Eigentlich gibt es eine ganz klare Regelung, der Deutschland zugestimmt hat: Auf 10.000 Einwohner sollte ein Platz in einem Frauenhaus kommen. So steht es in der Istanbul Konvention. Einem Vertrag, der regelt, wie Frauen und Mädchen vor Gewalt geschützt werden sollen und der in Deutschland geltendes Recht ist. Für den Regierungsbezirk Schwaben mit seinen 1.899.442 Einwohnern hieße das, es müsste 190 Frauenhausplätze geben. Eine Empfehlung des Europarats geht sogar noch weiter. Dort heißt es, dass pro 7500 Einwohner ein Platz im Frauenhaus vorhanden sein sollte. Macht für Schwaben 253 Plätze. Doch in Schwaben gibt es keine 190 oder 253 Frauenhausplätze, sondern etwas über 50. In manchen Landkreisen gibt es gar keine Frauenhäuser. Heißt das, Schwaben ist unterversorgt?
Insgesamt gibt es in der Region sechs Frauenhäuser - jeweils eines in Augsburg, Donauwörth, Neu-Ulm, Memmingen, Kempten und Kaufbeuren. Unter anderem in den Landkreisen Aichach-Friedberg, Augsburg, Landsberg, Dillingen und Günzburg gibt es keine Frauenhäuser. Stattdessen kooperieren diese Kreise mit Einrichtungen in der Nähe.
Alle Frauenhäuser in Schwaben müssten eigentlich sehr viel mehr Plätze haben
Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind meistens voll - und vergleicht man die Plätze, die sie laut Istanbul Konvention haben müssten, mit denen, die es tatsächlich gibt, sind es viel zu wenige. Ein Beispiel. Für die Kreise Augsburg, Aichach-Friedberg und Landsberg und die Stadt Augsburg ist das Frauenhaus Augsburg zuständig. Es hat 21 Plätze für Frauen und genauso viele für Kinder. Gerade wird es erweitert. Neun Plätze kommen hinzu. Nach dem Schlüssel in der Istanbul Konvention müssten es 80 Plätze sein. Birgit Gaile, Leiterin des Frauenhauses, berichtet, dass sie 2020 etwa 150 Frauen, die bei ihnen Schutz suchen wollten, hätten abweisen müssen. Das Frauenhaus sei zu 96 Prozent ausgelastet gewesen.
In den anderen Frauenhäusern in der Region ist es ähnlich: Marion Stockner-Stengele und Elisabeth Egg vom Frauenhaus in Memmingen sagen etwa, dass ihre Einrichtung im vergangenen Jahr im Schnitt zu 91 Prozent ausgelastet gewesen sei. Oder anders gesagt: meistens voll. Sie erzählen ebenfalls, dass es immer wieder vorkomme, dass sie Frauen deshalb nicht aufnehmen können. "Dann unterstützen wir sie aber auf der Suche nach einem Frauenhausplatz. Aufgrund unserer guten Kooperation mit anderen Häusern, ist dies auch meistens sehr gut möglich", sagt Elisabeth Egg. Über ein Datensystem können alle Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern einsehen, wo in Bayern noch Plätze frei sind. Wartelisten können sie nicht erstellen, denn eigentlich darf es keine Wartelisten geben. Wer Schutz sucht, dem muss - theoretisch - sofort geholfen werden.
Sind Frauen auf dem Land schlechter vor häuslicher Gewalt geschützt?
Aus den anderen Frauenhäusern gibt es ähnliche Reaktionen: Frauen, die Hilfe bräuchten, kämen meist auch unter, so der Tenor. Im Frauenhaus in Neu-Ulm lag die Auslastung im vergangenen Jahr zwischen 39 und 86 Prozent, sagt die Leiterin Bettina Marhun. Im Frauenhaus in Donauwörth lag sie 2019 dagegen bei 106 Prozent - deutlich höher als in den Jahren zuvor. Was vor allem daran lag, dass mehr Kinder aufgenommen wurden. Und dennoch kann man in Bayern zumindest theoretisch nicht von einer Unterversorgung sprechen, weil ja jeder Landkreis einem Frauenhaus zugeordnet ist.
Die hohe Auslastung der Frauenhäuser birgt ein Problem: Eigentlich sollen sie Zuflucht bieten. Frauen und ihre Kinder vor einem gewaltsamen Partner und Vater schützen. Deshalb ist es meist geheim, wo genau die Schutzwohnungen liegen, damit die Männer die Frauen nicht finden können. In der Einrichtung selbst können die Frauen nicht nur wohnen, sie werden auch betreut von Sozialpädagogen zum Beispiel oder Psychologen oder Juristen. Sie helfen den Frauen sich von der gewaltsamen Partnerschaft zu lösen. Ein eigenes Leben anzufangen.
Die Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser in der Region klagen nicht über fehlende Plätze, obwohl die Zahlen vom vorgegebenen Schlüssel abweichen. Und doch erzählen sie fast alle, dass es im ländlichen Raum schwieriger ist, Frauen vor Gewalt zu schützen. "Bis eine Frau vom Land zu uns kommt, muss schon viel passieren", sagt etwa Ursula Kneißl-Eder. Sie arbeitet seit den 90er Jahren für das Frauenhaus Nordschwaben und stellt immer wieder fest, dass Frauen, die auf dem Land leben, sehr viel ertragen, bevor sie gehen.
Ähnliches berichtet auch Amelia Ulbrich vom Frauenhaus in Kempten. Sie vermutet, dass dahinter eine Angst steckt, das Ansehen zu verlieren, die auf dem Land immer noch ausgeprägter sei als in Städten. In Städten - auch in kleineren und mittelgroßen - sei das Leben anonymer, was es für manche Frauen leichter mache, einem gewalttätigen Partner zu entkommen.
Neben dem sozialen Druck gibt es ganz praktische Probleme, die es schwerer machen, Frauen auf dem Land zu helfen: die Verkehrsanbindung zum Beispiel. "Es gibt ja durchaus noch Dörfer, da fährt nur morgens und abends ein Bus. Von dort kommt eine Frau schwerer zu uns", sagt Elisabeth Egg aus Memmingen. Das erschwert es den Frauen persönlich eine Beratung aufzusuchen. Aber auch die Flucht in eine Schutzunterkunft ist aufwändiger. Amelia Ulbrich vom Frauenhaus in Kempten berichtet von einer weiteren Hürde: "Wir sind auch für den Landkreis Oberallgäu zuständig, aber dort viel weniger bekannt als im Kempten", sagt sie. Zwar gebe es immer wieder Aktionen, mit denen das Frauenhaus auf sich aufmerksam machen will, auch die Zusammenarbeit mit der Polizei und Krankenhäusern klappe gut. Dennoch glaubt Ulbrich, dass das ein Grund sei, warum weniger Frauen aus dem Kreis Hilfe im Frauenhaus suchten.
Im Kreis Aichach-Friedberg gab es immer wieder Diskussionen über ein eigenes Frauenhaus
Und dann gibt es noch ein drittes, drängendes Problem, das alle Mitarbeiterinnen - egal ob auf dem Land oder in der Stadt - umtreibt: der fehlende, bezahlbare Wohnraum. Der macht es für Frauen und ihre Kinder, schwierig aus den Schutzwohnungen auszuziehen, wenn sie so weit sind. Also bleiben die Wohnungen belegt und andere Frauen, die Hilfe bräuchten, können keine bekommen.
Bleibt die Frage, ob die Landkreise, die bisher keine Frauenhäuser haben, nicht doch noch welche errichten sollten. Peter Hurler, Pressesprecher des Landkreises Dillingen sagt dazu: Es gäbe einen bayernweiten Plan über die Verteilung von Frauenhäusern, der es kleineren Kreisen erlaube, sich zusammenzuschießen, "da beim Betrieb eines Frauenhauses unabhängig von der Auslastung gewisse Grund- und Personalkosten vorgehalten werden müssen." Der Sprecher des Landratsamtes Aichach-Friedberg, Wolfgang Müller, sagt dagegen, es habe immer wieder Diskussionen gegeben, ob der Landkreis nicht ein eigenes Frauenhaus haben sollte. Es gebe aber Gründe, die dafür sprechen, das Frauenhaus in Augsburg zu unterstützen: "Die betroffenen Frauen und Kinder profitieren von der räumlichen Trennung und davon in einer größeren Stadt ,untertauchen‘ zu können", sagt er. Die Distanz schütze die Frauen und Kinder physisch vor den Tätern und sie schütze "vor der Stigmatisierung durch andere." Vom Landkreis Günzburg kam keine Reaktion auf die Anfrage.
Hier bekommen von Gewalt Betroffene Hilfe:
Bundesweites Hilfstelefon Gewalt gegen Frauen: 08000116016
Hilfetelefon Gewalt an Männern: 08001239900
Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 116111
Lesen Sie dazu auch:
- Diese Statistiken zu häuslicher Gewalt in Deutschland sollten Sie kennen
- Kerstin W. berät Betroffene: "Nicht das Opfer ist Schuld an der Gewalt - sondern der Täter"
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.