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Region: Ein Kindergarten will den Dialekt vor dem Aussterben retten

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Ein Kindergarten will den Dialekt vor dem Aussterben retten

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    So herzlich begrüßt man sich auf Bairisch: Ohne Berührungsängste befassen sich die Kindergartenkinder in Obergriesbach einmal die Woche mit dem Dialekt ihrer Heimat.
    So herzlich begrüßt man sich auf Bairisch: Ohne Berührungsängste befassen sich die Kindergartenkinder in Obergriesbach einmal die Woche mit dem Dialekt ihrer Heimat. Foto: Ulrich Wagner

    Hallo geht gar nicht. Nicht heute. „Servus, griaß Gott, habe die Ehre miteinand“: So begrüßen sich Nele, Theresa, Mathis und Ludwig im Kindergarten Obergriesbach im Landkreis Aichach-Friedberg. Zumindest einmal die Woche. Dann macht Erzieherin Cornelia Meier mit ihren Kindern Dialektunterricht. An diesem Tag ist es wieder soweit: „Jetzt werd boarisch gredt.“ Und boarisch heißt boarisch, jenseits der Lechgrenze.

    Deswegen kommt heute auch nicht die kleine Raupe Nimmersatt, sondern „De gloane Raupm Griagdnedgnua“. 15 Kinder sitzen im Kreis auf einem blauen Teppich. Cornelia Meier kniet in Jeans und Socken dabei und legt die CD ein. Die Kinder jubeln. Sie kennen die Raupe schon, genauso wie das Lied vom schönen Hahn. So laut sie können singen sie: „Gickerl, Gockerl, drob’n auf’m Mist juche, Gickerl, Gockerl, droben auf’m Mist.“

    Welche Dialekte es in Deutschland gibt

    Als Dialekt (abgeleitet vom griechischen Wort dialegomai = mit jemandem reden) wird die von einer Sprache abweichende regionale Mundart bezeichnet. In Deutschland sprechen nach Schätzungen 20 bis 25 Prozent einen Dialekt.

    Oberdeutsche Dialekte in Baden-Württemberg, Bayern und angrenzenden Gebieten (dazu gehören Schwäbisch, Bairisch und Fränkisch)

    Mitteldeutsche Dialekte etwa im Saarland, Rheinland-Pfalz, Hessen, Thüringen und Sachsen (unter anderem Mosel- und Rheinfränkisch, Ripuarisch (Kölsch), Thüringisch und Sächsisch)

    Niederdeutsche Dialekte etwa nördlich der Linie Köln-Frankfurt/Oder (zum Beispiel Niederfränkisch, Ostfälisch und Märkisch)

    Niederdeutsch ist eine Regionalsprache mit eigenen Dialekten wie Ostfriesenplatt. Sorbisch in der Lausitz und das an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste gesprochene Friesisch sind in Deutschland noch erhaltene Minderheitensprachen. dpa

    So geht Dialekt. In wie vielen Familien in Bayern er noch gesprochen wird, ist schwer zu dokumentieren. Eine der wenigen Statistiken stammt aus dem Jahr 1998. Damals sprach in München nur etwas mehr als ein Prozent der Kinder

    „Dialekte sind in eine Nische gedrängt worden“

    Für eine Erkenntnis muss er die Auswertung erst gar nicht abwarten: „Dialekte sind in eine Nische gedrängt worden“, sagt König, der selbst aus Graben im Kreis Augsburg stammt und das beim Reden auch nicht verbirgt. Migranten wegen ihrer Herkunft zu diskriminieren oder Frauen wegen ihres Geschlechts sei ein gesellschaftliches Tabu, sagt er. Aber bei Dialekten gebe es offenbar keine Grenzen: „Wenn ein Sachse anfängt, in seinem Dialekt zu reden, darf jeder ohne Reue darüber lachen.“

    Werner König, ehemaliger Professor an der Uni Augsburg.
    Werner König, ehemaliger Professor an der Uni Augsburg. Foto: Werner König

    Sachsen auf Sächsisch reden zu hören, das kann oft passieren. Ihre Mundart ist nicht bedroht, anders als die bairische. Seit 2009 stuft die Unesco Bairisch als gefährdet ein. Damit ist die Mundart gemeint, die in Oberbayern, Niederbayern, der Oberpfalz und in Teilen Schwabens gesprochen wird. Eine Sprache ist der Organisation zufolge dann in Gefahr, wenn weniger als 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen sie noch sprechen. Für Sepp Obermeier, den Vorsitzenden des Bunds Bairische Sprache, ist der Kindergarten deshalb der entscheidende Ort, um Dialekte zu retten. „Dort entscheidet sich, ob die Mundart bewahrt oder mit Stumpf und Stiel ausgerissen wird“, sagt der Niederbayer.

    Ihm zufolge reicht es nicht, wenn Eltern dem Nachwuchs die Sprache ihrer Heimat vermitteln: „Wenn im Kindergarten vor allem Hochdeutsch gesprochen wird, legen Kinder ihren eigenen Dialekt ganz schnell ab.“ Schließlich wolle jeder Teil der Gruppe sein. Obermeier nennt das den „Überlebenstrieb“ der Kinder. Wenn er daran denkt, wieviel sprachliche Vielfalt auf diese Weise verloren geht, graut es ihm immer – genauso wie der Obergriesbacher Erzieherin Cornelia Meier.

    Wie grüßt man eigentlich in Deutschland?

    Grüß Gott: Begrüßung, seltener auch ein Abschiedsgruß im oberdeutschen Sprachraum, insbesondere in katholisch geprägten Ländern. Der Gruß ist die häufigste Grußform in Teilen Süddeutschlands, Österreichs und Südtirols. Vor allem in ehemaligen Missionsgebieten der irischen Mönche ist diese Grußform verbreitet.

    Pfiat' di: Dies ist ein analoger Abschiedsgruß zu Grüß Gott. Pfiat’ di God (behüte dich Gott) wir oftmals verkürzt zu Pfiat’ Di. Ein Allgäuer ließ sich 2011 die Grußformel vom Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt mit Sitz in Alicante schützen. Allerdings sind nur Kleidung und Druckerzeugnisse aller Art geschützt.

    Servus: Servus ist ein traditioneller, freundschaftlicher Gruß in großen Teilen Mitteleuropas. Er ist von Saarland, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bayern, Süd- und Mittelhessen, Franken und in ganz Österreich sowie Südtirol bis nach Osteuropa gebräuchlich. Er kommt aus dem Lateinischen (servus, lat: „der Sklave“, „der Knecht“) und bedeutet in Kurzform „Ich bin Dein Diener“ oder „zu Diensten“.

    Gude: Gude ist eine universelle Grußformel, die in mittelhessischer, südhessischer, rheinhessischer und Westerwälder Mundart genauso Verwendung findet wie im Moselfränkischen. Gude ist eine Dialekt-Kurzform für „Guten [Tag]“

    Moin: Linguisten nehmen an, dass Moin dem Angeredeten sprachökonomisch „einen Guten“ (= moien) wünscht, was erklären würde, dass Moin zu jeder Tageszeit gebraucht wird. Die Grußformel, die sich seit den 70er Jahren vom Norden über ganz Deutschland ausgebreitet hat, kommt vom friesischen: moi „schön“

    Petri Heil: Die traditionelle Grußformel der Fischer und Angler besteht aus dem lateinischen Genitiv des Namens Petrus und dem Wunsch „Heil!“

    Halali: Der Jägergruß kommt vom dem französischen "ha là li" also "ha, da liegt er (der Hirsch)". Halali ist sowohl Gruß und Jagdruf aus der Jägersprache.

    Adieu: Adieu (auch Ade, Adjö, Ädi) ist ein französischer Abschiedsgruß, der in Frankreich und in den meisten Regionen der Schweiz sowie vereinzelt in Süddeutschland und Österreich benutzt wird. Auch Tschüs hat seinen etymologischen Ursprung im Adieu.

    Ade: Im alemannischen und schwäbischen Mundartbereich kommt diese Grußformel häufig vor. Im schwäbischen Raum ist auch die abgewandelte Form „adet“ gebräuchlich. In Württemberg wird meist von älteren Menschen der Abschiedsgruß ada oder adele verwendet. Im fränkischen Raum ist Ade ebenfalls noch in allen Generationen als alltäglicher Abschiedsgruß etabliert, wird aber zunehmend vom norddeutschen Tschüss verdrängt. Besonders im oberfränkischen Raum wird, wie dort bei vielen Worten üblich, oft die verkleinerte Form Adela verwendet.

    Tschüs: Tschüs hat sich in Norddeutschland langsam aus dem bis in die 1940er-Jahre üblichen atschüs entwickelt und findet sich inzwischen zunehmend auch im hochdeutschen (oberdeutschen) Sprachraum. Besonders im Ostseeraum wird auch die Form tschüssing verwendet; im Rheinland ist auch die Form tschö, in Schleswig-Holstein die Variante tüüs verbreitet und in weiten Teilen Ostdeutschlands auch tschüssi. Norddeutschland, insbesondere Hamburg und Bremen, hatte seit der Hansezeit intensive Handelskontakte mit den Niederlanden, Portugal und Spanien. Deshalb könnte das Wort Tschüs ursprünglich aus dem Spanischen (adiós)oder dem Portugiesischem (adeus) abstammen.

    Ciao: Im Deutschen ist, außer in der Deutschschweiz, die Verwendung nur als Abschiedsgruß üblich, nicht aber als Begrüßung, während in Italien der Gruß in beiden Situationen verwendet wird. Das Wort entstand aus dem venezianischen s-ciàvo, im italienischen "schiavo" „Sklave“, verkürzt von servo suo, sono vostro schiavo!, „Ich bin Ihr Diener!“, „Stets zu Diensten!“

    In ihrer eigenen Kindheit habe es ja schon angefangen, sagt die 28-Jährige. Sie kommt aus Affing, nur ein paar Orte vom Kindergarten entfernt, und spricht hörbar Bairisch. In der Grundschule kam das nicht gut an. „Wie heißt das richtig?“ habe ihr Lehrer immer gefragt, wenn sie im Dialekt bis zehn gezählt habe. Man könnte auch sagen: „Oans, zwoa, drei, vier, bist unten durch bei mir.“

    Kinder sollen Hochdeutsch und Mundart lernen

    Erlebnisse wie dieses haben sich bei Cornelia Meier ins Gedächtnis gebrannt. In ihrem Kurs kann jeder auf Bairisch bis zehn zählen. Die Kinder sollen beides verinnerlichen, Hochdeutsch und Mundart. In ihrem Leitz-Ordner mit dem weiß-blauen Wappen auf dem Deckel sammelt die Erzieherin auch Material über die Geschichte des Freistaats und bayerische Traditionen. „Was gibt’s bloß in Bayern?“ fragt sie. „Vui Berg“, sagt Mathis. „Und was no?“ – „Weißwürschtln.“

    Den Stoff für den Bairischkurs hat Meier allein zusammengestellt, das Begrüßungslied selbst gedichtet. Auch in anderen Kindergärten entstehen die Dialekt-Angebote meist auf Eigeninitiative der Mitarbeiter. Im Kindergarten St. Franz Xaver im Münchner Stadtteil Trudering bietet eine ehemalige Erzieherin einmal die Woche Bairischkurse für Vier- bis Sechsjährige an. Im Deggendorfer Kindergarten St. Marienheim läuft seit acht Jahren ein Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit dem Bund Bairische Sprache. In einzelnen Gruppen spricht dabei der Großteil der Kinder wie zu Hause im Dialekt. Ihre Hochdeutsch sprechenden Altersgenossen sollen spielerisch deren Redeweise übernehmen. Sprachbewahrer Sepp Obermeier ist vom Erfolg begeistert: „Die Kinder saugen die Sprache auf wie ein Schwamm.“ Die Idee müsste von jedem Kindergarten aufgegriffen werden, in dem zumindest ein Teil der Kinder noch Dialekt spricht. Denn jede dialektfreie Kindergartengruppe, sagt er, wird eine dialektfreie Grundschulklasse. Eine Klasse also, so formuliert es Obermeier pathetisch, „in der ein über tausendjähriges Kulturgut unwiederbringlich verloren geht“.

    Die Klassen in der Grundschule Rettenberg im Oberallgäu sind davon noch weit entfernt. Wer die Tür zum Klassenzimmer öffnet, hört dort auch im Unterricht an fast allen Plätzen Kinder Mundart reden. Zwei Drittel ihrer 160 Schüler sprächen noch Dialekt, schätzt Rektorin Anita Scherm. Die 48-Jährige betreut selbst eine dritte Klasse. Sie stammt ursprünglich aus Augsburg, aber nach fast 24 Jahren im Allgäu hört man davon nicht mehr viel. „Je schneller man hier den Dialekt lernt, desto schneller ist man integriert“, meint sie lachend. Auch wenn Hochdeutsch natürlich die wichtigste Ausdrucksweise im Unterricht ist – Scherm sieht es als ihre „Pflicht“, den Dialekt zu bewahren.

    Im Allgäu ist der Dialekt noch stärker vertreten

    Ihre Schüler lieben es. Letztens erst hat Scherms Klasse 3b Pippi Langstrumpf in den heimischen Dialekt übersetzt, der seine Wurzeln im Alemannischen hat: „I hob a Hüs, a kunterbuntes Hüs, a Äffle und a Ross, die lueged do zum Fenschter nüs.“

    Scherm macht alles richtig – zumindest legt das eine Stellungnahme des bayerischen Kultusministeriums zum Thema Dialekt in der Schule nahe. Für

    Sprachwissenschaftler Péter Maitz.
    Sprachwissenschaftler Péter Maitz. Foto: Anne Wall (Archivbild)

    Dumm nur, dass der Augsburger Sprachwissenschaftler Péter Maitz kürzlich eine Studie veröffentlicht hat, deren Ergebnis das hehre politische Ziel konterkariert. Er untersuchte 13 bayerische Schulbücher verschiedener Verlage für Mittelschule, Realschule und Gymnasium. Das Ergebnis hat ihn selbst verblüfft: „Die Bücher legen nahe, dass ein Schüler mit Dialekt vom Rest der Welt nicht verstanden wird und vom Dialekt daher wegkommen muss“, sagte Maitz kurz nach der Veröffentlichung der Studie unserer Zeitung. Selbst Begriffe wie „Semmel“ oder „Wienerle“ seien den Büchern zufolge kein gutes Deutsch. Meist komme die Mundart nur in Form von Heimatliedern, Dialektgedichten oder sogar Witzen vor.

    Stattdessen würden die Kinder an ein norddeutsches Hochdeutsch herangeführt. Aus dem Kultusministerium heißt es, dass Maitz’ Blick zu kurz greift. In der für die Sprachentwicklung wichtigen Grundschule würden die Bücher für den neuen Lehrplan Plus „Dialekte weder als Sprachbarriere noch als Kommunikationshindernis“ darstellen. Weiter verspricht das Ministerium auf Nachfrage unserer Zeitung: „Im Rahmen des Zulassungsverfahrens für Schulbücher wird aber zukünftig ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, dass das Thema Mundarten beziehungsweise Dialekt angemessen und unter Berücksichtigung des sprachlichen Eigenwerts behandelt wird.“ Noch dazu, so fügt der Ministeriumssprecher an, seien „Schule und Unterricht mehr als Schulbücher“.

    Dialekt soll auch in den Schulbüchern vorkommen

    Kaum jemand weiß das besser als Anita Scherm und ihre Kollegen. Die Bücher lässt sie im Unterricht meistens in der Tasche. Wenn überhaupt, sei darin ohnehin nur der bairische Dialekt abgebildet, andere aber nicht. Das Totschlag-Argument, dass ihr Dialekt den Schülern später im Beruf nur Nachteile bringe, kennt Scherm natürlich auch. „Es ist wichtig, den Kindern beides parallel beizubringen.“ Ihrer Erfahrung nach funktioniert das wunderbar. Nur bei der ersten Vergangenheitsform hätten die Dialektsprecher manchmal Probleme. „Ich lief“ sagt in der Mundart natürlich niemand. Völlig wurscht, ob erste oder zweite Vergangenheit: „Da heißt es immer ,I bi gloffa‘.“

    Im Kindergarten Obergriesbach ist die kleine Raupe inzwischen zum Schmetterling geworden. Die Kinder stürmen zurück in ihre Gruppen. Cornelia Meier weiß, dass sie sich am nächsten Tag wieder mit „Hallo“ begrüßen werden. Ihr kommt es nicht darauf an, dass die Kinder künftig nur noch Bairisch reden. „Ich will einfach, dass sie mit dem Dialekt vertraut werden und lernen, dass er zu unseren Wurzeln gehört.“ Deshalb stört es sie auch überhaupt nicht, wenn die kleine Nele nach der Stunde stolz von daheim erzählt: „Da hab ich die CD von der kleinen Raupe auch. Aber halt auf Deutsch.“

    Wie gut sprechen Sie Dialekt? Probieren Sie es in unserem Quiz aus:

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