Startseite
Icon Pfeil nach unten
Bayern
Icon Pfeil nach unten

Exklusiv-Interview mit der Mutter: "Der Schmerz ist immer noch riesig"

Exklusiv-Interview mit der Mutter

"Der Schmerz ist immer noch riesig"

    • |
    "Der Schmerz ist immer noch riesig"
    "Der Schmerz ist immer noch riesig"

    Egal ob die Eltern von Ursula Herrmann oder Vanessa Gilg: Mütter und Väter können die brutalen Morde an ihren Kindern auch Jahre nach den Taten nicht überwinden. Wie eine betroffene Mutter fühlt und denkt hat Romana Gilg unserem Redakteur Holger Sabinsky exklusiv erzählt.

    Die leidgeprüften Eltern der 1981 getöteten Ursula Herrmann müssen heute im Prozess gegen den mutmaßlichen Entführer als Zeugen aussagen. Das Gericht wird bei der Aussage wahrscheinlich die Öffentlichkeit aus dem Saal schicken.

    Wie ertragen es Eltern, wenn ihr Kind durch Mörderhand stirbt? Die zwölfjährige Vanessa Gilg aus Gersthofen bei Augsburg wurde vor sieben Jahren im Schlaf von einem 19-Jährigen erstochen, der sich als "Tod" verkleidet hatte. Vanessas Mutter Romana Gilg (49) erzählt.

    Frau Gilg, verfolgen Sie den Prozess um den Tod von Ursula Herrmann?

    Gilg: Ja, aber nur am Rande. Er wühlt zu vieles in mir wieder auf.

    Ursulas Eltern wollen nicht am Prozess teilnehmen. Sie wollten damals unbedingt dabei sein. Warum?

    Gilg: Ich wollte Antworten, wollte wissen, wie ein Mensch ein schlafendes Mädchen erstechen kann. Was einen Menschen dazu bringt, so das Leben zu missachten. Die Teilnahme am Prozess war unglaublich anstrengend, aber es hat sich gelohnt.

    Haben Sie Antworten bekommen?

    Gilg: Nein, nur ganz bedingt. Aber es war ungeheuer wichtig, sich mit der Psychologie und dem Täter zu beschäftigen. Ich wollte alle Erklärungen hören und dann entscheiden, ob ich sie für mich akzeptieren kann.

    Würden Sie Ursulas Eltern empfehlen, besser den Prozess zu verfolgen?

    Gilg: Ich will niemandem etwas empfehlen. Für mich war es sehr hilfreich. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden. Man sollte immer Vor- und Nachteile mit einem Anwalt und Psychologen genau abwägen. Außerdem: Unsere Situation damals ist nicht mit der von Ursulas Eltern vergleichbar.

    Inwiefern?

    Gilg: Vanessas Mörder hat ein Geständnis abgelegt. Es blieben keine Zweifel, dass er der Täter war.

    Das ist beim jetzigen Prozess anders...

    Gilg: Es scheint so. Ich hoffe sehr, dass sich die Staatsanwaltschaft ihrer Verantwortung bewusst ist. Stellen Sie sich vor, der Angeklagte muss aus juristischen Gründen freigesprochen werden, obwohl ihn am Ende alle für den Täter halten. Das wäre für die Eltern unerträglich. Dann bekäme der Mörder ihrer Tochter auch noch Haftentschädigung.

    Michael W., der Mörder Ihrer Tochter, sagte, es sei "einfach passiert"...

    Gilg: Das hat mich tief verletzt. So ein Mord "passiert" nicht einfach. W. hat 21 Mal zugestochen. Er ist für vieles in seinem jungen Leben nicht verantwortlich. Aber für den Mord an Vanessa ganz sicher.

    Was empfinden Sie heute, wenn Sie an Vanessa denken?

    Gilg: Ich vermisse sie ganz schrecklich. Ich wünschte, sie wäre heute hier. Der Schmerz ist immer noch riesig, die Verzweiflung hat nachgelassen. Mit Vanessa ist ein Teil meiner Zukunft gestorben. Ich sehe, wie sie in ihrem Bett liegt, wie sie im Sarg liegt. Aber ich habe auch Bilder im Kopf, auf denen sie sehr lebendig ist: ein Spaziergang an Weihnachten, der Geburtstag der Oma.

    Es gibt Untersuchungen, dass ein solch traumatisches Erlebnis eine Familie oft zerstört...

    Gilg: Auch bei uns sind die Verhältnisse schwierig geworden. Das Wertesystem wird durch den Tod eines Kindes komplett infrage gestellt. Danach beginnt die Suche nach dem, was wirklich wichtig ist. Das ist eine enorme Lebensaufgabe, die jeder unterschiedlich schnell und möglicherweise auch mit unterschiedlichen Ergebnissen bewältigt.

    Haben Sie Ihre Tochter nach der Obduktion noch einmal gesehen?

    Gilg: Ja, und ich bin sehr froh darüber. Als man Vanessa aus dem Haus gebracht hat, hat sie für mich noch gelebt. Ihren Tod habe ich erst in der Pathologie im wahren Wortsinne begriffen. So konnte ich richtig Abschied nehmen.

    Wie weit saßen Sie im Gericht vom Mörder Ihrer Tochter entfernt? Haben Sie ihm in die Augen geblickt?

    Gilg: Fünf Meter. Ich habe ihn genau angeschaut. Er hat mich aber an den vier Prozesstagen nie angesehen.

    Meinen Sie, dass er selbst in gewissem Sinne Opfer ist?

    Gilg: Opfer ist das falsche Wort. Er hatte keine echte Chance im Leben. Das liegt vor allem an seinen Adoptiveltern, die ihm keine positive Erziehung haben zukommen lassen. Es hat sich nie jemand um ihn gekümmert. Das spricht ihn aber nicht von der Schuld frei.

    Sie treten bis heute engagiert für Opferschutz ein. Im Strafprozess dreht sich alles um den Täter...

    Gilg: Das ist kaum zu ertragen. Ich würde mir wünschen, dass man als Angehöriger mehr Fragen beantwortet bekommt, die für das Urteil des Gerichts nicht relevant sind. Mich beschäftigt bis heute die Frage, wie der Mörder ins Haus kam.

    Der Mörder bekam kostenlos einen Anwalt, sie mussten Ihren bezahlen.

    Gilg: Das stimmt, damals war die Rechtslage so. Uns hat aber der Weiße Ring großzügig geholfen. Heute ist es Gott sei Dank so, dass bei schweren Gewaltverbrechen der Staat die Kosten für die Nebenklage übernimmt. Es tut sich was beim Opferschutz. Zum Beispiel ist ja inzwischen auch eine Sicherungsverwahrung für jugendliche Täter möglich. Da geht es weniger um Strafe, sondern um Schutz der Bevölkerung.

    Was muss sich noch verbessern?

    Gilg: Der Mord an Vanessa wird dem Täter 15 Jahre nach Ende des Strafvollzugs aus dem Führungszeugnis gestrichen. Können Sie sich vorstellen, was das für uns bedeutet? Vanessas Tod kann man nie streichen.

    Der Mörder Ihrer Tochter wird wohl 2012 freikommen. Was fühlen Sie?

    Gilg: Ich bin gerüstet für den Tag, an dem ich über den Termin der Freilassung informiert werde. Aber dazu muss man sagen: Wir werden nur informiert, weil wir eine Zivilklage geführt haben. Ich möchte, dass Angehörige von Gewaltopfern automatisch vom Haftentlassungstermin erfahren. Sonst steht der Mörder meiner Tochter vielleicht eines Tages neben mir im Supermarkt. Zudem möchte ich wissen, ob in der Haft die "emotionalen Entwicklungsdefizite" von Michael W. behandelt wurden. Ich wünsche mir also eine Beteiligungsbefugnis der Nebenklage im Strafvollzug. Opferschutz muss Vorrang vor Datenschutz haben. Außerdem wirkt es auf den Laien seltsam, dass auf der einen Seite im Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke im Vordergrund steht, die Rückfallquote der zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden aber bei 80 Prozent liegt.

    Können Sie dem Mörder verzeihen?

    Gilg: Ich empfinde keinen Hass und er soll eine Chance haben, weil er zuvor nie eine echte hatte. Ich wünsche mir, dass er sie nutzt - vor allem, weil dadurch alle anderen geschützt werden.

    Sie waren Ingenieurin bei der Telekom. Was machen Sie heute?

    Gilg: Ich bin Beamtin im Ruhestand und gelte zu 50 Prozent als schwer beschädigt. Zum Teil, weil ich Brustkrebs hatte, zum Teil wegen der Traumatisierung nach dem Mord an Vanessa. Ich mache jetzt eine pädagogische Ausbildung. Kinder sind unsere Zukunft.

    Wollen Sie damit verhindern helfen, dass Jugendliche heranwachsen, die zu solch einer Tat wie dem Mord an Vanessa fähig sind?

    Gilg: Möglicherweise.

    Interview: Holger Sabinsky

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden