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Prozess in Neuburg: Eine Familie kämpft um ihr Kind und gegen den Krebs

Prozess in Neuburg

Eine Familie kämpft um ihr Kind und gegen den Krebs

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    Unser Symbolbild zeigt ein schlafendes Kind. Haben Eltern einem erst wenige Wochen alten Baby Gewalt angetan? Darum geht es vor dem Amtsgericht Neuburg.
    Unser Symbolbild zeigt ein schlafendes Kind. Haben Eltern einem erst wenige Wochen alten Baby Gewalt angetan? Darum geht es vor dem Amtsgericht Neuburg. Foto: imago/Westend61

    Michael Bergmann* sitzt da, das Gesicht in die Hände gestützt. Dann hebt er den Kopf und faltet die Hände. „Ich flehe Sie an, geben Sie uns unser Kind zurück! Sonst stirbt mir meine Frau noch früher, als wir alle dachten. Sie springt aus dem Fenster – oder ich weiß nicht, was sie dann macht.“ Die Worte des 39-Jährigen aus dem Landkreis Neuburg-Schrobenhausen sind gerade verklungen, im Sitzungssaal des Neuburger Amtsgerichts herrscht beklemmende Stille. Das Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung, das derzeit unter dem Vorsitz von Familienrichter Sebastian Hirschberger läuft, ist an Tragik kaum zu überbieten.

    Die Geschichte beginnt im September 2016. Stefanie Bergmann* bemerkt, dass sie wieder schwanger ist. Eine Tochter, Anna-Maria*, haben sie und ihr Mann schon. Doch die Freude währt nicht lange. Nur zweieinhalb Monate nach der guten Nachricht folgt eine schreckliche: Bei der heute 38-Jährigen wird ein triple-negatives Mammakarzinom festgestellt, eine sehr aggressive Form von Brustkrebs, die besonders häufig und schnell Metastasen bildet. Eine Chemotherapie ist unausweichlich. Trotz der toxischen Behandlung, die ihr unmittelbar bevorsteht, lehnt die Frau einen Schwangerschaftsabbruch vehement ab.

    „Ich flehe Sie an, geben Sie uns unser Kind zurück!“

    Am 15. März 2017 kommt die zierliche Lena* per Notkaiserschnitt zur Welt. Mutter und Tochter sind wohlauf und können nach einer Woche das Krankenhaus verlassen. Am Osterwochenende, einen Monat nach der Geburt, stellen die Eltern fest, dass der linke Unterschenkel des Mädchens geschwollen ist. Also bringen sie ihr Baby in die Notaufnahme, wo es untersucht und geröntgt wird. Der Verdacht der verantwortlichen Ärztin: Das Neugeborene muss misshandelt worden sein, da derartige Verletzungen nur durch massive Gewalteinwirkung entstehen könnten. Die Eltern sind fassungslos und weisen jede Schuld von sich – können sie doch nicht einmal blaue Flecken an ihrem Kind entdecken. Dennoch wird Lena auf Drängen des Jugendamts im Mai zu einer Pflegefamilie gegeben. Seit fast einem Jahr kämpft die Familie samt Großeltern nun darum, dass sie Lena zurückbekommt.

    Währenddessen läuft der todkranken Stefanie Bergmann die Zeit davon. Im Kampf gegen den Krebs geht es ihr immer schlechter, sie wird dünner und dünner. Bei einer Größe von 1,68 Metern wiegt sie momentan 47 Kilogramm. Vergangenes Jahr, ungefähr drei Monate nach der Geburt, musste ihr eine Brust amputiert werden. Auch in diesen Tagen hat sich die Situation noch einmal zugespitzt. Seit Donnerstag liegt sie auf der Intensivstation. Sie bekommt nur schwer Luft, weil sie Wasser in der Lunge hat.

    Die Ärzte sprechen von neun Knochenbrüchen

    Der Streit um Lena und der Vorwurf der Misshandlung setzen seiner Frau stark zu, erzählt Michael Bergmann. Aufgeben aber wollen die Eheleute nicht. Sie sind sich hundertprozentig sicher: Kein Familienmitglied hat Lena Gewalt angetan. Bergmann betont, es gebe keinen Funken Misstrauen zwischen ihm, seiner Frau, seinen Eltern und Schwiegereltern – also zwischen allen, die sich in den ersten Wochen nach der Geburt um das Baby gekümmert haben. Die Zeit, in der das Kind nach Aussage von Ärzten und Jugendamt insgesamt neun Knochenbrüche und eine Verletzung der Weichteile erlitten haben soll.

    Die Familie – insbesondere der Vater, der intensive medizinische Recherchen betreibt – hat für die Frakturen eine andere Erklärung: Die Ursache sei im Knochenstoffwechsel des Mädchens zu suchen, der durch die Chemotherapie und einen Vitamin-D-Mangel negativ beeinflusst worden sei, sagt er. Der 39-Jährige spricht von einer sogenannten Rachitis, einer Krankheit, bei der sich die Knochen erweichen und verformen, die jedoch in der Schulmedizin keine Beachtung mehr finde. Raimund von Helden, ein Arzt aus Nordrhein-Westfalen, der sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema Vitamin D befasst, hat die These des Vaters in einem Schreiben bestätigt. Er kennt sieben Fälle, in denen es Familien ähnlich erging. Zur Gerichtsverhandlung konnte der Experte nicht nach Neuburg kommen.

    Unserer Zeitung erklärt er aber telefonisch, dass Babys mit einer Vorgeschichte wie Lena zu Spontanfrakturen neigten sowie zu Brüchen, die ohne böswillige Absicht beim Spielen oder Wickeln verursacht werden könnten. Von Heldens Ansicht nach würden Knochenbrüche generell viel zu schnell als Anzeichen für Misshandlung gewertet. Außerdem werde in Deutschland so gut wie nichts für die Nährstoffversorgung von Schwangeren getan, damit auch nicht für deren Vitamin-D-Haushalt. Während dieses wichtige Vitamin nach wie vor unterschätzt werde, habe die Chemotherapie eine sehr starke Lobby. Deshalb gebe es geschönte Studien, wonach ein Fötus diese strapaziöse Behandlung unbeschadet überstehe.

    Professor Berthold Koletzko vom Haunerschen Kinderspital in München teilt in seinem Gutachten dagegen die Einschätzung des Neuburger Krankenhauses und der Rechtsmedizin. Vor Gericht sagt er: „Ich sehe an den Röntgenbildern, dass das Kind keine Rachitis hat.“ Er finde auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Chemotherapie oder ein Vitamin-D-Mangel die Ursache der Knochenbrüche sein könnten. Eine temporäre Glasknochenkrankheit schließt der Fachmann ebenfalls aus. Koletzko zieht ein klares Fazit: „Diese Verletzungen sind nur möglich durch wiederholte starke Gewalteinwirkung.“

    Zwei Mal pro Woche darf die Mutter ihr Kind sehen

    Während der Professor sein Gutachten vorträgt, schüttelt Michael Bergmann immer wieder ungläubig den Kopf. Er sitzt an diesem Tag alleine neben seinem Anwalt Helmut Eikam im Gerichtssaal – seine Frau ist zu schwach. Auch Familienpsychologin Stella Stehle, die als Nächste an dem kleinen Holztisch vor dem Richter Platz nimmt, kann dem Mann keine Hoffnung machen. Sie spricht unter der Prämisse, dass eine Misshandlung vorliegt, in der Annahme, dass ein Familienmitglied in einem Moment der Überforderung überreagiert hat. „Für die Misshandlung eines Säuglings unter extrem belastenden Bedingungen haben wir aus familienpsychologischer Sicht durchaus Verständnis. Wir würden unter diesen Umständen niemanden als Monster abstempeln.“ Und dann sagt die Psychologin etwas, was Michael Bergmann nicht fassen kann: Nur wenn die Familie Einsicht zeige und eine Misshandlung zugebe, käme eine Rückkehr von Lena aus der momentanen Pflegefamilie überhaupt infrage. Allerdings sei dies im Alter von einem Jahr und nach so langer Zeit bei der Pflegemutter äußerst riskant für die Entwicklung des Kindes. Denn obwohl Stefanie Bergmann ihre Tochter fast zwei Mal pro Woche besucht, sei die Bindung zwischen den beiden nicht eng genug, urteilt die Psychologin.

    Die beiden Vertreterinnen des Neuburger Jugendamts lassen sich durch das Flehen des Vaters nicht erweichen, der Familie das Kind zurückzugeben. Das dürften sie auch gar nicht. Die Mitarbeiter des Jugendamt haben eine Wächterfunktionen. Sehen sie das Kindeswohl gefährdet, müssen sie handeln. „Wir können durch ambulante Maßnahmen das Gefährdungsrisiko für den Säugling nicht reduzieren, auch wenn wir Ihre Bitte aus menschlicher Sicht verstehen“, verdeutlicht eine der Frauen dem verzweifelten Vater, der nur wenige Meter entfernt sitzt. Und das Jugendamt fordert noch mehr: ein Schutzkonzept für Anna-Maria, die andere Tochter der Bergmanns – selbst, wenn noch nie Verletzungen bei der Dreijährigen aufgefallen sind. Das bedeutet, dass Kinderarzt und Kindergarten über den Sachverhalt informiert werden und den Gesundheitszustand des Mädchens regelmäßig überprüfen müssen. Dabei versteht Anna-Maria nicht einmal, wo ihre kleine Schwester geblieben ist.

    Der Vater hat einen Plan, wie er vorgehen will

    Während der Prozess vor dem Familiengericht noch nicht zu Ende ist, drohen den Bergmanns wenigstens auf strafrechtlicher Seite keine Konsequenzen. Die Staatsanwaltschaft Ingolstadt hat ihre Ermittlungen gegen die Familie eingestellt, weil kein hinreichender Tatverdacht für eine Anklage nachgewiesen werden konnte. Damit muss sich das Ehepaar nicht in einem weiteren Prozess vor Gericht verantworten.

    Für das Urteil von Familienrichter Sebastian Hirschberger spielt die Entscheidung der Staatsanwaltschaft keine Rolle. Er muss nachdenken, will noch einmal alle Unterlagen sichten. Michael Bergmann und sein Anwalt wirken erschöpft nach der fast fünfstündigen Anhörung. Doch der 39-Jährige kämpft um seine Tochter Lena – so wie seine Frau gegen den Krebs kämpft. Er hat bereits einen Plan, wie er weiter vorgehen will: Er möchte seinen Schwiegervater als Zeugen hören lassen, außerdem Raimund von Helden, den Arzt aus Nordrhein-Westfalen. Außerdem will er ein eigenes medizinisches Gutachten in Auftrag geben.

    Und er hofft, dass seine Frau bald wieder nach Hause kommt. Am heutigen Montag soll sie die Intensivstation verlassen und in die Abteilung für Thoraxchirurgie des Klinikums Ingolstadt verlegt werden.

    * Die Namen der Familienmitglieder wurden von der Redaktion geändert.

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