Am 4. November 2011 überfielen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zum 14. Mal eine Bank. Es erwischte die Sparkasse in Eisenach. Doch dieses Mal ging nicht alles glatt. Die Polizei verfolgte die beiden, sie verschanzten sich in einem Wohnmobil. Mundlos erschoss erst seinen Freund und Komplizen Böhnhardt und dann sich selbst. Zu diesem Zeitpunkt haben die skrupellosen Neonazis mutmaßlich bereits zehn Menschen ermordet. Und was lag in ihrem Wohnmobil? Unter anderem ein Kinderschuh, eine Wasserpistole und ein Teddybär. Das ergab für die Ermittler keinen Sinn. Bis Donnerstagabend.
Da berichten Polizei und Staatsanwaltschaft in einer Pressemitteilung, dass dort, wo die Leiche von Peggy Knobloch gefunden worden ist, auch ein genetischer Fingerabdruck des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt entdeckt wurde. Eine Sensation. Stehen zwei der spektakulärsten und undurchsichtigsten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte in direktem Zusammenhang?
Die neunjährige Peggy verschwand am 7. Mai 2001 im oberfränkischen Lichtenberg auf dem Heimweg von der Schule. Jahrelang tappten die Ermittler im Dunkeln. Bis Anfang Juli neue Hoffnung aufkeimte, den Fall zu lösen. Ein Pilzsammler fand die sterblichen Überreste des Mädchens in einem Wald im bayerisch-thüringischen Grenzgebiet.
Böhnhardts DNA bei Peggys Leiche: Experten schließen einen Fehler aus
Das Trio des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) soll für zehn Morde, zwei Bombenanschläge und 14 Banküberfälle verantwortlich sein. Beate Zschäpe und NSU-Helfern wird seit mehr als drei Jahren in München der Prozess gemacht. Niemand hat zwischen diesen beiden Fällen bisher auch nur den Anschein eines Zusammenhangs gesehen. Und jetzt? Gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder hat der Neonazi Uwe Böhnhardt tatsächlich etwas mit Peggys Tod zu tun. Oder der DNA-Treffer beruht auf einem Fehler – was entweder dem Zufall oder einer Panne geschuldet sein könnte.
Letzteres haben hochrangige Experten am Freitag allerdings mehrheitlich ausgeschlossen. Der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, sagt, der Fund der DNA-Spur habe auch das BKA sehr überrascht. „Der Fall NSU zeigt, dass nichts unmöglich ist.“ Der langjährige Chef der Münchner Rechtsmedizin, Wolfgang Eisenmenger, glaubt ebenfalls nicht, dass der Zusammenhang auf eine Verunreinigung von Genspuren zurückzuführen ist: „Mir fehlt die Fantasie, zu erklären, wie es dazu hätte kommen sollen.“ Auch die Rechtsmedizin der Uni Jena schließt eine zufällige Übertragung von Böhnhardts DNA auf Peggys Knochen am eigenen Institut aus.
Wenn aber keine Panne vorliegt, was bedeutet das? Hat der Neonazi und Killer Böhnhardt dann möglicherweise auch noch ein kleines Mädchen auf dem Gewissen?
Die Fakten: Uwe Böhnhardt, geboren am 1. Oktober 1977 in Jena, wurde schon im Teenager-Alter zum Rechtsextremisten und Kriminellen. Er klaute, prügelte, erpresste. Böhnhardt war 15, als er zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Kurz nach seiner Entlassung verschwand der neunjährige Bernd B. in Böhnhardts Heimatstadt Jena spurlos. Zwei Wochen später wurde der Junge tot am Ufer der Saale gefunden. Die genaue Todesursache konnte nicht mehr festgestellt werden. Die Ermittler gingen von „Gewalt gegen den Hals“ aus. Böhnhardt geriet zeitweise ins Visier der Polizei.
Böhnhardt könnte pädophile Neigungen gehabt haben
Dazu kommen Indizien, dass er pädophile Neigungen haben könnte. Im Brandschutt der konspirativen NSU-Wohnung in Zwickau wurde ein Datenträger mit Kinderpornos gefunden. Auch Kinderspielzeug tauchte dort auf, wie sich ein Hausmeister erinnerte. Und im ausgebrannten Wohnmobil wurden zwar keine Genspuren von Peggy gefunden, aber DNA-Material eines anderen, unbekannten Mädchens.
Außerdem gibt es im Umfeld des NSU mehrere konkrete Hinweise auf Kindesmissbrauch, die nun in ganz neuem Licht erscheinen. Von Enrico T., einem alten Böhnhard-Kumpel, wurde in der Neonazi-Szene lange erzählt, er sei an Kindern interessiert. Auch T. geriet im Fall des ermordeten Jungen in Jena unter Verdacht, weil nahe der Kinderleiche ein Außenbordmotor gefunden wurde, der ihm gehörte. Aufgeklärt wurde der Fall Bernd B. nie. Der Thüringer Neonazi-Anführer Tino Brandt wurde 2014 sogar wegen Kindesmissbrauchs zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Fall Peggy - eine Chronologie
7. Mai 2001: Auf dem Heimweg von der Schule verschwindet die neunjährige Peggy aus dem oberfränkischen Lichtenberg. Wochenlange Suchaktionen bleiben ohne Erfolg.
August 2001: Die Polizei nimmt den geistig behinderten Ulvi K. fest. Er gibt an, sich an Peggy und drei weiteren Kindern sexuell vergangen zu haben.
22. Oktober 2002: Die Ermittler präsentieren den 24-jährigen Tatverdächtigen als mutmaßlichen Mörder der Schülerin.
7. Oktober 2003: Vor dem Landgericht Hof beginnt der Prozess. Nach nur fünf von 16 geplanten Verhandlungstagen platzt der Prozess wegen fehlerhafter Besetzung der Strafkammer.
November 2003: Der Mordprozess beginnt erneut.
30. April 2004: Ulvi K. wird wegen Mordes an Peggy zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Strafe tritt er niemals an. Stattdessen wird er wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in der forensischen Psychiatrie untergebracht. Peggys Leiche bleibt indes verschwunden.
17. September 2010: Ein wichtiger Belastungszeuge widerruft seine Aussage und erhebt schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden.
4. April 2013: Der Anwalt des geistig behinderten Mannes beantragt die Wiederaufnahme des Falls. Er sagt, sein Mandant könne die Tat nicht begangen haben.
April 2013: Ebenfalls im April 2013 beginnt die Polizei, wieder nach der Leiche des Mädchens zu suchen. Entdeckte Knochenteile stammen aber nicht von Peggy.
Dezember 2013: Das Landgericht Bayreuth ordnet die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Ulvi K. an. Ein Belastungszeuge hatte eingeräumt, falsch ausgesagt zu haben.
8. Januar 2014: Auf dem Friedhof Lichtenberg öffnen die Ermittler ein Grab. Sie vermuten, dass bei einer Beerdigung 2001 Peggys Leiche dort abgelegt wurde. Doch sie finden keine Hinweise.
10. April 2014: Auf Anordnung des Landgerichts Bayreuth beginnt das Wiederaufnahmeverfahren. Ulvi K. bestreitet, Peggy getötet zu haben.
7. Mai 2014: Das Gericht beendet das Verfahren aus Mangel an Beweisen. Eine Woche später gibt es einen Freispruch für den geistig behinderten Mann. Er bleibt aber weiter in der Psychiatrie untergebracht.
18. Februar 2015: Die Staatsanwaltschaft Bayreuth stellt ihre Ermittlungen ein. Ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt wird aber aufrechterhalten, um mögliche Spuren weiterzuverfolgen.
19. März 2015: Das Oberlandesgericht Bamberg entscheidet, dass der ursprünglich verurteilte Mann aus der Psychiatrie entlassen werden soll.
16. Juni 2015: Ein ehemaliger Verdächtiger im Fall Peggy wird in einem anderen Fall wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Jugendstrafe von sieben Monaten ohne Bewährung verurteilt. Im Fall Peggy gilt er nicht mehr als tatverdächtig.
Mai 2016: Ein im Fall Peggy ehemals verdächtigter Mann fordert Schadenersatz von mehr als 20.000 Euro. Ermittler hatten 2013 auf der Suche nach dem verschwundenen Mädchen sein Grundstück in Lichtenberg metertief durchsuchen lassen. Die Ermittler hatten dabei zwar Knochenreste gefunden. Sie stammten aber nicht von Peggy.
2. Juli 2016: Ein Pilzsammler findet in einem Wald im thüringischen Landkreis Saale-Orla Skelettreste.
4. Juli 2016: Polizei und Staatsanwaltschaft teilen mit, dass die Knochen «höchstwahrscheinlich» von Peggy stammen. Dies hätten erste rechtsmedizinische Untersuchungen und Erkenntnisse am Fundort ergeben.
13. Oktober 2016: Das Polizeipräsidium Oberfranken und die Staatsanwaltschaft Bayreuth teilen mit, dass am Fundort des Skeletts des Mädchens DNA-Spuren des mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt gefunden worden.
8. März 2017: Der Verdacht einer neuen Ermittlerpanne im Mordfall Peggy hat sich bestätigt: Das in der Nähe der Leiche des neunjährigen Mädchens gefundene DNA-Material des NSU-Mitglieds Uwe Böhnhardt wurde von der Polizei versehentlich selbst an den Tatort gebracht, wie Polizei und Staatsanwaltschaft in Bayreuth mitteilten. Bei der Spurensicherung wurde das gleiche Werkzeug verwendet wie nach Böhnhardts Tod 2011. Beide Fälle haben nichts miteinander zu tun. So etwas »darf nicht passieren», sagte der Leiter der Sonderkommission Peggy, Uwe Ebner.
12. September 2018: Die Polizei durchsucht mehrere Anwesen eines 41 Jahre alten Beschuldigten. Der Mann zählte schon früher zum «relevanten Personenkreis» im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Peggy. Nach der Vernehmung kommt er wieder auf freien Fuß.
21. September 2018: Die Ermittler geben bekannt, dass der 41-Jährige gestanden hat, das tote Mädchen in den Wald an der bayerisch-thüringischen Grenze gebracht zu haben, wo später die Knochen gefunden wurden. Ein anderer Mann habe ihm den leblosen Körper am Tag des Verschwindens an einer Bushaltestelle übergeben.
11. Dezember 2018: Die Polizei Oberfranken meldet eine Festnahme in dem Fall, ohne zunächst weitere Details zu nennen.
Ende Dezember 2018: Der Verdächtigte kommt wieder auf freien Fuß. Das Amtsgericht hebt den Haftbefehl gegen den 41-Jährigen auf.
22. Oktober 2020: Die Ermittlungen im Fall Peggy werden eingestellt. Der Fall ist seitdem ein "cold case".
April 2022: Knapp 21 Jahre nach dem Verschwinden des jungen Mädchens werden ihre sterblichen Überreste in Lichtenberg beigesetzt.
Auch im Fall Peggy sind die Ermittler immer wieder Hinweisen nachgegangen, wonach die Neunjährige Opfer eines Pädophilen-Rings geworden sein könnte. Doch die Spuren führten ins Nichts.
Und dann gibt es da noch eine geografische und zeitliche Komponente, die für einen Zusammenhang beider Fälle sprechen würde. Sowohl Peggys Heimatort Lichtenberg als auch der Fundort ihrer Leiche liegen in etwa auf halbem Weg zwischen Zwickau und Nürnberg. In Zwickau war das Trio untergetaucht. In Nürnberg wurden die ersten beiden NSU-Morde verübt. Die Täter erschossen den Blumenhändler Enver Simsek am 9. September 2000, den Schneider Abdurrahim Özüdogru am 13. Juni 2001, nicht einmal einen Monat nach Peggys Verschwinden.
Waren die Rechtsterroristen in Lichtenberg?
Geht man davon aus, dass die Mörder zuvor die Tatorte ausgekundschaftet haben, wäre es plausibel, dass sie in Lichtenberg und Umgebung vorbeigekommen sind, vielleicht dort Rast gemacht haben. Es existieren Fotos, die Mundlos und Böhnhardt von der SPD-Zentrale in Hof gemacht haben. Hof ist von Lichtenberg nur gut 20 Kilometer entfernt. Und: Es gibt einen Jenaer Kameraden von Böhnhardt, der nur 15 Kilometer von Rodacherbrunn, dem Fundort von Peggys Leiche, eine Waldhütte haben soll.
Etliche ernst zu nehmende Ansätze für die Ermittler. Bayreuths Leitender Oberstaatsanwalt Herbert Potzel sagt angesichts der neuen Fragen: „Wir müssen erst mal sortieren, in welcher Reihenfolge wir das abarbeiten.“ Thüringens Innenminister Holger Poppenhäger (SPD) kündigte an, dass eine Sonderkommission ungeklärte Fälle von Kindstötungen seit 1990 neu untersuchen soll.
Ja, die Nachricht hat eingeschlagen wie eine Bombe. Doch was, wenn alles Quatsch ist? Die DNA-Spur nur eine Panne? Es keine Verbindung zwischen den beiden großen Kriminalfällen gibt? Undenkbar? Sicher ist momentan nur, dass der genetische Fingerabdruck eindeutig von Uwe Böhnhardt stammt. Wie er aber an den Fundort von Peggys Leiche geraten ist, beziehungsweise wie der Treffer in der Datenbank zustande gekommen ist, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Und natürlich ist es auch so, dass die einzige spektakuläre DNA-Panne in der deutschen Kriminalgeschichte im Zusammenhang mit den NSU-Morden passierte.
Die Rede ist von der „Phantomfrau“, nach der jahrelang gefahndet wurde, weil ihre DNA an mehr als 40 Tatorten gesichert worden war. Darunter in Heilbronn, wo Unbekannte im April 2007 die junge Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen hatten. Im März 2009 wurde klar: Die „Phantomfrau“, damals Deutschlands meistgesuchte Verbrecherin, gab es nicht. Die DNA-Spuren stammten von einer Arbeiterin, die an der Produktion der Wattestäbchen für DNA-Proben beteiligt war. Der Mord an der Polizistin Kiesewetter wurde dem NSU zugeordnet. Möglicherweise wollten Mundlos und Böhnhardt sich eine „saubere“ Polizeiwaffe besorgen, so die These der Generalbundesanwaltschaft.
Welche Auswirkungen hat der Fund auf den NSU-Prozess?
Die Frage, die die Ermittler nun vor allen anderen beantworten müssen, ist also die nach einer möglichen Verunreinigung der DNA-Probe. Der Bayreuther Chefermittler Potzel schließt das im Gegensatz zu den anderen Experten nicht aus. Es gebe mehrere Möglichkeiten der Verunreinigung, sagt er, ohne Details zu nennen. Erst wenn diese Frage geklärt ist, werden sich Polizei und Staatsanwaltschaft mit aller Kraft auf die Rolle von Uwe Böhnhardt konzentrieren.
Eine andere These wäre noch: Versucht der staatliche Ermittlungsapparat womöglich, den Mord an Peggy jemandem in die Schuhe zu schieben? Das wäre eine ungeheuerliche Vorstellung – wenn es im Fall Peggy nicht schon einmal geschehen wäre. Der geistig minderbemittelte Ulvi K. wurde von der zweiten Sonderkommission als mutmaßlicher Täter ausgemacht. Nach 40 Verhören gestand der Mann mit dem Verstand eines Achtjährigen. Er wurde verurteilt, in einem neuen Prozess 2014 aber freigesprochen.
Und es gibt ein weiteres Fragezeichen – hinter dem NSU-Prozess. Welche Auswirkungen hat der DNA-Treffer auf das Mammutverfahren? Zunächst keine gravierenden. Das Oberlandesgericht München teilt mit, der Prozess gehe vorerst „ganz normal“ weiter. Doch Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler hat neue Beweisanträge angekündigt. Und wie reagiert die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, wenn sich die Erkenntnisse verdichten würden, dass ihr Ex-Freund Böhnhardt möglicherweise ein pädophil veranlagter Kindermörder ist? Das kann im Moment niemand vorhersehen.
Ebenso wenig kann man sich vorstellen, wie Peggys Mutter sich angesichts der neuesten Entwicklung fühlen muss. Sie ließ über ihre Anwältin Ramona Hoyer am Freitag nur mitteilen, sie sei bestürzt. Dass eine DNA-Spur eventuell auf die NSU-Szene verweist, habe Peggys Mutter „tief erschüttert und viele neue Fragen aufgeworfen“. Dem ist derzeit nichts hinzuzufügen.
Peggy und Bönhardt: Das sagt unser Experte im Video
Chronologie: Immer wieder neue Wenden im Fall Peggy
DNA-Spuren von NSU-Terrorist Böhnhardt bei Peggys Leiche