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Interview: Gesundheitsminister Holetschek: "Brauchen Revolution in der Pflege"

Interview

Gesundheitsminister Holetschek: "Brauchen Revolution in der Pflege"

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    "Klatschen reicht nicht": Nicht erst seit Corona kritisieren Pflegerinnen und Pfleger die Missstände im Gesundheitswesen. Sie fordern eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen.
    "Klatschen reicht nicht": Nicht erst seit Corona kritisieren Pflegerinnen und Pfleger die Missstände im Gesundheitswesen. Sie fordern eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen. Foto: Georgios Kefalas, dpa

    Herr Holetschek, wir erinnern uns alle an die Bilder von Pflegekräften in Schutzanzügen, an überfüllte Krankenhausstationen, an die schlimmsten Zeiten der Pandemie. Diese Szenen haben erschreckend deutlich die Schwachstellen des Gesundheitssystems aufgezeigt. Jetzt, ein halbes Jahr später, spricht jedoch kaum noch jemand darüber.

    Klaus Holetschek: Ich mache dieselbe Beobachtung. Wir reden gerade viel über Klimaschutz, über Afghanistan und die Bundestagswahl. Das ist alles richtig und wichtig. Aber über das Thema Pflege habe ich im Wahlkampf noch nicht viel gehört – und es ist mindestens genauso wichtig. Es geht schließlich um die Würde der Menschen im Alter.

    Was ist aus den versprochenen Lehren geworden, die man aus der Corona-Pandemie ziehen wollte?

    Klaus Holetschek: Die ziehen wir und die Pflegekräfte erwarten das auch von uns, von der Politik. Deshalb müssen wir jetzt beweisen, dass wir es verstanden haben, dass sich etwas verändern und verbessern muss. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir sämtliches Vertrauen verspielen.

    Gesundheitsminister Klaus Holetschek über Pflegekräfte: "Wir steuern auf eine dramatische Lage zu"

    Die Pflegekräfte haben genug?

    Klaus Holetschek: Ich kenne viele, die sagen: Wenn nicht bald etwas passiert, wenn auf Worte nicht endlich auch Taten folgen, dann höre ich auf. Viele stehen vor dieser Entscheidung, aber sie warten noch ein bisschen ab und hoffen darauf, dass die neue Regierung handelt. Wir steuern in den kommenden Jahren auf eine dramatische Lage zu, wenn wir jetzt nicht handeln.

    Was droht unserer Gesellschaft im schlimmsten Fall?

    Klaus Holetschek: Wir haben in Bayern aktuell 500.000 Pflegebedürftige. Die Prognosen sagen, dass es bis 2050 750.000 bis 880.000 Personen sein werden – und die Tendenz geht eher noch weiter nach oben. Im Freistaat werden aktuell etwa 70 Prozent der Pflegebedürftigen von ihren Angehörigen betreut. Wenn diese Frauen und Männer dies aber nicht mehr können, dann muss die professionelle Pflege das leisten. Doch wie soll das funktionieren, wenn wir nicht genug Fachkräfte haben? Im schlimmsten Fall können wir die Pflege nicht mehr sicherstellen.

    Man müsse Post-Covid ernst nehmen, sagt Klaus Holetschek.
    Man müsse Post-Covid ernst nehmen, sagt Klaus Holetschek. Foto: Weizenegger

    Es braucht also mehr Fachkräfte?

    Klaus Holetschek: Dringend. Wir haben zwar eine neue generalistische Ausbildung und eine zunehmende Akademisierung für einige Berufe. Das ist gut so. Aber das allein reicht die nächsten Jahre nicht aus. Bereits die demografische Entwicklung führt zu einem wachsenden Fachkräftebedarf. Und das gilt auch für die geplante, bessere Personalausstattung. Es ist tragisch, wenn dann auch noch Menschen ihren Beruf aufgeben, weil sie nicht mehr können.

    Gesundheitsminister Klaus Holetschek über Pflegekräfte: "Das würde Anreize setzen"

    Was muss also getan werden?

    Klaus Holetschek: Politik muss sich immer auch im Umgang mit den Schwächsten der Gesellschaft messen lassen. Wir brauchen nach der Bundestagswahl eine umfassende Pflegereform, und dafür muss der Staat viel mehr Geld in die Hand nehmen.

    Um Pflegekräfte besser zu bezahlen?

    Klaus Holetschek: Ja, natürlich. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass zum Beispiel alle Zuschläge der Pflegekräfte, etwa für Schichtdienste oder Sonntagsarbeit, steuerlich freigestellt werden. Das würde bestimmt Anreize setzen.

    Es geht also vor allem ums Geld?

    Klaus Holetschek: Es gibt viele Stellschrauben, an denen man drehen muss: die Personalschlüssel, Springerpools, Entlastungskräfte, kreative Arbeitszeitmodelle, Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf. Die Arbeitsbedingungen müssen sich enorm verbessern.

    Die Belastung ist ja gerade in diesen Zeiten sehr hoch.

    Klaus Holetschek: Viele Pflegekräfte sind ausgebrannt. Während Corona ging die normale Arbeit in den Krankenhäusern und Pflegeheimen ja weiter. Die Frauen und Männer hatten nie eine Pause zum Durchschnaufen. Sie waren permanent in einem Highspeed-Modus und sind am Anschlag.

    Wie kann man ihren Frust mildern?

    Klaus Holetschek: Im Wahlkampf muss viel mehr über Pflege gesprochen werden. Und nach der Wahl muss in einem Koalitionsvertrag, egal wer dann am Tisch sitzt, definiert werden, was der Staat für die Fachkräfte, für die pflegenden Angehörigen und auch für die Pflegebedürftigen tun und wie viel Geld er dafür bereitstellen muss. Wenn wir das nicht schaffen, dann werden wir im Pflegebereich so viel wegbrechen sehen, dass wir die Situation irgendwann nicht mehr bewältigen können.

    Gesundheitsminister Klaus Holetschek über Pflegekräfte: "Wir müssen das System hinterfragen"

    Muss das auf Bundesebene passieren oder muss der Freistaat aktiv werden?

    Klaus Holetschek: Der Bund ist im Bereich der Sozialgesetzgebung gefordert. Wir brauchen eine Revolution in der Pflege und müssen dieses Momentum Corona für tiefschneidende Reformen nutzen. Wenn wir jetzt nicht einen Ruck hinbekommen, dann wären alle Versprechungen aus Corona-Zeiten nur leeres Gewäsch.

    Wo müsste man zuerst anpacken?

    Klaus Holetschek: Es braucht eine Struktur- und Finanzreform der Pflegeversicherung. Wenn ich nur an den einzelnen Problemen herumdoktere, wird sich dauerhaft nichts verbessern. Wir müssen den Mut haben, das System zu hinterfragen. Die Pandemie ist auch Chance zu analysieren, was wir ändern können. Tun wir das nicht, wird sich das irgendwann gewaltig rächen.

    Das sind alles Forderungen an den Bund, aber was kann Bayern tun?

    Klaus Holetschek: Die Stärkung pflegender Angehöriger liegt mir zum Beispiel am Herzen. Das gilt natürlich für Bayern, aber auch in ganz Deutschland. Ich denke da an eine Großelternzeit, eine bezahlte Freistellung von der Arbeit. Wir kennen den Erfolg der Elternzeit und des Elterngeldes. Wir brauchen das auch für die Pflege von Großeltern und den finanziellen Spielraum dafür. Die Angehörigen müssen die Chance haben, aus dem Beruf rausgehen und das angerechnet bekommen zu können. Ich denke da an Geld und Zeit. Gute Pflege daheim, das ist unser bayerisches Thema. Dafür müssen wir auch die Kommunen einbeziehen. Wir haben Ideen, aber das Sozialgesetzbuch gibt es gar nicht her, flexible Modell zu verwirklichen.

    Hätten Sie da ein Beispiel?

    Klaus Holetschek: In den Niederlanden wird für die Pflegekräfte ein einheitlicher Stundenlohn abgerechnet, unabhängig davon, was sie tun. In Deutschland ist das rechtlich gar nicht möglich. Bei uns ist das viel komplizierter. Einzelne Handlungen muss die Pflegekraft mit der Krankenversicherung abrechnen und bei der Pflegeversicherung muss sie unterscheiden zwischen Hauswirtschaft, Betreuung und Pflege. Dafür muss die Fachkraft genau aufschreiben, was sie getan hat. Das kostet viel Zeit und Bürokratie, die viele Frauen und Männer lieber dem Patienten widmen würden. Nur nach den Abrechnungsmodalitäten zu denken und zu handeln, wird dem Pflegebedürftigen gar nicht gerecht.

    Wie soll sich das ändern?

    Klaus Holetschek: Nur wenn das ganze System überarbeitet wird, können die Pflegekräfte am Ende vor Ort so arbeiten, dass sie dem Patienten auch das geben können, was er braucht. Und das muss jetzt passieren, in zehn Jahren ist es zu spät. Sonst kommen wir sehenden Auges an einen Punkt, wo wir gegen den Betonpfeiler fahren und so viele Menschen in der Pflege landen, die nicht mehr betreut werden können.

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