"Ich habe ja immer CSU gewählt", sagt die Frau mit der roten Jacke, "aber dieses Jahr… – es ist eine Katastrophe." Sie schüttelt den Kopf. Es seien die Personen, mit denen sie Probleme hat. "Wie kann man sich denn so benehmen?", fragt sie. Gernot Zahn nickt verständnisvoll. Diesen Vorwurf hört er nicht zum ersten Mal. Die Art und Weise sei vielleicht nicht immer richtig gewesen, versucht er zu erklären. "Aber Horst Seehofer hat in Berlin auch viel bewirkt." Die Frau schüttelt energisch den Kopf: "Aber so nicht!"
Zahn gibt noch nicht auf.
Er nimmt einen Flyer vom Tisch und zeigt auf das Foto von Hannelore Windhaber. Das ist die CSU-Kandidatin für die Landtagswahl auf dem schwäbischen Listenplatz acht und hier in Lindenberg im Westallgäu zuhause. "Ja, die Hanni würde ich wählen", sagt die Frau. Gernot Zahn nickt. Das reicht ihm. Lächelnd schlägt er vor: Mit der Erststimme soll sie einen Kandidaten ihrer Wahl nehmen und mit der Zweitstimme Hannelore Windhaber auf der CSU-Liste ankreuzen. Nun lächelt auch die Frau. Sie sind sich ganz offensichtlich einig.
Es ist ein harter Kampf um jede Stimme. Das gilt grundsätzlich vor Wahlen, bei dieser aber ganz speziell für die CSU. 43 Prozent, 38, 36, zuletzt 35 – die Umfragewerte sind ausgerechnet in der heißen Phase immer weiter gefallen. Sie haben entsprechend hektische Betriebsamkeit in der Partei ausgelöst. Generalsekretär Markus Blume kündigte "so viel Online-Wahlkampf wie noch nie" an, "so viel Haustür wie noch nie" und "so viel Mobilisierung wie noch nie mit unseren 140.000 Mitgliedern". Die Gernot Zahns der CSU sollen das Ruder herumreißen. Es gibt dankbarere Jobs derzeit im Freistaat.
In Lindenberg mit seinen knapp 12.000 Einwohnern, wo vor fünf Jahren 45,2 Prozent der Wähler für die CSU stimmten, schaut Zahn der Frau mit der roten Jacke noch eine Weile hinterher. "Diese Differenzen bekommt man öfter mit", sagt der 33-Jährige dann. Es ist kühl an diesem Morgen, ein frischer Wind zieht durch die Straßen. Gernot Zahn hat sich einen Schal um den Hals gebunden. Er ist Mitglied im CSU-Ortsverband und hat zusammen mit vier Parteikollegen schon vor acht den Infostand auf dem Marktplatz aufgebaut. Auf Biertischen haben sie Flyer, Hefte und Kugelschreiber ausgelegt. Es gibt Wasserbälle, Aufkleber und Notizblöcke mit weiß-blauem CSU-Logo.
Ein Wahlkämpfer sagt: Es ist wirklich nicht leicht dieses Jahr
Eine Frau läuft zielstrebig auf den Stand zu. "Wenn ich euch schon wähle, muss ich auch was mitnehmen", sagt sie und schnappt sich eine Packung Gummibärchen. Aufmunternd schaut sie die Männer an. "Kämpft ordentlich. Es ist nicht leicht dieses Jahr." Gernot Zahn nickt gequält. Ja, sagt er, leicht sei es dieses Jahr wirklich nicht. "Die Meinungen gehen komplett auseinander", sagt er. Da kommen Menschen zu ihm, die sauer auf die Parteispitze seien, vor allem auf Bundesinnenminister Seehofer, nach all dem Hickhack in den vergangenen Monaten. Aber er hört auch Sprüche wie "Angela Merkel gehört für ihre Flüchtlingspolitik eingesperrt".
Ein Mann in Birkenstock-Schuhen und mit zwei vollen Einkaufstüten in den Händen meint, der Söder sei doch gar nicht schlecht. Und: "Wenn ein Flüchtling straffällig geworden ist, dann gehört er abgeschoben." Zahn fügt schnell hinzu: "Wir haben aber auch eine soziale Verantwortung." So geht das weiter auf dem Marktplatz von Lindenberg, auf vielen anderen Plätzen und vor vielen Haustüren in Bayern. Mal heißt es, die CSU sei zu weich, mal zu hart, der ständige Streit – gar nicht gut, und dann die Sache mit Seehofer… Die Wahlkämpfer bekommen einiges zu hören, die einfachen Mitglieder in den Ortsverbänden genauso wie die Kandidaten.
Ein Rundruf bei Landtagsabgeordneten. Wolfgang Fackler, 43, Stimmkreis Donau-Ries. Er sagt: "Dieses Jahr ist es anspruchsvoller, die Themen unter einen Hut zu bekommen." Es gebe mentale Unterschiede in den Regionen. "Manche drückt Asyl, anderen ist Pflege oder Energie wichtiger." Aber auch bei einzelnen Themen gingen die Meinungen auseinander. "Die einen reden von Abschottung, andere von Weltoffenheit und christlichen Werten", sagt Fackler.
Oder Eberhard Rotter. Der 64-Jährige kommt aus Lindenbergs Nachbarort Weiler und sitzt seit fast 30 Jahren im Landtag. Jetzt tritt er nicht mehr an. "Diese große Bandbreite gab es schon immer", sagt Rotter. Doch nun habe er die Sorge, dass der Partei durch den aktuellen Kurs viele treue Stammwähler wegbrechen. "Denen müssen wir klarmachen, dass die CSU sich nicht so sehr verändert hat."
Oder Karl Freller aus Nürnberg, Petra Guttenberger aus Fürth. Die Stimmung draußen sei doch positiv, sagen sie, die Menschen fragten interessierter, offener und konkreter nach als früher, und Ministerpräsident Markus Söder käme auch gut an. Aber sie verstehen die Umfragewerte nicht. Der Augsburger Kandidat Johannes Hintersberger ebenso wenig. "Herrschaftszeiten, wie kommt das?", rätselt er. Und fragt: "Was machst du mit solchen Wasserstandsmeldungen?"
Die CSU-Leute müssen besänftigen und überzeugen
In diesem Spannungsfeld arbeiten Wahlkämpfer wie Gernot Zahn. Sie hören Beschwerden und Lob, müssen besänftigen und überzeugen. "Viele haben die Hoffnung, dass wir ihnen die große Politik erklären, aber da tun wir uns teilweise schwer", sagt Zahn. Einzelne Punkte im Wahlprogramm stoßen auch bei ihm auf Unverständnis. Das betreffe aber eher die große Politik. Im Lokalen seien viele zufrieden mit der CSU, glaubt er. "Da ist bei uns noch heile Welt. Das sieht in den Großstädten anders aus." Wirklich?
Stimmkreis 108, München-Schwabing. "Guten Abend, wir sind vom CSU-Wahlkampfteam", sagen Peter van Rensen und Inge Linder und lächeln, sobald sich eine Wohnungstür öffnet. Ihren Beutel mit Infomaterial präsentieren sie dabei wie ein Geschenk. Ist die Tür einmal offen, machen wenige sie gleich wieder zu, das ist das Positive an diesem Abend. Auch wenn manche dann doch nicht reden wollen. Andere greifen beim Anblick des Beutels gerne zu. Der junge Familienvater, der verspricht, ihn sich anzuschauen. Die Friseurin, die sich über die Höflichkeit freut. Die alte Dame, die immer CSU wählt. Doch es gibt auch andere Reaktionen, wie sich zeigen wird.
Der 19-jährige Student Peter van Rensen ist zum ersten Mal dabei. Er bildet ein Team mit Inge Linder, Jahrgang 1957, Bezirksrätin. Am 14. Oktober wird ja nicht nur der Landtag gewählt, sondern auch das Personal für die Bezirksparlamente. Van Rensen und Linder eint: kurze Haare, Brille, Lächeln, Motivation. Sie haben jeweils zehn blaue Plastikturnbeutel mit weißen Rauten und der Aufschrift "Das Beste für Bayern" geschultert. Darin: Flyer über Linder und Münchens CSU-Chef Ludwig Spaenle, dazu das Söder’sche Regierungsprogramm.
Die Kaulbachstraße 72-100 und die Gedonstraße 2-99 sind ihr Gebiet. Pro Tür seien eineinhalb bis zwei Minuten eingeplant, sagt Inge Linder. Sie drückt ein paar Klingeln am Eisentor einer Wohnanlage. "Grüß Gott, wir haben ein Päckchen abzugeben." Surren, die Tür geht auf. Zügig marschiert Linder die alten Holztreppen hinauf, van Rensen hinterher, der Boden knarzt bei jedem Schritt. Fast alle Bewohner reagieren freundlich. Das heißt nicht, dass fast alle CSU wählen. "Soso, das Regierungsprogramm", sagt ein Mann. "Dafür hatten sie lange genug Zeit. Da sollte man mal anderen die Chance geben." Auf dem Weg zur nächsten Klingel erzählt Inge Linder ihrem jungen Kollegen von der Smartphone-App für Straßenwahlkämpfer. Wer mag, gibt ein, wie oft er geklingelt und wie viele Taschen er verteilt hat. 30 Punkte gibt es pro Tasche, zehn für jedes Bimmeln. Am Ende des Wahlkampfs gebe es eine Siegerehrung.
Sie treffen auf den nächsten Skeptiker. "Seehofer liegt mir nicht so sehr", sagt der schlanke Herr im blauen Pullover mit Knopfleiste, kleiner Brille und Bücherregal im Hintergrund. "Die CSU wähle ich nicht." – "Keine Chance?", fragt Inge Linder. Nein, denn Herr Seehofer sage, die Migration sei die Mutter aller Probleme. "Da drüben", sagt der Mann, zeigt auf die Wand und meint die Straße gegenüber, "werden Wohnungen vermietet für 4000 Euro." Und die CSU interessiere das nicht.
Wie die CSU die bayerische Politik geprägt hat
Bayern ist seit mehr als einem halben Jahrhundert fest in CSU-Hand. Seit 1945 gab es nur wenige Jahre, in denen kein CSU-Politiker Ministerpräsident war
Von 1945 bis 1946 und von 1954 bis 1957 war Wilhelm Hoegner (SPD) Regierungschef.
Abgesehen davon regierten die Christsozialen ununterbrochen. Von 1946 bis 1950, von 1962 bis 2008 und von 2013 bis 2018 hatte die CSU sogar die absolute Mehrheit im Landtag.
Anfangs ging sie trotzdem noch Koalitionen ein, zwischen den Jahren 1947 und 1950 und dann seit 1966 regierte sie den Freistaat aber allein.
Inge Linder reißt die Augen auf. "Nein", ruft sie entsetzt, das sei genau ihr Thema. "Wir hier in der Stadt wollen etwas anderes, wir setzen andere Themen." Der Mann schüttelt trotzdem den Kopf, lächelt und wünscht einen schönen Tag. Das passiere oft, sagt Linder und seufzt. Dass den Leuten Seehofer oder die Bundespolitik nicht passe. Für Lokales sei da kaum Platz.
Per App haben sich die insgesamt zehn Haustürwahlkämpfer verabredet, um in Zweiergruppen loszuziehen. Start ist in der Luitpoldstraße. München ist ja traditionell SPD-Land. Aber: "Wir gehen davon aus, dass es CSU-affine Straßenzüge gibt", hat Thomas Schmid gesagt, CSU-Chef in Schwabing, dem Stimmkreis von Landtagskandidat Spaenle. Das könne man etwa an Daten aus Wahllokalen ablesen. So lassen sich Affinitäten auf Wahlkreise herunterbrechen und im besten Fall Anhänger und Unentschlossene motivieren.
Eine Frau empfiehlt: Stellen Sie doch mal den Seehofer hin
Im Erdgeschoss öffnet eine Frau mittleren Alters. Ein Wahlkampfteam habe die CSU bitter nötig, bemerkt sie. Linder erzählt vom CSU-Infostand. "Dann stellen Sie doch mal den Seehofer hin, der hat bestimmt großen Zulauf", antwortet die Frau und verschränkt die Arme. Ein Nachbar sagt, die CSU liege ihm nahe, "aber nicht die CDU".
Der Unionsstreit – ein Problem für die Münchner CSU. Es gibt noch andere. Die Grünen etwa, die die SPD als Hauptgegner abgelöst haben, sagen die Wahlkämpfer. Und dass den Menschen grundsätzlich der Ton nicht gefalle. Sascha Sedlmaier, auch ein Mann der CSU-Basis, sagt: "Die einen meinen, wir können uns nicht gegen Frau Merkel durchsetzen und brauchen einen Denkzettel." Die anderen fänden, die Partei schieße im Umgang mit Frau Merkel über das Ziel hinaus. "Also was tun?", fragt er.
Bei dieser Wahl, so viel scheint klar, geht es kaum um Personen, die zur Wahl stehen, um lokale Themen. Es geht ums große Ganze. "Und du als Münchner CSU, als liberale Großstadtpartei, stehst dann da", klagen sie hier. "Wir sind nicht alle Seehofer- und Dobrindt-Groupies", sagt Thomas Schmid. "Wir haben unsere eigene Auffassung von den Dingen."
Was die Reaktionen der Wähler betrifft, reichen die Erfahrungen an diesem Abend von "super" bis "zäh". Manch einen beschäftigt nach zwei Stunden Türklingeln aber erst mal die App. Wie viele Punkte habe ich gesammelt? Bin ich noch beim Status "Einsteiger" oder schon "Gipfelstürmer" oder sogar "Wahlkampflegende"? Der Führende hat 56.000 Punkte. Inge Linder ist das egal. Seit 2003 sitzt sie im Bezirkstag, und da will sie wieder hinein.
170 Kilometer entfernt in Lindenberg zählt auch Anton Wiedemann zu den erfahrenen CSUlern. Der Stadtrat hat etliche Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen hinter sich. Was diesmal anders ist? Am Infostand schielt Wiedemann über den Rand seiner Sonnenbrille. "Die Unzufriedenheit mit der Politik ist auch innerhalb der CSU groß", sagt er. Vor allem Seehofer werde kritisiert. "Bei der Maaßen-Sache hat er sich unnötig weit aus dem Fenster gelehnt." Früher, zu Zeiten von Edmund Stoiber, sei Wahlkampf noch einfacher gewesen. Den habe man den Leuten besser vermitteln können. "Ich habe das Gefühl, Stoiber ist weniger als Machtpolitiker rübergekommen als Söder", sagt Wiedemann.
Während er erzählt, hält ein größerer Wagen an. Am Steuer sitzt Eduard Leifert, SPD-Politiker, einst Bürgermeister in Lindenberg und Landrat von Lindau. Er kurbelt das Fenster herunter und ruft grinsend: "Wiedemann, das hat keinen Sinn mehr, das kannst du lassen." Der wiegt langsam seine Hand hin und her. Soll heißen: abwarten.
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