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Eishalleneinsturz: Der ganze Prozess, ein Trümmerhaufen

Eishalleneinsturz

Der ganze Prozess, ein Trümmerhaufen

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    Im Prozess um die eingestürzte Eissporthalle in Reichenhall hat es erneut einen Freispruch gegeben. (Archivbild)
    Im Prozess um die eingestürzte Eissporthalle in Reichenhall hat es erneut einen Freispruch gegeben. (Archivbild) Foto: dpa

    Tagelang haben Begriffe wie Kausalitätskette, Resorcinharz und Keilzinkenstöße den zweiten Prozess um die Eishallenkatastrophe von Bad Reichenhall bestimmt.

    Dann steht am späten Dienstagvormittag im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Traunstein Robert Schmidbauer auf. Er hat seine beiden Töchter verloren. Seine Frau überlebte schwer verletzt. „Es gab ein unbeschwertes Leben vor dem 2.Januar 2006, und es gibt ein Danach“, hebt er an. Er erinnert daran, wie sich seine Frau Dagmar schwer verletzt aus den Trümmern befreite. „Und was sah sie als Erstes? Unsere Christina, auf dem Bauch liegend, einen Balken im Genick. Der Kopf war fast vom Rumpf abgetrennt. Sämtliche Organe waren gequetscht. Sie war elf. Marina war acht. Meine Frau sah sie nicht mehr. Wir können nur hoffen, dass sie nicht leiden musste.“

    Robert Schmidbauer ist als Nebenkläger in der Neuauflage des Prozesses aufgetreten. Das klingt ein wenig nach Nebenrolle. Eigentlich hätte das Hauptaugenmerk den Opfern und den Hinterbliebenen gelten müssen. Zwölf Kinder und drei Frauen starben in Reichenhall, als das Dach der Eishalle unter Schneemassen einbrach. Bei der juristischen Aufarbeitung der Katastrophe ging es längst nicht mehr um die Frage nach Schuld und Sühne, sondern um etwas ganz anderes. Es ging und es geht immer noch um die Frage, ob die Justiz in Traunstein einen handfesten Skandal produziert hat.

    Ist der Augsburger Bauingenieur ein Bauernopfer?

    Ein einziger Mann soll nach Auffassung des Landgerichts schuld am Einsturz der Eishalle sein. Der Augsburger Bauingenieur Walter G., der 2008 zu eineinhalb Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden ist. Er hatte das Dach der Halle vor 40 Jahren, Anfang der 70er Jahre, konstruiert. Der Gutachter Rüdiger S. wird am Donnerstag im zweiten Prozess erneut freigesprochen, obwohl er der Halle drei Jahre vor dem Einsturz einen allgemein guten Zustand bescheinigt hatte. Ein Mann soll büßen für eine Kette von Versäumnissen, Fehleinschätzungen und Schlampereien. Ein Mann. Ein Bauernopfer?

    Fakt ist: Die beiden Strafprozesse haben eine ganze Reihe von Verfehlungen der Stadtverwaltung ans Licht befördert. Fakt ist auch: Kein Verantwortlicher der Stadt saß je auf der Anklagebank, obwohl schon unmittelbar nach der Katastrophe Vorwürfe laut geworden waren. Der einzige angeklagte Rathaus-Mitarbeiter aus der Bauzeit der Halle ist seit Beginn des ersten Prozesses schwer krank und daher verhandlungsunfähig. „Warum ist die Staatsanwaltschaft nicht ein Mal mit derselben Härte gegen die Stadt vorgegangen wie gegen den Angeklagten?“, fragt Verteidiger Rolf Krüger in seinem Plädoyer.

    Die Eishalle war ein Schwarzbau

    Er ist nicht der Einzige, der sich das fragt. Die Liste der Versäumnisse, die zu der Katastrophe führte, ist lang und mutet teilweise grotesk an. Die Eishalle war gewissermaßen ein Schwarzbau. Für das Gebäude, in dem sich täglich Familien beim Eislaufen vergnügten, gab es keine geprüfte Statik. Subunternehmen hatten an den Holzträgern feuchtigkeitsempfindlichen Harnstoffleim verwendet. Das Dach war von Anfang an undicht. Dennoch wurde das Gebäude 33 Jahre lang nicht saniert. Ohne Statikprüfung wurden vier schwere Lüfter auf die Dachkonstruktion gebaut und eine Verglasung installiert, was die Feuchtigkeit im Innern weiter erhöhte.

    Frühere Gutachten, zum Beispiel zum Brandschutz, haben schwere Mängel aufgezeigt, ohne dass dies eine angemessene Reaktion bei der Stadt hervorgerufen hätte. Rechtsanwalt Krüger nennt den früheren Oberbürgermeister Wolfgang Heitmeier, dessen Stadtbaudirektorin und den Hochbauamts-Chef ein „Bermudadreieck“, in dem jeder Hinweis auf Gefahr folgenlos verschwunden sei.

    "Perfide Entlastungsmaschinerie"

    Und er bezichtigt die Stadtspitze, nach dem Einsturz eine „perfide Entlastungsmaschinerie“ in Gang gesetzt zu haben. Leidtragender sei der Gutachter S. Tatsächlich verschanzen sich die Bauamtsleiterin und der Hochbauchef hinter dessen Studie aus dem Jahr 2003. Nach der Einschätzung, der Zustand des Gebäudes sei gut, habe man keinen Handlungsbedarf gesehen.

    S. hat das Dach aber nur von unten mit einem Teleobjektiv begutachtet. Nässe und Risse in den Trägerbalken waren so nicht zu erkennen. Den Bauexperten der Stadt muss bewusst gewesen sein, dass die Studie oberflächlich war. Die Baudirektorin hat sich schließlich gezielt für ein Billiggutachten für 3000 Euro entschieden. Einen Auftrag, die Standfestigkeit des Hallendachs zu überprüfen, gab es nicht. Der damals für die Instandhaltung der städtischen Gebäude zuständige Beamte sagte als Zeuge, er habe eine gründliche Untersuchung der Eislaufhalle gewollt, sich aber nicht durchsetzen können.

    Wo man auch hinschaut, überall gibt es Hinweise auf fahrlässiges Handeln in der Stadtverwaltung. Und Fahrlässigkeit war das Thema der Prozesse: Die Anklage lautete auf fahrlässige Tötung und Körperverletzung. Wäre man es nicht zumindest den Hinterbliebenen schuldig gewesen, die Rolle der Stadt genauer zu untersuchen? Richter Zenkel drückt es so aus: Der Wunsch der Hinterbliebenen, durch den Prozess möge endlich die Wahrheit über die Schuldfrage ans Licht kommen, habe nicht erfüllt werden können. Verteidiger Rolf Krüger sagt: „Die Stadt hat so lange nichts getan, bis es nichts mehr zu tun gab.“

    Richter machen Stadt schwere Vorhaltungen

    Sogar die Richter machen der Stadt scharfe Vorhaltungen: Karl Niedermeier, Vorsitzender im ersten Prozess, warf dem Hochbauamts-Leiter vor, die Renovierung der über 30 Jahre alten Halle nicht vorangetrieben zu haben: „Man braucht sich nicht zu wundern, dass so etwas passiert, wenn jemand mit solcher Leidenschaft zu Werke geht wie Sie“, fuhr er den Beamten an. Und der Vorsitzende im zweiten Prozess, Jürgen Zenkel, sagt über die Stadtverwaltung: „Es wurde eine Vielzahl von Alarmzeichen missachtet.“ Der erste Prozess habe Zweifel geweckt, ob die als Zeugen geladenen städtischen Mitarbeiter wirklich alles sagten, was sie über den baulichen Zustand der Eislaufhalle wussten. Zenkel hält den Beamten in seiner Urteilsbegründung „Schlamperei, Ignoranz, Verantwortungslosigkeit und Skrupellosigkeit“ vor.

    Keine Beamte auf der Anklagebank

    Aber Beamte der Stadt sitzen nicht auf der Anklagebank. Stattdessen hat die Staatsanwaltschaft die letzte Chance verpasst, weitere Ermittlungsverfahren einzuleiten und weitere Anklagen auszuarbeiten. Nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) im Januar 2010 den Freispruch des Gutachters aus dem ersten Prozess aufgehoben hatte, wäre die Gelegenheit gewesen, nochmals nachzuermitteln. Der BGH hat sogar ausdrücklich empfohlen, in der Neuauflage die Rolle der Stadt genauer unter die Lupe zu nehmen. Nichts dergleichen geschah. Es dauerte mehr als eineinhalb Jahre, bis es Mitte September zum neuen Prozess kam. Mit dem 2. Januar 2011 waren mögliche strafrechtliche Vorwürfe gegen Verantwortliche bei der Stadt verjährt. Ein Zufall?

    Das Vorgehen trägt der Staatsanwaltschaft den Vorwurf ein, sie wolle Beamte der Stadt decken. Doch eines wurde in den Prozessen auch klar: Wie immer, wenn es Tote gibt, weil ein Gemeinwesen versagt, tun sich die Strafverfolger nicht leicht. Meist wird durchaus akribisch ermittelt.

    Und in der Regel werden mehrere Unglücksursachen gefunden. Dann wird die Verantwortung hin und her geschoben, Beschuldigte verschanzen sich hinter Gutachten und Zuständigkeiten. So war es im Jahr 1998 nach dem Zugunglück von Eschede, so war es im Jahr 2000 nach dem Seilbahnunglück von Kaprun. Hunderte Menschen kamen bei diesen Unglücksfällen ums Leben. 19 Angeklagte kamen vor Gericht. Verurteilt wurde niemand.

    "Schlamperei und Vetternwirtschaft"

    Robert Schromm glaubt nicht an einen Zufall. Er hat Oberstaatsanwalt Günther Hammerdinger wegen Strafvereitelung im Amt angezeigt. „Die wahren Verantwortlichen hatten eine mächtige Lobby“, sagt er. Schromm hat am radikalsten die Schuld auf Seiten der Stadt gesucht. Der Rathaus-Spitze wirft er „kongeniale Schlamperei und Vetternwirtschaft“ vor. In beiden Prozessen hat er für einen Freispruch der Angeklagten plädiert. Sie seien nur kleine Rädchen im Getriebe.

    Auch Schromm ist Nebenkläger: Er hat seine Frau Michaela bei der Katastrophe verloren. Nun ist er getrieben von dem Gedanken, die wahren Verantwortlichen zu finden. Er hat es seiner Tochter Ricarda versprochen. Am Krankenbett schwor er es der Kleinen. Beinahe wäre die damals Fünfjährige auch ums Leben gekommen. Ihr Vater musste Ricarda im Krankenhaus beibringen, dass ihre Mutter tot ist. Ricarda hatte stundenlang nur noch geschrien.

    Vor den Bundesgerichtshof ziehen

    Der Witwer stand hilflos am Bett seiner Tochter, selbst kaum weniger verzweifelt. Wer war schuld? Der schwere Schnee? Das brüchige Holz? Der Bürgermeister? Ricarda schlief erst ein, als Robert Schromm versprochen hatte, sich um die Antworten zu kümmern. „Ich hätte damals aber nie gedacht, dass es so schwierig werden würde“, sagt der 47-jährige Organisationsberater vor dem Gerichtsgebäude und zieht sehr kräftig an einer Zigarette. Dann ein Seufzer: „Ich stehe vor einem Trümmerhaufen.“ Langes Schweigen. Schromm kündigt an, wieder vor den Bundesgerichtshof ziehen zu wollen: „Es wird weitergehen, weitergehen müssen.“ Die Erfolgsaussichten schrumpfen in einer zweiten Revision. Das weiß Schromm.

    Bad Reichenhall, Münchner Allee. Links von der breiten Straße in die Kurstadt stehen 15 bunte Stelen, die Gedenkstätte für die Opfer des Eishallen-Einsturzes. Auf einer Tafel sind die Namen von 13 Opfern zu lesen. Nicht alle Hinterbliebenen haben eine Namensnennung gewünscht.

    Selbst um die Errichtung des Denkmals wurde erbittert gestritten. Die Stadt wollte mit aller Macht an der Unglücksstelle eine Hochschule bauen. Viele Angehörige fühlten sich erneut vor den Kopf gestoßen. Jetzt steht die Hochschule. Wo einst die Eishalle stand, wächst jetzt Seegras. Dichtes Seegras. Es verdeckt alle Spuren.

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