In Sekunden ist alles vorbei. Hört oder sieht man ihn, ist es oft zu spät. Bremsen kann er so schnell nicht mehr. Jede Hilfe kommt zu spät. Wer den nur wenige Minuten dauernden Film der Bundespolizei sieht, der die tödliche Gefahr von Zügen zeigt, bekommt Gänsehaut. Doch der neue Film ist nötig. Denn die Fotografierfreude junger Leute auf Bahngleisen ist längst eine tödliche Gefahr.
Die Ästhetik der Gleise ist den Jugendlichen wichtiger als ihr Leben
Jugendliche springen auf Bahngleise, nur um sich selbst zu fotografieren. Immer öfter. Auch, wenn jederzeit ein Zug angerast kommen kann. Am Würzburger Bahnhof waren es vergangene Woche zwei 17-Jährige, am Augsburger Bahnhof vor ein paar Tagen eine 14-Jährige. Es ist ein Phänomen, das sich nach Angaben der Bundespolizei längst auf einem beunruhigenden Niveau befindet. Schließlich besteht höchste Lebensgefahr. Die Bundespolizei schickt daher Präventionsexperten in Schulen, um aufzuklären, aufzurütteln.
Polizeihauptkommissar Klemens Großkopf-Klopf ist einer von ihnen. Seiner Erfahrung nach sind die riskanten Selfiefotografen vor allem 13, 14, 15 Jahre alt. „Und es sind vor allem Mädchen.“ Sie finden Gleise als Hintergrund schick. Schließlich laufen Schienen stets parallel, können also als Symbol für ein ewiges Nebeneinander und somit für Freundschaft, für Liebe gesehen werden.
Richtige Strafen gibt es für Selfies auf den Zuggleisen noch nicht
„Wie gefährlich diese Kulisse ist, dass Züge immer leiser werden, nicht so schnell bremsen können, wissen viele Jugendliche wirklich nicht“, sagt Großkopf-Klopf. „Deshalb ist Aufklärung so wichtig.“ Nichts hält er aber davon, den Jugendlichen Fotos von abgetrennten Armen, von Hirnschäden, von Toten zu zeigen. Er erzählt viel lieber Geschichten, die er jüngst erlebt hat, und kommt so mit den jungen Leuten wirklich ins Gespräch, erfährt ihre Motive, ihre Wünsche und ihre Wissenslücken. Was Großkopf-Klopf ärgert: Dass die Strafen für Selfies auf Gleisen nicht hoch sind, solange sie nicht wirklich einen sogenannten „gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr“ darstellen, was erst der Fall ist, wenn beispielsweise ein Zug eine Notbremsung machen muss.
Selfie auf Gleisen: Auf der Suche nach dem Foto mit den meisten Likes
Doch nicht immer steckt hinter Selfies am Bahngleis nur die Suche nach einem möglichst symbolträchtigen Hintergrund. „Oft sind es auch Mutproben“, sagt Großkopf-Klopf. So sieht es auch Marc Urlen. Das Bedürfnis nach Mutproben ist im Jugendalter einfach vorhanden, sagt der Medienwissenschaftler, der beim Deutschen Jugendinstitut in München arbeitet. „Je riskanter, je größer die Gefahr, desto besser, desto cooler.“ Denn viele junge Leute suchten vor allem eines: das Foto von sich, das die höchste Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken garantiert. Und ein Bild, auf dem im Hintergrund ein Zug heranrast, gehöre für viele einfach in diese Kategorie.
Urlen spricht von einer „pathologischen Entwicklung“, die aber gut zu erklären ist: Kinder und Jugendliche können oft ihr Verhalten noch nicht reflektieren. Sie sehen nur eins: Dieses Bild bekommt die meisten Klicks. „Ein direktes Feedback also. Für Jugendliche, die nun einmal Anerkennung suchen und brauchen, ein erfolgreicher Weg“, erklärt Urlen und ergänzt: „Je weniger Anerkennung sie in ihrem realen Leben erhalten, desto intensiver streben sie Likes in virtuellen Welten an.“
Keine Ausbildung - Viele wollen Influencer werden
Der Jugendexperte ist überzeugt davon, dass mit Warnungen und Verboten wenig auszurichten ist. Im Gegenteil. Je ausführlicher auf die tödlichen Gefahren von Selfies auf Gleisen hingewiesen werde, umso herausfordernder und spannender wird es seiner Ansicht nach für Kinder und Jugendliche, diese Situation zu bewältigen. Hinzu komme, dass viele Heranwachsende glauben, dass sie möglichst früh in den angesagten Netzwerken bekannt werden und „Follower“ sammeln müssen, um privat und beruflich richtig durchstarten zu können.
Herkömmliche Ausbildungen und Berufe sind seiner Einschätzung nach für einige Schüler nicht mehr erstrebenswert – besonders, wenn sie in diesen Bereichen wenig Chancen haben. Influencer, E-Sportler – das sind Tätigkeiten, die heute oft angestrebt werden. Dass nur eine verschwindende Minderheit etwa als Influencer wirklich Geld verdient, wüssten viele gar nicht. Daher gibt es für den 49-Jährigen nur einen Weg, um diese Gefahren zu bekämpfen: Medienkompetenz. Doch bei der medialen Ausbildung von Pädagogen und beim Angebot von Medienkompetenz hänge man gewaltig hinterher.
Social-Media-User brauchen die Fähigkeit zu reflektieren
Urlen hält nichts davon, Kindern so lange wie möglich den Umgang mit Smartphones zu erschweren oder gar zu verweigern. Dies steigere nur die Faszination. Daher rät er dazu, Kinder und Jugendliche ohne erhobenen Zeigefinger so früh wie möglich umfangreich aufzuklären. Viele wissen etwa nicht, was für eine Geldmaschinerie im Internet läuft, wie sehr ihre Daten ausgenutzt werden.
Stärker denn je ist für Urlen wichtig, dass Kinder lernen, sich und ihr Verhalten im Netz zu reflektieren und richtig einzuordnen. Sie sollten einen verantwortungsbewussten, aber auch kreativen Umgang mit Smartphones lernen. So schlägt er etwa vor, in der Schule gemeinsam Videos zu produzieren, wo Themen wie Freundschaft, Liebe, die Eltern, die Schule verarbeitet werden. „Es geht darum, mit dem Smartphone beglückende Erfahrungen zu sammeln.“ Und den Trend Selfies auf Gleisen würde er in lockeren Gesprächsrunden immer wieder diskutieren.