Die Hafträume waren spartanisch eingerichtet im zweistöckigen Ostflügel des Nürnberger Zellengefängnisses. Links vom Eingang eine Pritsche. Vorne rechts, in einer kleinen Nische die Toilette. Sie war so platziert, dass die Füße der Gefangenen von außen immer sichtbar blieben. Davor ein Tisch, der wackelte, wackeln musste. Es sollte sofort hörbar sein, wenn ein Gefangener darauf stieg – vielleicht in der Absicht, sich in der Zelle zu erhängen. Das durfte unter keinen Umständen mehr geschehen nach jenem Zwischenfall am 25. Oktober 1945. An diesem Tag hatte sich Robert Ley stranguliert – auf der Toilette sitzend. Als Strang dienten dem früheren Reichsleiter der NSDAP Gewebestreifen seiner Unterwäsche, die er zuvor unbemerkt unter dem Bettlaken zerrissen hatte. Ley hatte sich knapp einen Monat vor dem Beginn des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher der irdischen Gerichtsbarkeit entzogen.
21 der 24 angeklagten Personen waren im Erdgeschoss des Gefängnisflügels untergebracht; auf der rechten Seite nach Wachraum, Büro, Waffenkammer und Gepäckraum hintereinander Rudolf Hess, Hermann Göring, Alfred Jodl, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, ehe eine unbesetzte Zelle kam. Ein schmutziges graues Weiß zierte die Wände. 9,5 Quadratmeter Nachkriegsdeutschland. Die Herren waren im „tausendjährigen Reich“ Besseres gewöhnt. Nun aber ging es für die Nazigrößen, die in einem eigens gebauten, hölzernen Gang vom naheliegenden Gefängnis in den Justizpalast geführt wurden, um alles. Es ging um ihr Leben.
Drei der unmittelbar Beteiligten an diesem ersten von insgesamt 13 Verfahren sind noch einmal zurückgekommen nach Nürnberg. Am Freitagabend, dem 70. Jahrestag des Prozessbeginns, nahmen sie in jenem berühmt gewordenen Schwurgerichtssaal 600 Platz. Erstmals in der Rechtsgeschichte wurden dort die Vertreter eines verbrecherischen Regimes von einem eigens geschaffenen internationalen Militärgerichtshof der alliierten Siegermächte (USA, Großbritannien, Sowjetunion, Frankreich) zur Rechenschaft gezogen. Es war die Geburtsstunde des Völkerstrafrechts.
Zeitzeugen berichten nach 70 Jahren über Nürnberger Prozesse
In seiner Eröffnungsrede wappnete sich der amerikanische Hauptankläger Robert H. Jackson vorausschauend gegen den Vorwurf einer „Siegerjustiz“. „Ankläger und Angeklagte sind in einer sichtlich ungleichen Lage zueinander. Das könnte unsere Arbeit herabsetzen, wenn wir nicht bereit wären, selbst in unbedeutenden Dingen gerecht und gemäßigt zu sein. Leider bedingt die Art der hier verhandelten Verbrechen, dass in Anklage und Urteil siegreiche Nationen über geschlagene Feinde zu Gericht sitzen. (...) Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess einmal der Nachwelt als Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge.“
Der heute 90-jährige Moritz Fuchs war 18 Monate lang so eng wie kein anderer mit dem Chefankläger verbunden. Als Leibwächter fuhr er Jackson sechs Mal in der Woche vom Wohnort in Fürth-Dambach zum Justizpalast und nach getaner Arbeit wieder zurück – „immer wieder auf unterschiedlichen Wegen“. Jackson, Richter am Obersten Gerichtshof der USA, war der eigentliche Organisator des Kriegsverbrecherprozesses. Und er war schweigsam. Während der Fahrten und auch in der Wohnung erfuhr Fuchs bei keiner Gelegenheit, was Jackson dachte, fühlte, was ihn bewegte. „Was ich sehr wohl mitbekam, war sein Fleiß.“
Der Ankläger arbeitete auch zu Hause oft bis lange in die Nacht hinein. Fuchs, der nach der Rückkehr in die USA katholischer Priester wurde und heute in Fulton im Bundesstaat New York wohnt, beschäftigte sich damals mit profanen Dingen. Ihm gefiel vor allem das Auto, das von Ribbentrop abgenommen worden war und in dem er nun Jackson chauffierte: „Ein Mercedes mit 16 Zylindern“, sagt der Geistliche und hebt dabei die Stimme, die ein verbales Kopfschütteln über so viel Luxus ausdrückt.
Yves Beigbeder hatte seinen Einsatz in Nürnberg einer verwandtschaftlichen Beziehung zu verdanken. Denn der 91-Jährige, der am Genfer See in Frankreich lebt, war Neffe einer der beiden französischen Richter. Jede der vier Nationen war mit zwei Richtern vertreten. Der damals 21 Jahre alte Beigbeder hatte kaum juristische Erfahrung und wollte in seiner Heimat „eigentlich ein Pfadfinderlager vorbereiten“. Doch dem Wunsch des Onkels, sein Assistent zu werden, kam er nach. Er war unter anderem damit betraut, Zusammenfassungen der Verhöre der Angeklagten zu erstellen. Nach dem Prozess und dem Studium in den USA war er später für die Vereinten Nationen tätig und schrieb Bücher über Kriegsverbrechen. Kann man dem Teufel in Menschengestalt begegnen? George Sakheim sagt, ihm sei das widerfahren. Vor gut 70 Jahren übersetzte der gebürtige Hamburger in einem Vernehmungszimmer, was ein Zeuge bei seiner Befragung zu Protokoll gab. Es war nicht irgendein Zeuge. Es war Rudolf Höß – von Mai 1940 bis November 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz.
Höß schilderte technokratisch den Massenmord an den Juden im Vernichtungslager und bezifferte, wie viele Menschen täglich fabrikmäßig vergast werden konnten. Sakheim wurde übel bei dem insgesamt vierstündigen Dolmetschen am 1. April 1946. Einen Tag später schrieb er an seine Tante in den USA, um sich von dem Ekel zu befreien, der ihn überkommen hatte. „Er war ein menschliches Biest“, sagt Sakheim im Rückblick. Höß war als Zeuge der Verteidigung geladen. Seine Aussagen, die er bereits zuvor außerhalb des Gerichtssaals gemacht hatte, aber belasteten später im Prozess – gewollt oder nicht – neben vielen beigebrachten Dokumenten und persönlich unterzeichneten Befehlen die meisten der Angeklagten. Die Nationalsozialisten waren mit ihren Aufzeichnungen zu gründlich gewesen, als dass sie alle Akten hätten vernichten können.
Die Angeklagten hofften auf ein mildes Urteil
In der Regel zeigten sich die Angeklagten zugänglich und aussagefreudig. Mit solcher Kooperation war aus Sicht der Nazi-Schergen die Hoffnung auf ein mildes Urteil verbunden – oder darauf, erst gar nicht angeklagt zu werden. KZ-Kommandant Höß ahnte damals nicht, dass er später nach Polen ausgeliefert und dort abgeurteilt werden sollte. Er wurde am 16. April 1947 vor seiner Residenz in Auschwitz erhängt – mit Blick auf das Lager.
Heute kann der 92-jährige Sakheim von seinem damaligen Entsetzen darüber, zu was Menschen fähig sind, von seiner Wut und seinem Hass auf Höß berichten, ohne dass eine verheilte seelische Wunde wieder aufreißt. „Ich erzähle über mich wie von einer Person, die neben mir steht. Damals habe ich oft von dieser Situation geträumt“, sagt der promovierte Psychologe zu 15-jährigen Schülern eines Nürnberger Gymnasiums in einem Zeitzeugengespräch einen Tag vor der Gedenkveranstaltung „70 Jahre Nürnberger Prozess“.
Ehefrau Ilse berichtet zunächst über ihre Kindheit in einer Stadt in Oberschlesien und darüber, wie die jüdische Bevölkerung systematisch schikaniert wurde. Ehemann George fährt fort mit dem, was er in Nürnberg erlebt hat und beschreibt die zerstörte Stadt, den Gestank der Leichen, die noch unter Trümmern lagen, Menschen, die nichts zu essen hatten, während er zunächst im Grand Hotel wohnte. Später wurde er dort ausquartiert, weil bedeutendere Persönlichkeiten in die Stadt der Reichsparteitage kamen, denen die jungen Simultandolmetscher Platz machen mussten.
Als er gefragt wird, ob er die Todesstrafe für die Angeklagten für angemessen hält, bejaht er das. „Deutschland kann froh sein, solche Leute losgeworden zu sein.“ Gestern sind die Sakheims nach Philadelphia zurückgeflogen. Dort leben sie in der Nähe der Stadt in einer Quäker-Seniorengemeinde. Während der einstige Jackson-Leibwächter Fuchs nach dem Nürnberger Prozess auf der Suche nach Gerechtigkeit seinen Weg zu Gott gefunden hat, glaubt Sakheim schon lange nicht mehr an ihn.
Der vergangene Freitag, an dem sich der Beginn des Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozesses zum 70. Mal jährte, war ein emotionaler Tag für die hochbetagten Zeitzeugen. Sie wollten trotz der strapaziösen Anreise die Einladung nach Nürnberg nicht ausschlagen, um über ihre Rolle in dem wohl berühmtesten Prozess der Welt zu sprechen. Für Zuhörer Niklas Frank war es ein „Tag der Genugtuung“. Links von ihm, drei oder vier Meter von dem Sitzplatz des 76-Jährigen entfernt, saß einst Hans Frank auf der Anklagebank. Der „Judenschlächter von Krakau“ wurde in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1946 erhängt. Sohn Niklas hat schon lange mit seinem Vater gebrochen. „Was wäre das für eine Freude, wenn er dem hier von der Hölle aus zusehen könnte“, sagt er.