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Foto: Boris Roessler/dpa
Foto: Boris Roessler/dpa

"Ungeimpft" steht auf einem nachgebildeten Judenstern am Arm eines Mannes, der versucht hatte, sich unter die Teilnehmer einer Demonstration in Frankfurt im Mai vergangenen Jahres zu mischen, die sich auch gegen Verschwörungstheorien zum Corona-Virus wendet.

Extremismus
14.02.2021

"Es ist unerträglich": Die Zahl der antisemitischen Vorfälle nimmt deutlich zu

Von Maria Heinrich

Die Zahl antisemitischer Vorfälle hat in Bayern deutlich zugenommen. Ein neues Phänomen ist, dass sich Corona-Leugner mit der Lage der Juden in der NS-Zeit vergleichen.

Marian Offman will sich nicht unterkriegen lassen. Nicht wegschauen oder schweigen bei antisemitischen Plakaten oder judenfeindlichen Sprüchen. "Die Rechten wissen genau, wer ich bin", sagt er. "Aber ich lasse mir von den Nazis keine Angst machen." Offman saß 18 Jahre im Münchner Stadtrat, viele kennen ihn und wüssten, dass er Jude sei, sagt er. "Ich bin immer offensiv mit meiner Religion umgegangen. Doch ich weiß auch, dass sich viele Juden das angesichts von antisemitischen Übergriffen gar nicht mehr trauen."

Solche Vorfälle, von denen Marian Offman spricht, haben in den vergangenen Jahren über die bayerische Landesgrenze hinweg großes Aufsehen erregt. Zum Beispiel im August 2019: Als ein Vater mit seinen beiden Söhnen in München eine Synagoge verlässt, werden die drei von Fremden auf offener Straße beleidigt und bespuckt. Im Mai 2020, als ein Rapper aus Nürnberg über Instagram eine Nachricht an einen Juden verschickt, in der er schreibt, er werde mit dessen Mutter "einen Holocaust machen". Oder im Juli 2020, als ein Rabbiner von vier Männern nach dem Aussteigen aus einer Straßenbahn verfolgt und belästigt wird.

Es gibt eine zunehmende Radikalisierung

Das bayerische Landeskriminalamt hat zuletzt eine Zunahme von Fällen politisch motivierter Kriminalität im Freistaat verzeichnet. 2018 wurden dort 219 antisemitische Straftaten registriert, ein Jahr später waren es 310, die Zahlen für 2020 stehen noch aus. Auch Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) kennt diese Statistik. Er sagt gegenüber unserer Redaktion: "In den letzten Jahren beobachten wir eine zunehmende Radikalisierung antisemitischer und demokratiefeindlicher Diskurse. Die Hemmschwelle für offen antisemitische und geschichtsrevisionistische Äußerungen und Angriffe ist schrittweise weiter gesunken. Das ist unerträglich." Ähnlich sieht es auch Ludwig Spaenle, Antisemitismus-Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung: "Der Anstieg um gut ein Drittel ist für mich erschreckend. Der Antisemitismus ist bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen."

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Foto: Federico Gambarini, dpa
Foto: Federico Gambarini, dpa

Immer öfter gibt es in Bayern antisemitische Übergriffe. Das Foto zeigt eine traditionelle jüdische Kopfbedeckung.

Eine Aussage, die Nikolai Schreiter von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) – bei der Übergriffe gegen Juden gemeldet werden können – nicht weit genug geht: "Ich würde sagen, der Antisemitismus war nie weg aus der Mitte der Gesellschaft." RIAS Bayern gibt es seit dem Jahr 2019, daher kann Schreiter selbst nicht einschätzen, ob mehr Vorfälle gemeldet wurden als in den Jahren zuvor. Doch Schreiter selbst kennt viele Juden, die sich aus Angst vor Beleidigungen und Übergriffen in der Öffentlichkeit nicht als jüdisch zu erkennen geben wollen. "Als Jude muss man heutzutage einfach mit so etwas rechnen. In unserem aktuellen gesellschaftlichen Klima kann man sich als Jude nie sicher sein."

In den seltensten Fällen gibt es Hilfe aus dem Umfeld

Wenn sich Betroffene mit ihren Erlebnissen an RIAS wenden, berichten sie, wie schlimm es für sie war, privat, aber auch öffentlich angegangen oder beleidigt zu werden. Fast genauso schlimm sei für viele aber, dass sie in den seltensten Fällen Hilfe oder Unterstützung aus dem Umfeld bekamen, erzählt Schreiter. "Ganz oft bleiben die umstehenden Menschen einfach stumm, keiner zeigt sich solidarisch mit den Betroffenen, das wiegt für viele fast genauso schwer." So berichtet es auch ein Mann, der sich im vergangenen Jahr bei RIAS Bayern meldete: Im Frühjahr war er im Englischen Garten urplötzlich von einem fremden Mann angeschrien worden: "Ihr jüdischen Schweine seid schuld! Ihr Juden habt das mit dem Corona gemacht! Du jüdischer Dreckskerl!"

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Antisemitismus und eine Verharmlosung der Holocausts: In KZ-Häftlingskleidung und mit dem Schild "Impfen macht frei", das an das Nazi-Motto "Arbeit macht frei" erinnert, demonstriert diese Frau gegen die Corona-Politiker.

Vorfälle wie diese dringen auch ins Büro des Münchner Oberbürgermeisters vor. "Wichtig ist, dass antisemitische Sprüche und Vorfälle im Alltag entschieden zurückgewiesen werden und dass sich Augenzeugen solidarisch an die Seite der Betroffenen stellen", appelliert Reiter. "Es darf nicht sein, dass Juden mitten in München antisemitisch beschimpft und beleidigt werden und ihnen niemand unterstützend zur Seite springt. Hier brauchen wir dringend mehr Zivilcourage."

Corona-Leugner inszenieren sich als Opfer

Ein Aufruf, den Schreiter lobenswert findet – nichtsdestotrotz bereiten ihm Vorfälle wie der im Englischen Garten Sorgen. "Wir stellen fest, dass sich neuerdings auch Corona-Leugner und Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, Antisemitismus für ihre Zwecke und Ideologien zunutze machen beziehungsweise antisemitisch sind." Er nennt zwei Beispiele: Einerseits hängen manche Menschen etwa der Theorie an, eine geheime Elite – zum Beispiel eine Gruppe von Juden – hätte das Coronavirus in die Welt gesetzt, um alle anderen Menschen zu unterdrücken und ihnen ihre Rechte zu nehmen. Andererseits würden sich manche Corona-Leugner und Impfgegner selbst als Opfer inszenieren, sagt Schreiter. Sie würden sich und ihre eigene Lage mit der der Juden im Nationalsozialismus vergleichen. Manche von ihnen kleben sich zum Beispiel auf Demonstrationen gelbe Davidsterne mit der Aufschrift "Impfgegner" auf, andere halten Schilder hoch mit "Impfen macht frei" – in Anlehnung an die Phrase der NS-Konzentrationslager "Arbeit macht frei". "Das ist eine Verharmlosung der Schoah", warnt Nikolai Schreiter eindringlich. Schoah ist der hebräische Begriff für Holocaust. Mehr als hundert solcher judenfeindlicher VorfällemitCorona-Bezug hatRIAS Bayern 2020 registriert. Münchens Oberbürgermeister Reiter schlägt in diesem Zusammenhang ebenfalls Alarm: "Antisemitismus ist – egal in welchem Gewand – immer ein Angriff auf unsere liberale Gesellschaft, auf die Demokratie und die Grundwerte unseres Zusammenlebens."

Dass sich nicht nur der Kontext von judenfeindlichen Vorfällen verschoben hat, sondern antisemitische Übergriffe auch zahlenmäßig zugenommen haben, beschäftigt auch Andreas Franck, Antisemitismusbeauftragter der Generalstaatsanwaltschaft München: "Es treibt mich tatsächlich um, dass wir bundesweit etwa seit 2015 einen Anstieg antisemitischer Straftaten erleben. Im Jahr 2019 hatten wir in ganz Deutschland mit 2032 Taten den höchsten Stand judenfeindlicher Delikte seit 2001 zu verzeichnen." Gegenüber unserer Redaktion will Franck deshalb eines betonen: "In Richtung der jüdischen Community: Die bayerische Justiz steht unmissverständlich auf eurer Seite! Und in Richtung potenzieller Straftäter: Wir schauen genau hin!"

Auch der ehemalige Münchner Stadtrat Marian Offman will weiterhin genau hinschauen und sagt entschieden: "Nazis und Rechte und Corona-Leugner sind unerträglich. Wir Juden dürfen keine Furcht haben. Es darf ihnen niemals gelingen, dass wir uns wieder als Opfer fühlen und uns Angst machen lassen."

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