Herr Mukerji, Sie machen etwas sehr Ungewöhnliches: Sie sind Risiko- und Katastrophenethiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München und am Solon Center for Policy Innovation und Experte für Verschwörungstheorien. Wodurch zeichnen sich Verschwörungstheorien eigentlich aus?
Nikil Mukerji: Eine Verschwörungstheorie ist eine Theorie, die ein als problematisch empfundenes Ereignis oder einen gesellschaftlichen Zustand zu erklären beansprucht und dabei postuliert, dieses beziehungsweise dieser sei die Konsequenz einer Verschwörung. Unter einer Verschwörung versteht man dabei, dass eine Gruppe von Menschen – in der Regel geht es um einflussreiche Eliten – im Geheimen einen Plan schmiedet und diesen zum Schaden der Allgemeinheit verfolgt.
Forscher Mukerji: Verschwörungstheorien können wahr sein
Warum sind viele Menschen denn so anfällig für Verschwörungstheorien? Gerade während der Corona-Pandemie. Ist das eine Art Selbstschutz vor der Realität?
Mukerji: Zunächst ist wichtig, zu betonen, dass Verschwörungstheorien, so wie ich sie beschrieben habe, wahr sein können. Deswegen ist es nicht per se problematisch, wenn eine Person an eine Verschwörungstheorie glaubt. Nehmen wir etwa die NSA- oder die Watergate-Affäre. Hier sprechen gute Belege dafür, dass tatsächlich eine Verschwörung stattgefunden hat. Anders ist das allerdings bei vielen populären Verschwörungstheorien, die zum Beispiel im Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus vertreten werden. Für die sprechen keine guten Belege.
Lübcke-Mörder glaubte auch an eine Verschwörungstheorie
Warum glauben viele Menschen dann an sie?
Mukerji: Hier müssen zwei Faktoren zusammenkommen. Erstens: Es muss etwas passiert sein, das durch eine verfügbare Verschwörungstheorie erklärt werden kann. Die momentane Pandemie ist ein gutes Beispiel. Schon kurz nach Ausbruch des neuartigen Coronavirus gab es Theorien über die Entstehung des Virus und die Geheimpläne düsterer Eliten. Manche davon waren eigentlich nur Rekombinationen alter Verschwörungsmythen, die aufgrund des aktuellen Anlasses aufgewärmt wurden. Zweitens: Es muss eine Gruppe von Menschen geben, die anfällig für die Art von Erklärung ist, die angeboten wird. In der psychologischen Forschung spricht man in diesem Zusammenhang von einer Verschwörungsmentalität. Dabei handelt es sich um eine psychische Disposition, an Verschwörungsnarrative zu glauben. Dass es so etwas gibt, wird durch den Umstand belegt, dass verschwörungsgläubige Menschen in der Regel mehr als nur eine Verschwörungstheorie glauben.
Was sind das für Menschen?
Mukerji: Menschen mit Verschwörungsmentalität haben eine Neigung, in stattfindenden Ereignissen nach Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu suchen, und sie geben sich nicht damit zufrieden, dass Dinge auch zufällig passiert sein könnten. Zudem denken Menschen mit Verschwörungsmentalität weniger analytisch beziehungsweise kritisch. Vorurteile gegenüber bestimmten Gesellschaftsgruppen begünstigen Verschwörungsglauben ebenso wie eine geringe Ambiguitätstoleranz, also eine mangelnde Fähigkeit, Unsicherheiten auszuhalten.
Wie gefährlich sind solche Strömungen Ihrer Ansicht nach grundsätzlich und in der aktuellen Situation?
Mukerji: Manche Verschwörungstheorien sind vergleichsweise harmlos. Die Theorie etwa, dass die Erde eine Scheibe ist, wird die meisten Menschen nicht dazu veranlassen, sich oder andere zu schädigen. Aber auch hier gibt es Ausnahmen. Der US-amerikanische Flacherdler Michael Hughes baute sich zum Beispiel selbst eine Rakete, um zu beweisen, dass die Erde nicht rund ist. Dieses Jahr stürzte er damit ab und starb. Natürlich gibt es aber auch Theorien, die schon durch ihr Design gefährlich sind. Wenn sie ein Narrativ beinhalten, mit dem eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe als Feind ausgemacht wird und wenn sich gewaltbereite Menschen dieser Verschwörungstheorie anschließen, dann kann sich jemand berufen fühlen, Selbstjustiz zu üben. Der mutmaßliche Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke glaubte offenbar an die Verschwörungstheorie des großen Austausches – also an die These, dass die deutsche Bevölkerung insgeheim durch Ausländer ersetzt werden soll. Aussagen von Lübcke belegten dies seiner Ansicht nach, und deswegen beschloss er offenbar, aktiv zu werden.
Verfassungsschutz in Baden-Württemberg beobachtet Querdenker
In Baden-Württemberg werden die Querdenker nun vom Verfassungsschutz beobachtet. Haben Sie das Gefühl, dass es zu einer Radikalisierung der Bewegung kommt?
Mukerji: Ich würde es vermuten. Denn wir kennen die Ursachen für Radikalisierung, und die scheinen momentan vorzuliegen. Personen und Gruppen radikalisieren sich in der Regel als Gegenreaktion auf den Mainstream. Die meisten Menschen in Deutschland lehnen die Querdenken-Bewegung ab. Das hat mehrere Effekte. Zum einen wird so die Echokammer verstärkt. Querdenker reden weniger mit Menschen aus dem Mainstream. Dadurch gleiten sie in eine Parallelwelt ab. Die alternativen Fakten, an die sie glauben, werden nicht mehr kritisiert und korrigiert. Wenn man von einem großen Teil der Gesellschaft abgelehnt wird, dann kann das außerdem das Zusammengehörigkeitsgefühl der Ingroup steigern. Opfernarrative, die ebenfalls kursieren, verstärken diese Tendenz. Hinzu kommt, dass sich wohl aufgrund des öffentlichen Drucks gemäßigte Unterstützerinnen und Unterstützer von der Bewegung abwenden. Übrig bleiben dann nur noch die Radikaleren.
Die Demos gegen die Corona-Maßnahmen sind ein buntes Gemisch aus Querdenkern, Bürgern, die sich um ihre Existenz Sorgen machen, aber auch Neonazis. Glauben Sie, dass das eine gefährliche Mischung ist und so radikales Gedankengut in andere Bevölkerungsbereiche vordringt?
Mukerji: Ja, das besorgt mich. Wir wissen, dass manche Extremisten sehr gut darin sind, für ihre Ideen zu werben. Zunächst machen sie sich mit einem Anliegen gemein, das viele Menschen haben. Zwar unterstützen die meisten Bürgerinnen und Bürger die Corona-Politik in Deutschland. Aber auch die unzufriedene Minderheit ist in absoluten Zahlen eine große Gruppe. Hier können Radikale einen Fuß in die Tür bekommen, indem sie sich mit den Anliegen dieser Menschen verbinden. So werden sie als Verbündete wahrgenommen, mit denen man sich solidarisieren sollte. Ab diesem Punkt können sie für Ansichten werben, die weit über eine Kritik der Corona-Politik, die in einer demokratischen Gesellschaft möglich sein muss, hinausgehen.
Präsenz von Neonazis und Reichsbürgern wird ausgeblendet
Warum haben viele Demonstranten offenbar kein Problem damit, mit Rechtsextremisten auf die Straße zu gehen?
Mukerji: Wie man das im Einzelnen erklären kann, wüsste ich auch gerne. Ich suche da nach einer wohlwollenden Interpretation. Ich könnte mir etwa vorstellen, dass mangelnde oder einseitige Information eine Rolle spielt. Wer auf Querdenken-Veranstaltungen geht, hat sich tendenziell zu einem Gutteil von den Mainstream-Medien ab- und alternativen Informationskanälen zugewandt. Und dort werden die Dinge natürlich anders berichtet, sodass man rechtfertigen kann, was man tut. Wir wissen auch, dass Menschen sehr gut darin sind, ihre Augen vor den Tatsachen zu verschließen und sich die Dinge hinzudrehen, wie sie sie gern sehen wollen. Dazu blendet man einfach alles aus, was unangenehm ist – etwa die Präsenz von Neonazis und Reichsbürgern. Die letzte – am wenigsten wohlwollende – Erklärung ist: Die Menschen wissen, dass Nazis und Reichsbürger mitmarschieren, aber es ist ihnen egal, weil der Zweck die Mittel heiligt. Das, so würde ich vermuten, trifft nur auf eine Minderheit der gemäßigteren Unterstützerinnen und Unterstützer der Querdenken-Bewegung zu.
Macht Ihnen persönlich die aktuelle Entwicklung Sorgen?
Mukerji: Als Risiko- und Katastrophenethiker gehört es zu meinem Beruf, dass ich mir Sorgen mache. Und in der aktuellen Situation gibt es auch einigen Anlass dafür. Einerseits ist beunruhigend, dass ein großer Teil der Gesellschaft in einer Parallelwelt lebt. Zu dieser Einschätzung muss man kommen – egal, auf welcher Seite man steht. Denn die Querdenker-Positionen verhalten sich ja diametral zu den Sichtweisen des Mainstreams. Also muss eine Seite Unrecht haben. Das ist besorgniserregend, da die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie zu einem großen Teil davon abhängt, dass wir uns auf bestimmte Fakten stützen können. Je tiefer die Dissense reichen, desto schwieriger wird es, produktive politische Debatten zu führen und wichtige gesellschaftliche Fragen zu klären.
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