Kopfschüttelnd läuft Stefan Haas an Dutzenden seiner Zöglinge vorbei, die wie an einer Schnur aufgereiht nebeneinanderstehen. „Kaputt. Kaputt. Kaputt“, murmelt der 53-Jährige. Der Schlamm unter seinen Schuhen schmatzt bei jedem Schritt. „Alles kaputt“, sagt Haas noch einmal, zieht den Kragen seiner Jacke weiter nach oben und wirft eine Handvoll brauner Blüten auf den Boden, der von Schnee und Regen durchnässt ist. In seiner Stimme schwingt Resignation mit.
Stefan Haas ist Apfelbauer an der bayerischen Seite des Bodensees. Die Wetterkapriolen der vergangenen Wochen haben seinen Bäumen mächtig zu schaffen gemacht. Und nicht nur ihm: Den Landwirten in der Region, die für Obstanbau berühmt ist, drohen Ernteausfälle in ungeahnten Höhen. „Auf manchen Feldern sind bis zu 90 Prozent der Blüten erfroren. Das ist eine Katastrophe. So einen Schaden habe ich noch nicht erlebt“, verdeutlicht Martin Nüberlin, Sprecher der Lindauer Obstbauern, das Ausmaß. Und er ist bereits seit Ende der 70er Jahre im Geschäft.
Auf Wärme im März folgt der Wintereinbruch
Dabei ist der Wintereinbruch in den vergangenen Tagen nur die eine Hälfte des Problems. Die andere war der ungewöhnlich warme März, als mehrere Tage lang Temperaturen über 20 Grad den Frühling verkündeten – und die Pflanzenwelt zu einer folgenschweren Reaktion verführten. „Die Bäume haben im März wie wild zu treiben begonnen“, erklärt Obstbauer Haas. Innerhalb kürzester Zeit schossen an seinen Kirsch- und Apfelbäumen die Knospen in die Höhe, gingen nach und nach auf und verwandelten seine 40 Hektar in eine wahre Blütenpracht. Normalerweise passiert das rund um den 1. Mai. Dieses Jahr war es Anfang, Mitte April.
In der Woche nach Ostern dann meldeten sich Schnee und Temperaturen bis zu sieben Grad minus an. „Die Nächte zwischen Mittwoch und Freitag waren die schlimmsten“, sagt Haas. Wie viele seiner Kollegen war er machtlos gegen die Kälte. Weil Folien oder Hagelnetze über den Bäumen keinen ausreichenden Wärmeschutz gegen derartige Minusgrade bieten, wie Studien gezeigt haben. In Südtirol beregnen Sprenkleranlagen die Bäume und vereisen die Knospen vorsorglich, um sie vor noch größerer Kälte zu schützen. Aber am Bodensee fehlen dafür unter anderem die notwendigen Leitungen.
Beim Blick auf die Schäden der eisigen Nächte zuckt Haas nur mit den Schultern. Statt prächtiger weiß-rosa Blüten hängen nur noch traurige, gelb-braune Reste an den Bäumen. Besonders bitter: Vor allem die ersten und größten Blüten, die Königsblüten, hat es erwischt. In der Regel entstehen daraus die schönsten Äpfel, die, für die die Bodenseeregion so bekannt ist.
Was wird aus der diesjährigen Apfel-Ernte?
Bis zu 3000 Tonnen Äpfel und Birnen „produzieren“ allein die rund 100 Obstbauern am bayerischen Ufer des größten Sees in Deutschland – in einem guten Jahr, wohlgemerkt. Wie viele Tonnen es dieses Jahr werden, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer vorhersagen. Vereinzelt sind noch gesunde Blüten an den Bäumen zu finden. Möglicherweise haben sie den Frostschock überlebt, möglicherweise werden aus ihnen Äpfel, die im August und September geerntet werden können. „Ob die dann eine Qualität haben, die wir gut verkaufen können oder ob nur Mostäpfel rauskommen, wird sich zeigen“, sagt Stefan Haas, als er die leeren Lagerhallen auf seinem Hof in Kressbronn durchquert, direkt an der Grenze zwischen Bayern und Baden-Württemberg.
Hunderte der grünen Plastikkisten, die im Herbst in der Regel mit zigtausenden Äpfeln gefüllt werden, sind dort gestapelt. Insgesamt hat Haas Platz für 1800 Tonnen Kernobst. „Wenn ich dieses Jahr 400 Tonnen zusammenbekomme, muss ich schon zufrieden sein“, sagt er und rechnet im Kopf aus, wie groß die Verluste sein dürften. Es sei in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden, mit Obst Geld zu verdienen. Mindestlohn, Russland-Embargo, immer mehr Vorschriften zum Pflanzenschutz, sinkende Preise – Haas kann einige Punkte aufzählen, die ihm die Rechnung vermiesten. Vor zwei Jahren machte er nach eigenen Angaben ein Minus von 100000 Euro. 2016 sei ein sehr gutes Jahr gewesen, in dem er den Verlust wieder reinholte. Doch 2017 werde aller Voraussicht nach wieder ein riesiges Loch in die Kasse reißen. Schon jetzt versucht Haas, an möglichst vielen Stellen Geld zu sparen.
Den sechs bis acht Erntehelfern aus Polen, die er normalerweise zur Kirschernte anstellt und auf seinem Hof wohnen lässt, hat er bereits abgesagt. Dieses Jahr müsse die Familie ran, seine Frau, Tochter, zwei Söhne. „Irgendwie müssen wir das schaffen“, sagt Haas. Für die Apfelernte im Spätsommer will er dann noch eine Handvoll Helfer einstellen – in normalen Jahren sind es 20.
Immer mehr Obstbauern geben ihr Geschäft auf
So wie Haas geht es in diesen Tagen vielen seiner Kollegen. Alle klagen sie über massive Schäden an Kirsch-, Apfel- und Birnbäumen. Viele stellen sich die Existenzfrage. Rund um Lindau, Kressbronn und Wasserburg gaben in den letzten Jahren zahlreiche Obstbauern ihr Geschäft auf, verabschiedeten sich ohne Nachfolger in den Ruhestand, konzentrierten sich auf das Geschäft mit Ferienwohnungen oder orientierten sich ganz neu. „Für viele lohnt sich das Geschäft mit den Äpfeln einfach nicht mehr“, sagt Haas.
Winzer Josef Gierer kann das nur bestätigen. Er wohnt wenige Kilometer von Apfelbauer Haas entfernt in Nonnenhorn und hat dort vor 15 Jahren den Betrieb seines Vaters übernommen. Früher baute seine Familie neben Weintrauben auch Obst an – vor fünf Jahren zog Gierer schließlich einen Schlussstrich und konzentriert sich seither ausschließlich auf Wein. Da sei er weniger von äußeren Einflüssen wie schwankenden Marktpreisen abhängig und habe den kompletten Prozess von Anbau über Gärung, Lagerung und Abfüllung bis zum Verkauf in der eigenen Hand.
Das Wetter hat jedoch auch er nicht im Griff. Auch ihn hat der Aprilfrost eiskalt erwischt. „Das Schadensbild ist sehr unterschiedlich. An manchen Stellen ist ein Drittel der Triebe kaputt, an anderen sind es 80 Prozent“, erzählt Gierer, der zugleich Sprecher der rund 20 Weinbauern im Kreis Lindau ist. Auf rund 60 Hektar bauen diese jedes Jahr Trauben für rund 600000 Flaschen Wein an. Zu laut jammern will Gierer beim Gespräch in seiner vor fünf Jahren gebauten Vinothek, einem modern gestalteten Verkaufsraum, aber nicht. Weil er als Winzer ein schlechtes Jahr mit dem eingelagerten Wein aus den Vorjahren leichter überbrücken kann. Und weil die Winzer in der Vergangenheit vom Wetter „verwöhnt“ worden seien.
Die Weinbauern haben trotz Frostschäden noch Hoffnung
Und doch, sagt Gierer, seien die Schäden in diesem Jahr erheblich. Auch wenn sich das kalte Wetter bereits einige Tage vorher angekündigt hatte, konnten sich die Weinbauern kaum mehr davor schützen. Einige seiner Kollegen hätten wohl noch versucht, sich mit großen Paraffinkerzen einzudecken, die in kalten Nächten zwischen den Rebstöcken aufgestellt werden können. „In ganz Mitteleuropa war der Markt leer gefegt“, sagt Gierer.
Seine Hoffnungen auf eine vielleicht doch noch ertragreiche Ernte ruhen nun auf den sogenannten Frostruten. Das sind zusätzliche Triebe, die manche Winzer an einem Rebstock stehen lassen, quasi für den Notfall. Normalerweise werden diese Mitte Mai nach den Eisheiligen gekappt. Dieses Jahr dürften die meisten von ihnen zum Einsatz kommen. Auf die Qualität des Weines haben die Eisschäden aber keinen Einfluss, sagt Gierer: „Wie gut ein Wein wird, entscheidet sich in den Wochen vor der Lese im September und Oktober.“ Wenn sich der Sommer da von seiner besten Seite zeigt, steht einem guten Jahrgang 2017 nichts im Wege.
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