Es war ein sonniger Tag im Sommer 2016: An einer Bushaltestelle im bayerischen Schweinfurt sticht ein Mann von hinten auf eine Frau ein. Auf seine Frau. 18 Mal sticht er zu. Autos fahren vorbei, hupen. Als ein Zeuge zu Hilfe kommt, liegt die Frau in einer Blutlache. Nur eine Notoperation kann sie in letzter Minute retten.
Der Schweinfurter Rechtsanwalt Jürgen Scholl sagt: "Er hat sich nicht davon stören lassen, dass es am helllichten Tag war, dass es an einer viel befahrenen Straße war, dass zwei Bushaltestellen in der Nähe waren. Er hat in aller Seelenruhe auf seine Frau eingestochen – bis er meinte, dass sie tot ist." Scholl hat die Frau, die sich selbst dazu nicht äußern will, als Nebenklägerin vor Gericht vertreten. Ihr Mann wurde im März zu zwölf Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilt.
"Diese Frau hat die Hölle auf Erden erlebt", sagt Scholl über die Mandantin, die 20 Jahre mit dem Mann zusammen war. "Das Wort Martyrium ist schnell gebraucht, aber hier war das wirklich der Fall: ständige Demütigungen, Schläge, Fesselungen." Als sie schwanger war, habe ihr Mann ihr so stark in den Bauch geschlagen und getreten, dass sie ihr Baby verlor. Als sie dann endlich den Mut hatte, ihn zu verlassen, griff er sie an der Bushaltestelle an. "Es hat ihn an seiner Ehre gekratzt, dass sie sich von ihm getrennt hat", sagt der Anwalt.
Seine Mandantin habe sich nichts sehnlicher gewünscht, als ihn für immer hinter Gittern zu sehen, sagt Scholl. Doch das Gericht entschied sich gegen die Anordnung einer Sicherungsverwahrung. "Meine Mandantin ist überzeugt davon, dass er sie umbringen wird, wenn er jemals wieder rauskommt."
In Schwaben versuchten elf Männer, ihre Frau oder Ex umzubringen
Ein Mann tötet seine Partnerin – in manchen Ländern hat man einen eigenen Namen für dieses Phänomen. Femizid nennt es die Fachsprache oder, allgemeiner, Beziehungstat, Partnerschaftsgewalt, häusliche Gewalt. Statistisch gesehen wird fast jeden Tag eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder ihrem Ex umgebracht. Für das Jahr 2015 listet das Bundeskriminalamt, kurz BKA, 331 solcher Fälle auf. Mehr als 77000 Frauen wurden Opfer von Körperverletzungen, mehr als 16000 wurden von ihrem Mann oder ihrem Ex bedroht. Insgesamt erlebten 104000 Frauen 2015 Gewalt in der Beziehung. Deutlich mehr als noch vor Jahren.
In Schwaben zählten die beiden Polizeipräsidien 2015 elf Fälle, in denen ein Mann versuchte, seine Partnerin oder seine Ex zu töten – in einem Fall hat er es geschafft. 1872 Mal wurde häusliche Gewalt gegen Frauen zur Anzeige gebracht. Dvon ging es in 1534 Fällen um Körperverletzung, 36 Mal um Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung. Tatsächlich aber dürften es deutlich mehr Fälle häuslicher Gewalt sein, sagt Dagmar Bethke, Beauftragte für Kriminalitätsopfer am Polizeipräsidium Schwaben Süd/West. Sie sagt: "Die Dunkelziffer ist sehr, sehr hoch." In manchen Fällen rufen Nachbarn die Polizei, wenn sie glauben, dass der Mann seine Frau schlägt. Oder die Schule verständigt die Beamten, wenn ein Kind etwas ausplaudert, was in diese Richtung deuten könnte. Dann sucht Bethke die Opfer auf, erklärt ihnen, wo sie Unterstützung bekommen, hilft ihnen, den Peiniger anzuzeigen.
Viel zu oft bekommt niemand etwas von den Schlägen mit. Ein andermal dagegen macht die Gewalt Schlagzeilen. Wie im niedersächsischen Hameln, wo ein Mann seiner Ex-Frau einen Strick um den Hals band und sie hinter dem Auto herschleifte. 14 Jahre Haft bekam er wegen versuchten Mordes. In Hamburg muss ein Mann neun Jahre und sechs Monate hinter Gitter, weil er seine Frau in der Dusche mit heißem Speiseöl übergossen hat.
Es reicht aber schon, die Meldungen der vergangenen Tage zu studieren: Das Landgericht Traunstein verurteilte einen 81-Jährigen, der seine 75-jährige Lebensgefährtin im Streit erstochen hatte, zu vier Jahren und neun Monaten Haft. In Passau steht ein 45-Jähriger vor Gericht, weil er seiner getrennt lebenden Frau aufgelauert und sie mit einem Messerstich in den Bauch getötet haben soll. Im südlichen Landkreis Neu-Ulm ging am Donnerstag ein 30-Jähriger auf seine ehemalige Lebensgefährtin los und würgte sie offenbar mit einem Handtuch – vor den Augen des gemeinsamen Kindes. Die Frau konnte entkommen.
Manche bekommen der ersten Schlag auf der eigenen Hochzeit
Jens Luedtke, Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Universität Augsburg, sagt, dass es auch Frauen gibt, die in Beziehungen Gewalt ausüben. Nach den Zahlen des BKA sind die Täter aber zu mehr als 80 Prozent Männer. "Einfach gesagt: Je härter die Verletzungsfolge wird, desto höher wird der Männerüberschuss."
Und es ist kein Problem, das nur auf bestimmte Bildungs- oder Gesellschaftsschichten beschränkt ist. "Je größer der materielle Wohlstand, desto sicherer lebt die Frau zwar, weil es dann bestimmte Probleme einfach nicht gibt, die mit Armut einhergehen", erklärt Luedtke. "Aber ein Kollege hat mal zynisch gesagt: Bei den sozial Schwachen sind nur die Wände dünner. Hinter dicken Villenmauern gibt es das Phänomen genauso."
Warum aber schlägt ein Mann seine Frau? Es gibt es die Fälle, in denen jemand überreagiert, sagt Luedtke. Meist handle es sich aber um eine Abwärtsspirale der Gewalt, die zum Strudel werde. "Bis es zu heftiger körperlicher Gewalt kommt, gibt es in den meisten Fällen eine Vorgeschichte", sagt er. Dass Frauen geschlagen werden, komme umso häufiger vor, je traditioneller die Familien organisiert sind und je konservativer die Geschlechterrollenvorstellungen sind. Türkinnen und Frauen aus patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen seien häufiger betroffen als deutschstämmige Frauen.
Manchmal fängt die Gewalt an, wenn man sie am wenigsten erwartet. "Oft sind es die Momente, die besonders sein sollten", sagt Dagmar Bethke, die Kriminalhauptkommissarin aus Kempten. Die erste gemeinsame Wohnung, das erste Kind. Situationen, in denen die Beziehung sich verändert, die Bindung enger wird. Veränderungen, mit denen man überfordert sein kann. Es gibt Frauen, die den ersten Schlag auf ihrer Hochzeitsfeier erlebten.
Kira, die eigentlich anders heißt, war gerade zu ihrem Verlobten und seiner Familie gezogen, als ihr Leben aus den Fugen geriet. "Es war ein Samstag, ich bin ins Zimmer rein, und dann habe ich erst mal eine gedonnert bekommen." Ein Bekannter von ihr hatte eines ihrer Facebook-Fotos geliked. Kira war schwanger und geschockt. "Ich wollte nicht wahrhaben, was da los ist." Sie stürmte aus der Wohnung, ihr Verlobter fuhr mit dem Auto auf dem Gehweg hinter ihr her. Ein Mann, den sie bat, die Polizei zu rufen, half ihr nicht. Ihr Verlobter entschuldigte sich. Sie blieb bei ihm.
Schließlich hatte ja alles so schön angefangen: 2013 lernte Kira ihn kennen, im selben Jahr, an Heiligabend, machte er ihr einen Heiratsantrag. Nach dem ersten Urlaub war sie schwanger. "Wir haben uns super verstanden und alles zusammen gemacht." Dann fingen erste Streitigkeiten an. Er wurde eifersüchtig, wenn sie nicht pünktlich nach Hause kam, weil sie eine S-Bahn verpasste. Als sie im Kino ein ehemaliger Klassenkamerad ansprach, rastete er aus. Kurze Zeit später dann die Schläge. Nachts ließ er sie nicht schlafen. Wenn sie sich mit einer Freundin traf, rief er 20 Mal an.
Er schlug sie zusammen, dann ging er mit ins Krankenhaus - damit sie still hielt
"Vier Wochen vor der Geburt unseres Sohnes hat er mich dann so zusammengeschlagen, dass ich nicht wusste, wo oben und unten ist." Sie kam ins Krankenhaus. Er begleitete sie, damit sie still hielt. Er drohte, sie umzubringen. Als das Kind da war, ging es weiter. Er verprügelte sie sogar, wenn sie ihren Sohn stillte. Einmal zog er sie mitten in der Nacht an den Haaren aus dem Bett und schlug zu. "Drei Tage später bin ich gegangen."
Hier finden Opfer häuslicher Gewalt Hilfe
Für Opfer häuslicher Gewalt gibt es ein engmaschiges Netz von Hilfsangeboten – vom Notruftelefon über Zufluchtsorte bis zur Unterstützung speziell für Kinder. Hier die wichtigsten Angebote im Überblick.
Polizei: Im Notfall sollten Opfer oder Beobachter von häuslicher Gewalt die 110 wählen, rät die Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes. Die Polizei kann Täter zum Beispiel aus der Wohnung verweisen oder in Gewahrsam nehmen und Schutzmaßnahmen für das Opfer anordnen. An jeder Polizeidienststelle gibt es einen Schwerpunktsachbearbeiter für häusliche Gewalt. Allerdings sind die Beamten dem Legalitätsprinzip verpflichtet, sie müssen Gewalttaten zur Anzeige bringen. Für den Fall, dass die Frau keine Anzeige erstatten möchte, verweisen die Beamten auf Beratungsstellen mit Schweigepflicht.
Hilfetelefon: Telefonische Hilfe für Betroffene gibt es rund um die Uhr, kostenlos und vertraulich beim bundesweiten Hilfetelefon unter der Rufnummer 08000 116 016. Verantwortlich dafür ist das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, die Beraterinnen beherrschen insgesamt 17 Sprachen. Die Experten beraten auch unter www.hilfetelefon.de. Speziell für Kinder gibt es die Nummer gegen Kummer: 0800/1110333.
Frauenhäuser: Hilfe und Zuflucht finden Opfer von häuslicher Gewalt auch bei Ehe- und Familienberatungsstellen, bei Rechtsberatungsstellen, Opferhilfeorganisationen oder in den 40 Frauenhäusern. In Schwaben gibt es sechs davon, in Augsburg (Tel. 0821/650874010), Kaufbeuren (08341/ 16616), Kempten (0831/18018), Memmingen (08331/4644), Neu-Ulm (0731/40988690) und Donauwörth (0906/242300). Allerdings sind viele Frauenhäuser überbelegt.
Weitere Informationen: Auf der Webseite www.frauen-gegen-gewalt.de gibt es eine Suchmaschine für lokale Hilfsangebote. Weitere Informationen erteilt das bayerische Familienministerium auf seiner Website. dpa/sok
Die Polizistin Dagmar Bethke hat viele solcher Geschichten gehört. Sie weiß, wie die Gewalt sich einschleicht in das, was eigentlich Liebe sein soll, wie aus Eifersucht plötzliches dominantes Verhalten wird, verbunden mit Kontrolle. Wenn Frauen plötzlich Rechenschaft ablegen müssen, wann sie wo sind, wofür sie ihr Geld ausgeben, mit wem sie sich treffen. Wenn der Partner plötzlich Dinge verbietet, die Frau überwacht – und dann auch noch Schläge austeilt. In vielen Fällen, sagt Bethke, offenbaren sich die Frauen nicht. Sie schämen sich, haben Angst, dass er ihnen noch mehr antut. "Frauen sind die absoluten Weltmeister im Vertuschen", sagt Bethke. Manche schaffen es, sich direkt nach dem ersten Vorfall zu trennen. Im Schnitt aber brauchen Opfer sieben Jahre, bis sie ihren Peiniger verlassen.
Ursula Geiger-Gronau arbeitet seit 2008 als Sozialpädagogin für die Münchner Frauenhilfe. "Die häusliche Gewalt hat eine ganz eigene Dynamik", sagt sie. "Es gibt ja immer wieder auch Zeiten, die gut sind." Oft sei der Verlauf wie im Lehrbuch: Es kommt zum Streit, zu ersten Handgreiflichkeiten, danach zu einer Phase des Entsetzens, zur Reue. Es folgt eine Zeit, in der sich beide viel Mühe geben. Beim nächsten Konflikt aber eskaliert die Gewalt wieder. Und so schaukelt sich das über Jahre hoch. Oft werden die Schläge schwerwiegender – oder häufiger. Die große Tragik: Mit der Zeit verliert die Frau immer mehr an Selbstbewusstsein, wird zusätzlich von Freunden und der Familie isoliert. Oder sie zieht sich selbst zurück, weil sie sich schämt. "Wenn er dich Miststück nennt und das Letzte, dann fühlst du dich irgendwann auch so", sagt Kira.
Viele Gewalttäter sind selbst als Kinder geschlagen worden
Andreas Schmiedel, Sozialpädagoge im Münchner Informationszentrum für Männer (MIM), erklärt die Gemütslage vieler Täter so: "Bei denen staut sich etwas auf, und das kann sich in Gewalt entladen. Oder sie haben grundsätzlich dieses Gefühl von Unterlegenheit. In einer gleichberechtigten Paarbeziehung erleben sie sich als unterlegen und wollen dieses Gefühl durch Gewalt korrigieren."
Schmiedel sagt: "Wenn bei häuslicher Gewalt nicht interveniert wird, bleibt sie im günstigsten Fall auf dem gleichen Niveau. Aber in aller Regel eskaliert es." Viele Täter hätten schon in ihrer Kindheit und Jugend "Gewalt als Standardmittel erfahren und als grundsätzliche Möglichkeit, Probleme zu lösen". Viele seien auch selbst Opfer geworden. Aber: "Das ist keine Entschuldigung." Denn jeder ist selbst verantwortlich für sein Verhalten.
Kira hat den Ausweg geschafft, ist geschieden und zieht ihren Sohn allein groß. Sie ist dabei, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Ihr Ex-Mann wurde für das, was er ihr angetan hat, verurteilt. Kira sagt: "Man wünscht sich die ganze Zeit, dass alles wieder schön und gut wird. Aber nichts wird wieder schön und gut. Solche Menschen ändern sich nie." mit dpa