Wer soll begreifen, was sich da abgespielt hat? Drei Tote in Passau, von Pfeilen durchbohrt, abgefeuert aus einer Armbrust. Und hunderte Kilometer entfernt in Niedersachsen zwei weitere Leichen. Alles scheint irgendwie zusammenzuhängen. Aber wie?
Haben sich hier drei Menschen zu einem Aufsehen erregenden Abschied von der Welt verabredet? Selbst die Profis von Polizei und Staatsanwaltschaft stehen vor einem Rätsel. Warum ausgerechnet Armbrüste? Was hat der Fall mit der Mittelalter-Szene zu tun? Dienten gar blutige Armbrust-Szenen aus der populären Fantasy-Serie „Game of Thrones“ als Vorbild? Handelt es sich um einen kollektiven Suizid? Oder gibt es am Ende sogar einen Nutznießer, der vom Tod der fünf Menschen irgendwie profitiert?
Die Ermittler versuchen nun, Schritt für Schritt das Rätsel zu lösen. Auf viele Fragen haben sie noch keine Antworten. Fest steht aber: Am vergangenen Freitag gegen 20 Uhr kündigen sich per Telefon drei Personen in einer pittoresken Pension am Stadtrand von Passau an. Einfache Zimmer, viel Holz, idyllische Umgebung. Zwei Stunden später checken die drei ein. Sie sprechen nicht viel. Der Mann mit dem langen Bart, Torsten W., 53, trägt eine Tarnjacke. Die zwei Frauen sind schwarz gekleidet und haben Piercings. Farina C., 30, füllt den Anmeldezettel aus und schreibt dazu, dass sie mit zwei Begleitpersonen übernachten wolle. Die 300 Euro für ein Zimmer für drei Tage zahlt sie gleich im Voraus. Dann ziehen sich die drei auf das Zimmer 20 zurück.
Die Opfer in Passau hatten ein Faible fürs Mittelalter
Am nächsten Vormittag gegen 11.30 Uhr macht ein Zimmermädchen eine grausige Entdeckung: Torsten W. und Kerstin E., 33, liegen Hand in Hand tot auf dem Bett. Sie haben mehrere Pfeile im Körper. Vor dem Bett liegt Farina C. Sie hat einen Pfeil im Hals. Die Ermittler finden später drei moderne Armbrüste. Und: zwei Testamente, die sie den beiden Toten auf dem Bett zuordnen. Sie sollen ein Paar gewesen sein. Alle drei hatten ein besonderes Faible fürs Mittelalter.
Warum sie sich ausgerechnet Passau als Ort für ihr Ableben ausgesucht haben, ist unklar. Fest steht, dass sie zuvor in Österreich waren. Zumindest eine der drei Armbrüste haben sie dort gekauft. Das belegt eine Quittung. Den weißen Pick-up-Wagen von Torsten W. lassen die Ermittler jetzt untersuchen.
Vieles an diesem bizarren Fall ist unklar. Die Ergebnisse der Obduktion bringen am Dienstag zumindest Antworten auf die Frage, was in der Pension passiert ist. Demnach sieht es so aus, als ob sich die drei zu einem gemeinsamen Suizid verabredet haben. „Es gibt keinerlei Kampf- oder Abwehrspuren im Zimmer“, sagt Walter Feiler, Sprecher der Staatsanwaltschaft Passau, unserer Redaktion. Man habe derzeit auch keine Hinweise darauf, dass eine vierte Person beteiligt gewesen sei. Das Pensionszimmer war Feiler zufolge von innen abgesperrt.
Das Obduktionsergebnis legt nahe, dass Farina C. die beiden anderen mit Schüssen aus den Armbrüsten getötet hat – wohl auf deren Verlangen. Die Leiche von Torsten W. weist fünf Einschüsse von Pfeilen auf: zwei im Kopf, zwei im Brustkorb und einen im Herz – der auch die Todesursache war. Kerstin E. hatte Pfeile im Herz und im Kopf. Wahrscheinlich trafen die ersten Pfeile jeweils ins Herz und verursachten den Tod. Die anderen wurden dem Obduktionsergebnis zufolge eher danach gesetzt.
Höchstwahrscheinlich beging Farina C. danach mit der Armbrust Suizid. Ein Pfeil traf sie in den Hals und durchtrennte auch das Rückenmark. Wie genau sie diesen tödlichen Schuss selbst setzte, ist nicht geklärt. Experten gehen aber davon aus, dass ein geübter Schütze sich selbst mit dieser Waffe töten kann.
Wie Psychotherapeut Lüdke den Fall bewertet
Über allem aber steht die Frage: warum? Der Essener Psychotherapeut Christian Lüdke hat schon viele Verbrechen analysiert. Er bereitet Spezialeinheiten der Polizei psychologisch auf ihre Einsätze vor. Und er hat zehn Jahre lang in der Selbstmordforschung gearbeitet. Auch Lüdke sagt unserer Redaktion: „Für mich sieht der Fall nach einem erweiterten Suizid aus.“
Dass die Toten durch eine Armbrust starben, ist für ihn kein Zufall: „Erstens sind Armbrüste im Vergleich zu anderen Waffen sehr leicht zu beschaffen. Zweitens passt die Art und Weise möglicherweise zu den Vorstellungen der Toten vom Rittertum.“ Natürlich kann Lüdke aus der Ferne keine eindeutige Diagnose stellen. Er erklärt aber, dass ein Selbstmord oft durch „depressive Persönlichkeitsanteile begünstigt“ werde. „Als Mitglieder eines Mittelaltervereins hatten sie ein zweites Ich, ein Leben in der Vergangenheit. Es kann zu einer Sucht werden, dieser Andere sein zu wollen – besonders, wenn jemand psychisch instabil ist.“
Kurz nach den Ereignissen von Passau, als in der Pension beinahe schon wieder so etwas wie Alltag einkehrt, bekommt der Fall eine zusätzliche dramatische Dimension. Als Polizisten die Wohnung von Farina C. in der Kleinstadt Wittingen in Niedersachsen betreten, entdecken sie zwei weitere Leichen – ohne Pfeile im Körper. Und auch eine Armbrust finden sie dort nicht.
Wie die beiden gestorben sind, ist noch unklar. Die Ergebnisse der Obduktion stehen noch aus. Ein Polizeisprecher sagt nur, dass es keine Hinweise auf äußere Gewalteinwirkungen gebe. Geklärt ist jedoch die Identität der Toten. Bei der einen handelt es sich um die 35-jährige Lebenspartnerin von Farina C. Sie war Grundschullehrerin. Die andere ist eine 19-Jährige, die unter derselben Adresse gemeldet war wie das Frauenpaar. In welcher Beziehung sie zu den beiden stand, sagt die Polizei nicht. Farina C. war erst vor wenigen Monaten nach Wittingen gezogen. Zuvor hatte sie in Weinheim noch eine Fortbildung zur Bäckerei-Verkaufsleiterin erfolgreich als eine der Besten abgeschlossen.
Eine Armbrust ist im Handel frei erhältlich
Was hat es nun mit der Armbrust auf sich? Obwohl sie eine tödliche Waffe sein kann, erlaubt das deutsche Waffengesetz den Erwerb und Besitz nahezu ohne Einschränkungen, erklärt Martin Scholtysik, Sprecher des bayerischen Innenministeriums. Die einzige Bedingung für den Erwerb ist: Der Käufer muss volljährig sein. Der Händler ist dazu verpflichtet, dies zu kontrollieren.
Doch warum sind die Bestimmungen so lax, obwohl es immer wieder zu schweren Vorfällen kommt? Nach Auskunft des Deutschen Schützenbundes sind Armbrüste als Angriffswaffen kaum geeignet. Selbst geübte Schützen bräuchten mehrere Minuten, um eine Armbrust zu laden. Laut Innenministerium fällt die Armbrust nach dem Waffengesetz unter die „Schusswaffen gleichgestellten Gegenstände“. Der Unterschied zu Schusswaffen wie Pistolen oder Gewehren ist: Die Geschosse werden nicht durch einen Lauf abgeschossen. Gerade unter Mittelalter-Anhängern oder in der Computerspiel-Szene gilt die Armbrust als faszinierende Waffe, mit der man schnell und nahezu lautlos töten kann.
Die Toten von Passau waren Mitglieder in einem Verein für mittelalterliche Lanzen-Wettkämpfe zu Pferde. Das ist bisher die einzige Verbindung zwischen Torsten W. und Kerstin E. sowie Farina C. Es gibt sogar eine eigene Liga für solche Turniere. Torsten W. betrieb seit einigen Monaten in Hachenburg im Westerwald den Mittelalter-Laden „Milites conductius“, was zwar falsches Latein ist, aber wohl so viel wie Söldner heißen soll. Er verkaufte unter anderem Schwerter, Messer und Met, also Honigwein.
Es ist ein skurriler Ort, dieser abgelegene Laden. Hinter einem Fenster rekelt sich auf einem Tresen eine Schaufensterpuppe in schwarzen Nylonstrümpfen, mit an Blut erinnernder Farbe beschmiert. Blaue Seile hängen um Arme und Beine der Puppe, Ketten um den Hals. Am Eingang kündigt eine Tafel Schwertkampftraining dienstags und donnerstags an. Hinten türmen sich leere Holzkisten, auch eine Feuerstelle und eine Streitaxt sind zu sehen. Irgendwie gruselig, aber es gibt viele Menschen, die auf solche Mittelalter-Dinge stehen.
Augsburger warnt vor voreiligen Schlüssen
Adelbert Seiberlich und seine Historische Bürgergilde Augsburg erforschen das Leben im ausgehenden Mittelalter und vor allem der beginnenden Renaissance am Lech. Regelmäßig treten Abordnungen der 160 Mitglieder detailgetreu gekleidet bei Ritterspielen und historischen Festen auf, etwa beim berühmten Kaltenberger Ritterturnier. Seiberlich ist wichtig, dass man bei der Gräueltat von Passau keinen Zusammenhang zum Ritterwesen zieht, wo gar keiner bewiesen ist. „Niemand weiß, was hinter diesem Verbrechen steckt. Vielleicht war es eine Liebestat, die genauso mit einem Küchenmesser hätte verübt werden können.“
Natürlich ist das Duell mit Waffen ein Spektakel, das Tausende zu den Ritterspielen lockt. „Die Begeisterung der Menschen für den Kampf ist uralt“, sagt Seiberlich. Eine übersteigerte Faszination für Waffen fällt ihm nicht auf – weder bei Mittelalter-Fans noch bei Leuten in den Vereinen. „Das sind professionelle Darsteller, keine Waffennarren. Sie bieten den Leuten eine Show – und nichts anderes wollen die Besucher.“
Seiberlich hat viel zu den tödlichen Armbrust-Schüssen gelesen. „Viele Mitglieder in den Mittelalter-Vereinen fürchten jetzt, dass die Behörden jegliche Waffen bei den Vorführungen verbieten“, sagt er. Das sei blinder Aktionismus. Eine moderne Armbrust, wie sie bei dem Verbrechen benutzt wurde, habe „absolut nichts“ mit einer historischen zu tun, wie sie oft zu Dokumentationszwecken bei mittelalterlichen Festen getragen wird. Die heutigen hätten eine viel größere Durchschlagskraft. Dass man diese Modelle einfach so kaufen kann, „das wundert mich schon lange“. Doch Seiberlich räumt ein, dass Armbrüste im Mittelalter tödliche Kriegswaffen waren, die Rüstungen wie Kettenhemden durchdrangen. Erst mit dem Aufkommen von Feuerwaffen rund um die Wende zum 16. Jahrhundert seien Armbrüste aus der Mode gekommen.
Heute sind sie bei Mittelalter-Festen häufig zu sehen. Dabei ist das Mitführen von Armbrüsten bei öffentlichen Veranstaltungen laut Innenministerium verboten, man braucht eine Ausnahmegenehmigung. Schwerter oder Dolche unterliegen als Hieb- und Stichwaffen dem Waffengesetz und dürfen grundsätzlich nicht mitgeführt werden. Ausnahme: abgestumpfte Schwerter, die nur der Kostümierung dienen. Auch Pfeil und Bogen sind keine Waffen im Sinne des Gesetzes. Und Armbrüste eben auch nicht. Dass sie trotzdem den Tod bringen können, zeigt das Rätsel von Passau.