hinweis: Mit dem Auftreten der Delta-Variante ist klar, dass wir für eine gewisse Herdenimmunität eine Impfquote von mindestens 80 Prozent brauchen. Davon sind, mit Ausnahme Bremens, die meisten Länder noch recht weit entfernt.
Holetschek: Diese Gefahr besteht bei einer Impflicht
Lassen Sie uns über das medizinische Personal reden. Es gibt da diesen Fall im Berchtesgadener Land, wo sich nach einem Corona-Ausbruch in einer Altenpflegeeinrichtung herausstellte, dass nur eine von mehr als ein Dutzend Pflegekräften geimpft war. Ist das nicht unbefriedigend?
Holetschek: Natürlich ist das unbefriedigend. Erst vergangenen Samstag hat mir eine Pflegerin in Lohr am Main gesagt, sie wäre für eine Impfpflicht beim medizinischen Personal. Es wäre natürlich besser, wir könnten mit der Kraft der Argumente überzeugen. Denn eine Impfpflicht in diesem Bereich hat auch eine Kehrseite: Die Frauen und Männer, die in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen arbeiten, sind extrem belastet. Es fehlt an allen Ecken und Enden an Personal. Und es ist uns bisher leider noch nicht gelungen, ihre Situation spürbar zu verbessern. Bei einer Impfpflicht ist die Gefahr gegeben, dass sich noch mehr Pflegekräfte aus diesem Beruf verabschieden. Das bedeutet für mich erstens: Wenn eine Impfpflicht, dann möglichst nicht nur für eine bestimmte Berufsgruppe, sondern breiter und nach klaren Kriterien. Und zweitens: Eine Impfpflicht muss unbedingt wissenschaftlich begleitet und von der Wissenschaft unterstützt werden. Deshalb sind die klaren Forderungen der Wissenschaftler der Leopoldina, die jetzt Impfpflichten für Multiplikatorengruppen vorschlägt, immens wichtig in der Diskussion. Ob die Impfpflicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist, weiß ich nicht. Aber es wäre klar und eindeutig und alle würden gleichbehandelt.
Nicht nur von der Leopoldina, auch aus den Reihen der Freien Wähler, mit denen Ihre Partei in Bayern regiert, kommt die Forderung nach einer Impfpflicht für das medizinische Personal.
Holetschek: Wir haben in der Pandemie immer auf die Wissenschaft gesetzt. Und ich halte die Empfehlung der Leopoldina „Impfpflichten für Multiplikatorengruppen“, zu denen auch das medizinische Personal gehört, jetzt tatsächlich für ein ganz zentrales Instrument, in der Politik zeitnah Entscheidungen zu treffen. Wir sollten auf die Wissenschaft hören. Ich wünsche mir, dass dies auf Bundesebene geschieht, damit wir im Kampf gegen die Pandemie in dieser vierten Welle wirklich keine Zeit mehr verlieren.
Hätte man da nicht von Anfang an drüber nachdenken müssen?
Holetschek: Es wurde ja darüber nachgedacht. Aber bitte erinnern Sie sich: Am Anfang war das stärkste Gegenargument das der jungen Frauen, die noch Kinder bekommen wollen. Die Ständige Impfkommission war da zunächst sehr zurückhaltend. Also haben wir auf Freiwilligkeit gesetzt. Wir starteten zum Beispiel die Kampagne „Ich tu’s für ...“ mit Menschen, die mit ihrem Gesicht und ihrem Namen öffentlich fürs Impfen geworben haben. Wir wollten mit Argumenten überzeugen, aber das ist uns offenbar nicht ausreichend gelungen. Mittlerweile empfiehlt die Stiko sogar Schwangeren eine Impfung. Und in der Zwischenzeit hat sich in der Debatte ja einiges verändert, auch auf der Seite der Wissenschaft, wie die Leopoldina uns zeigt. Wir können nicht einfach zurück auf null. Die Pandemie zwingt uns ständig zu Lernprozessen.
CSU-Gesundheitsminister: "Pandemie ist nicht kalkulierbar"
Würden Sie im Nachhinein etwas anders machen?
Holetschek: Ich räume offen ein, dass in der Kommunikation viele Dinge gut, aber noch nicht gut genug gelaufen sind. Das war für die Bürgerinnen und Bürger nicht einfach. Und es war auch für uns nicht einfach. Die Steuerung dieser Prozesse ist ohne Zweifel optimierungsbedürftig.
Es gab auch Fehleinschätzungen. Das Kalkül zum Beispiel, dass kostenpflichtige Tests dazu führen könnten, dass mehr Menschen sich impfen lassen, ging ja offensichtlich nicht auf.
Holetschek: War das von vorneherein klar? Nein! Aber ich will mich da nicht rausreden. Es wurden immer wieder Entscheidungen getroffen, die sich hinterher als verbesserungswürdig herausgestellt haben. Das bestreite ich nicht. Dennoch ist es so, dass diese Pandemie nicht kalkulierbar ist. Als wir in atemberaubend kurzer Zeit die Impfstoffe hatten, dachten wir, es wird im Frühling besser. Jetzt sieht es wieder ganz anders aus. Aber in jeder Situation gilt: Entscheidungen müssen getroffen werden. Politische Verantwortung zu übernehmen birgt immer das Risiko, Fehler zu machen. Dann muss man sich korrigieren und nachsteuern.
Aktuell geht nicht viel voran. Es gibt eine alte Bundesregierung, die nicht mehr kann, und eine zukünftige, die noch nicht kann. Und die Länder sind sich uneinig. Eine konzertierte Aktion aller politischen Kräfte ist nicht in Sicht.
Holetschek: Deshalb brauchen wir möglichst schnell eine Ministerpräsidentenkonferenz, bei der neben Frau Merkel und Herrn Scholz auch die Wissenschaft mit am Tisch sitzen muss. Nur wenn wir uns übergreifend einig sind, können wir die Menschen mitnehmen. Es ist höchste Zeit.