In diesem Fall ist nichts so, wie es scheint. Es gibt ein Grab, aber das Grab ist leer. Ein neunjähriges Mädchen verschwindet und wird für tot gehalten, aber es gibt keine Leiche. Es gibt einen vermeintlichen Täter, aber es gibt keine Zeugen. Und es gibt ein Urteil, aber der Hauptzeuge hat offenbar gelogen.
Peggy: Was ist wirklich geschehen?
Als Todesdatum auf dem Grab von Peggy Knobloch steht der 7. Mai 2001. Das ist der Tag, an dem die Neunjährige aus Lichtenberg in Oberfranken auf dem Weg von der Schule nach Hause verschwunden ist. Was wirklich geschah, ist umstritten. Die Diskussionen ebbten auch nicht ab, als der geistig zurückgebliebene Ulvi K. am 30. April 2004 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. War der Sonderling wirklich ein Mörder?
Jetzt, elf Jahre nach Peggys Verschwinden, gibt es neue Erkenntnisse, die einen Polizei- und Justizskandal ans Licht bringen könnten. Der Frankfurter Rechtsanwalt Michael Euler und Ulvis gerichtlich bestellter Vormund, Gudrun Rödel, haben mit hohem Aufwand recherchiert. Ergebnis: Ulvi kann es ihrer Ansicht nach nicht gewesen sein. Anwalt Euler will noch in diesem Jahr beim Landgericht Bayreuth einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens stellen (siehe Infokasten). Die Staatsanwaltschaft kündigt an, den Fall aufs Neue prüfen zu wollen.
Peggy verschwand wenige Meter von ihrem Elternhaus entfernt. Eine der größten Suchaktionen in der deutschen Geschichte begann. Hundertschaften der Polizei, Spürhunde, Hubschrauber und Tornados der Bundeswehr mit Wärmebildkameras suchten das Mädchen überall. Sie fanden: nichts. Doch Zeugen wollten Peggy an diesem Tag noch gesehen haben. Eine Schülerin, die Peggy aus einem Bus heraus beobachtete. Zwei Jungs, die Peggy nach 15 Uhr vor der Bäckerei sahen und aussagten, sie sei in einen roten Mercedes mit tschechischem Kennzeichen gestiegen.
Hinweise führten ins Nichts
Die Autospur führte ebenso ins Nichts wie andere Hinweise. Peggys Mutter Susanne Knobloch brachte schließlich den Nachbarsjungen Ulvi K. als Täter ins Gespräch. Der war damals 23, galt seit einer Hirnhautentzündung im Kindesalter als geistig behindert, aber harmlos – wenngleich er schon mal vor Kindern die Hosen runterließ. Die Soko Peggy nahm den Zurückgebliebenen fest und brachte ihn in ein psychiatrisches Krankenhaus. Die Ermittler verdächtigten ihn, Peggy umgebracht zu haben, um ein Sexualdelikt zu vertuschen.
Die Ermittlungen entlasteten K. aber. Der Leiter der Soko sagte etwa neun Monate nach der Tat, Ulvis Alibi sei „lückenlos“. Die Soko wurde abgezogen. Der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein ließ eine neue einsetzen. Die Politik wollte nicht akzeptieren, dass dieses aufsehenerregende Verbrechen nicht aufgeklärt wird. Und tatsächlich kam nun Fahrt in die Sache. Die Kripo warb den Betrüger Peter H. als V-Mann an. Der saß ebenfalls in der Psychiatrie. Er sollte Ulvi aushorchen. „Sie sagten, wenn ich ihnen helfe, dann helfen sie mir auch. Da habe ich das Spiel mitgemacht. Was macht man nicht alles für seine Freiheit?“, sagt H. heute. Das war am Mittwochabend in der Dokumentation „Mord ohne Leiche“ des Bayerischen Fernsehens in der ARD zu sehen.
Peter H. lieferte: Er berichtete der Soko, Ulvi habe ihm die Tat gestanden. Der kräftige junge Mann mit dem Verstand eines Achtjährigen wurde 40 Mal verhört. Dann gestand er. Zumindest ist dies in einem Gedächtnisprotokoll der Polizei so festgehalten. Eine Tonbandaufzeichnung gibt es nicht. Ulvi widerrief das Geständnis. Angeklagt wurde er dennoch. In den Akten hieß es, die Jungs aus Lichtenberg hätten ihre Aussage über den roten Mercedes zurückgezogen. Peter H. bestätigte vor Gericht, Ulvi habe ihm die Tat gestanden.
Kommt der Verurteilte als Täter gar nicht in Frage?
Ulvi wurde verurteilt. Wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zur Unterbringung in der Psychiatrie. Dort sitzt er zurzeit.
Heute sagt H., er habe gelogen. Und er geht noch weiter: Die Polizei habe ihm gesagt, er solle aussagen, Ulvi habe sie gedrosselt, bis sie tot war. In der Fernsehdokumentation unterschreibt er Rechtsanwalt Euler eine eidesstattliche Versicherung. Die beiden Jungs aus Lichtenberg versichern Anwalt Euler heute, sie hätten das rote Auto mit Peggy doch gesehen. Das würden sie auch vor Gericht sagen. Auch die Tatzeit wackelt. Die Tachoscheibe des Busses, von dem aus eine Schülerin Peggy gesehen haben will, zeigt, dass der Bus zehn Minuten später dran gewesen sein muss, als dies im Urteil steht. Das könnte die Tatzeit so weit reduzieren, dass Ulvi K. nicht mehr als Täter infrage käme.