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Inklusion: Wie ein Gesetz behinderte Menschen behindert

Inklusion

Wie ein Gesetz behinderte Menschen behindert

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    Er büffelte in den vergangenen Monaten für das erste Staatsexamen. Den Staat will der Jurist Jonas Pioch (24) jetzt selbst verklagen.
    Er büffelte in den vergangenen Monaten für das erste Staatsexamen. Den Staat will der Jurist Jonas Pioch (24) jetzt selbst verklagen. Foto: Thorsten Jordan

    Jonas Pioch saß in den vergangenen Monaten jeden Tag über Gesetzbüchern, Kommentaren und Rechtsfällen. Der 24-Jährige macht gerade sein erstes Staatsexamen, gestern war die letzte mündliche Prüfung. Er studiert Jura in Augsburg – und er arbeitet derzeit schon an einem Fall in eigener Sache: Er will seine erste Verfassungsklage durchsetzen. Gegen ein Gesetz, das es ihm unmöglich macht, „als Behinderter erfolgreich in seinem Beruf zu arbeiten“. Ein Gesetz, das gelegentliche Urlaube oder nur die Reparatur seines 15 Jahre alten Busses, mit dem er transportiert wird, für Pioch im Berufsleben in weite Ferne rückt.

    Jonas Pioch ist ein engagierter und ruhiger junger Mann. Er lebt in Landsberg und konnte dank seines starken Willens und seiner Tatkraft – und der Hilfe seiner Eltern und seiner Freunde immer am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Er besuchte den Kindergarten, die Grundschule und das Gymnasium. Freunde halfen ihm. Mit 16 war er im Jugendbeirat, wurde 2007 mitten während der Abiturvorbereitungen Stadtratsmitglied, er ist im Vorstand des Verkehrs- und Verschönerungsvereins und hat in

    Die Krankheit schreitet fort – langsam

    Ein großes Programm ist das für den 24-Jährigen, der nur bis zum siebten Lebensjahr laufen konnte und seitdem im Rollstuhl sitzt. Er leidet an spinaler Muskelatrophie (Muskelschwund) und ist deshalb täglich auf Unterstützung angewiesen, um seinen Alltag zu bewältigen. Seine Krankheit schreitet fort, langsam. Vor neun Monaten konnte er noch selbst ein Glas in der Hand halten, inzwischen muss er einen Strohhalm zum Trinken nehmen. „Je mehr ich mich beschäftigte, umso besser geht es mir. Ich stelle die Behinderung nicht in den Vordergrund, werde aber behindert.“

    Denn seine Beschäftigung im Studium oder im Ehrenamt ist zumindest finanziell schwierig geworden. Mit der Inklusion, die zum Ziel hat, dass Menschen mit Behinderung selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, „klappt es in Deutschland nur bis zur Hochschule, dann ist plötzlich Stopp“, sagt Pioch.

    "Das Gesetz sieht erfolgreiche Behinderte nicht vor"

    Er führt aus: „Ein Behinderter, der Geld verdient, gespart oder geerbt hat, muss die Kosten für seine Assistenz selbst tragen.“ Das war bei Pioch, der vor dem Studium etwas gespart hatte, genauso. „Das ärgert mich“, sagt er, „ein behinderter Student muss zahlen, um auf die Hochschule zu gehen.“ Eine persönliche Hochschulhilfe zahle der Staat laut 12. Sozialgesetzbuch nur, wenn das Gesamtvermögen des Betroffenen weniger als 2600 Euro betrage. Pioch hat sich ausgerechnet, dass er nach der derzeitigen Gesetzeslage nach dem Studium zwischen 13.000 bis 14.000 Euro netto im Monat verdienen müsste, um sich Rücklagen schaffen zu können.

    Die Arbeit, die ihm so wichtig ist, lohnt sich für den 24-Jährigen also nur, wenn er sofort zu den Topverdienern gehören würde. Das sei wenig realistisch. Pioch: „Ich kann meine finanzielle Situation trotz Arbeit so derzeit nicht verbessern. Wenn ich dagegen nicht arbeite, bezahlt der Staat die Assistenz und ich muss keine Steuern zahlen. Das Gesetz sieht also erfolgreiche Behinderte nicht vor.“

    "Kastenwesen für Menschen mit Behinderung"

    Pioch klagte, verlor und ging in Berufung. An diesem Freitag ist er vor dem Bayerischen Landessozialgericht in München. Dort versucht er die Weichen für eine Verweisung des Falls ans Bundesverfassungsgericht zu stellen, „nur so kann man endgültig auf eine neue Gesetzgebung hinwirken“, sagt er. Das derzeitige Gesetz schaffe „ein Kastenwesen für Menschen mit Behinderung, weil man keine Chance hat, sich einen anderen Standard zu erarbeiten, obwohl man gut verdient“.

    Hinzu kommen Probleme im zwischenmenschlichen Bereich. Denn in seiner Situation sei es sehr schwer, einen Lebenspartner zu finden. Durch eine Lebensgemeinschaft oder eine Heirat gerate dieser automatisch mit in die Armutsfalle.

    Nicht nur in Sachen Studienhilfe auch für sein Engagement im Ehrenamt geht Pioch vor Gericht. Für seine ehrenamtliche Tätigkeit im Landsberger Stadtrat will der Bezirk Oberbayern ihm nur eine Assistenz von eineinhalb Stunden zugestehen. „Das ist eine völlig willkürliche Entscheidung und keine Lösung. Ich könnte künftig meine Arbeit im Landsberger Stadtrat nur wieder mit der Hilfe meiner Eltern leisten. Fast alle Sitzungen im Stadtrat dauern viel länger als eineinhalb Stunden.“

    "Wir haben erst eine Inklusion, wenn wir dieses Wort nicht mehr brauchen"

    Pioch verweist auf eine Studie der Humboldt-Universität Berlin, die sich mit der Begründung „einer einkommens- und vermögensunabhängigen Eingliederungshilfe“ anhand der UN-Behindertenrechtskonvention beschäftigt. „Das soll Thema vor dem Verfassungsgericht sein“, so Pioch. Menschen mit Behinderungen hätten ein Recht darauf, am Leben der Gesellschaft teilzuhaben und es sei verboten, sie zu benachteiligen. In Artikel drei des Grundgesetzes steht seit 1994: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

    „Wir haben erst eine Inklusion, wenn wir dieses Wort nicht mehr brauchen, wenn dieses Wort unnötig geworden ist. Das will ich mit meiner Klage erreichen“, sagt der junge Jurist. Der Landsberger steht mit seiner Forderung nicht alleine. Der ebenfalls behinderte Jurist Constantin Grosch aus Bielefeld startete eine Petition auf „change.org“ und hofft auf Unterstützung. Er leidet an einer ähnlichen Krankheit.

    Die Richterin Nancy Poser aus Trier war bereits im Fernsehen zu sehen. Sie hat ihr Jurastudium mit Bestnoten abgeschlossen und gibt jetzt fast ihr ganzes Gehalt für ihre Assistenzen aus. Auch Grosch und Poser sitzen im Rollstuhl und müssen im Alltag rund um die Uhr begleitet werden.

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