Eigentlich habe sie immer gerne in der Erstaufnahme gearbeitet. Von Anfang an hatte Christine M.* kein Problem mit Asylbewerbern an sich, vor allem nicht mit den Familien aus dem geschundenen Bürgerkriegsland Syrien. 2015 hat M. in der Donauwörther Alfred-Delp-Kaserne eine Gesundheitsabteilung mit aufgebaut. Im Februar 2018 aber passierte es. M. wurde von einem Asylbewerber aus Schwarzafrika bedroht und angegriffen. Seitdem ist sie krankgeschrieben. Neben dem erlittenen Trauma sei es allem voran eine spürbare Ignoranz gegenüber ihrem Fall, die ihr schwer zu schaffen mache, sagt sie. Doch auch wenn die Wahrheit weh tue – man müsse sie kennen.
Alle Asylbewerber mussten irgendwann mal an M. vorbei. Sie habe gerne mit den Menschen aus anderen Ländern gearbeitet, erzählt sie. Und zwar ganz vorne, von Anfang an, bei den Gesundheitsuntersuchungen. Auch schüchtern sei sie nie gewesen, wenn es sein musste, konnte sie auch mal resolut sein, sagt die Mutter zweier erwachsener Kinder. Als 2015 die Asyl-Erstaufnahme in der ehemaligen Bundeswehrkaserne eingerichtet und Personal gesucht wurde, hat sich die ehemalige medizinische Assistentin kurzer Hand beworben. Die große Politik stand bei ihr weniger im Vordergrund, eher der Wille, anderen zu helfen und eigene Arbeitserfahrungen miteinzubringen. Screenings, Organisation der Blutabnahmen und, und, und – sie habe „immer direkt am Menschen gearbeitet“. Es gab viel zu tun im Herbst 2015, auf dem Höhepunkt dessen, was nun in der Rückschau auch unter dem Begriff Asylkrise firmiert.
„Wir wurden überrollt damals“, sagt M. Es sei vorgekommen, dass 100 Impfungen auf einmal notwendig wurden. Unter den Asylbewerbern – zunächst meist aus Syrien und Afghanistan – habe es zwar die eine oder andere Unstimmigkeit gegeben, etwa wenn ab und zu Muslime und Christen aufeinandertrafen, aber sie selbst habe stets „ein sehr gutes Verhältnis“ zu sämtlichen Asylbewerbern gehabt. Merklich sei gewesen, dass es sich überwiegend um Familien aus den Konfliktgebieten gehandelt habe. Kleinere Reibereien auf engem Raum: ja. Großer Krach? Nein. Der kam erst später.
Im November 2017 schlug die Stimmung um
Im November 2017 drehte sich der Wind – „die Stimmung schlug um“. Kaum noch Familien seien der Donauwörther Erstaufnahme zugewiesen worden, dafür mehrheitlich junge Männer, hauptsächlich aus Gambia. Und die hatten eine deutlich schlechtere Bleibeperspektive. Das und auch schlichtweg andere Sitten, wie ein gewohnheitsmäßiger Marihuanakonsum von einigen, dazu öfters auch Alkoholmissbrauch, hätten teils für eine aggressive Atmosphäre auf den Fluren vor M.s Büro gesorgt. „Eigentlich war meine Türe immer offen, irgendwann hatte ich sie immer öfter zu außerhalb der Sprechzeiten“, berichtet sie. „Ich wurde wachsamer.“
M.s Ansicht nach hätten die wachsenden Aggressionen auch mit den einflatternden Ablehnungsbescheiden zu tun gehabt: „Die Männer hatten keine Perspektive.“ Und trotzdem, betont sie, das sei nie eine Entschuldigung für Gewalt. Für Gewalt, die sie selbst erleiden musste.
Den Täter kannte sie. Dreimal habe sie ihn getroffen. Er war abgelehnt worden, forderte von M. aber mit Nachdruck und lautstark ein Attest, welches seine Abschiebung verhindern sollte. Anfang 20 sei der Gambier gewesen, dem sie noch erklärt habe, dass eine Fälschung nicht gehe und er trotz aller Schwierigkeiten froh sein sollte, dass nicht noch eine körperliche Krankheit dazukomme. Als er sie das erste Mal an der Schulter packte, sei das Ganze noch glimpflich ausgegangen. Hausverbot habe der Afrikaner danach bekommen in dem Gebäude, in dem M. arbeitete. Dreimal habe sie in dieser Zeit miterlebt, wie es zu Randale kam.
"Give me my documents"
Der Abend des Rosenmontags 2018 ist noch vielen in und außerhalb der Erstaufnahme in Donauwörth in Erinnerung. Schier skurrile Bilder boten sich damals. Dutzende Gambier zogen demonstrierend durch die Stadt, wollten nach Italien ausreisen. Der Zugverkehr musste zeitweise eingestellt werden, Polizeikolonnen aus Augsburg rückten an. Daneben warteten Faschingsfreunde nach den feuchtfröhlichen Umzügen auf ihre Busse. Unverrichteter Dinge zogen die Demonstranten am späteren Abend wieder zurück in die Kaserne. Am Faschingsdienstag passierte es dann – eigentlich habe sich, so M., die angespannte Lage vom Vortag bis zur Mittagszeit wieder beruhigt gehabt. Der junge Mann sei – M. war auf dem Weg ins Büro – plötzlich vor ihr gestanden, trotz des Hausverbotes. „Give me my documents“ („Gib mir meine Dokumente“) habe er geschrien. Dann sei alles sehr schnell gegangen: Mit der linken Hand habe er nach M.s Oberkörper geschlagen, der Kopf schlug an eine Tür.
„Gott sei Dank lief ein Sicherheitsmann gerade Streife“, sagt M. – „ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er nicht da gewesen wäre“. Der Wachmann habe sie hinter einer Tür in Sicherheit gebracht, musste sich bis zum Eintreffen der von M. herbeigerufenen Polizei mit dem Gambier auseinandersetzen. Was folgte, sei ein „totaler Schock“ gewesen, sagt sie. Sie war unvermittelt ein Gewaltopfer. Ein, zwei Tage später habe man den Täter in eine andere Einrichtung gebracht.
Die Mitarbeiterin leidet unter Albträumen
M. ging es es schlecht in der Folge: Albträume, Zittern, Schweißausbrüche. Einen Arbeitsversuch kurz nach der Tat musste sie abbrechen. „Ich bin total abgesackt“, sagt sie. Langsam tastet sich M. wieder an so etwas wie einen Alltag heran. Die Szene spiele sich noch heute in ihrem Kopf ab, in Träumen komme die Kaserne immer noch regelmäßig vor. Dann sei M. immer in Gefahr. Mittlerweile fahren ihr Mann und sie nach Nördlingen zum Einkaufen. Zu groß die Furcht, in Donauwörth jemandem aus der Kaserne zu begegnen. Es sei ihr schier peinlich, sagt sie, dass sie Angst bekomme, wenn sie Afrikanern begegne: „Ich weiß, dass diese Leute ja nichts dafür können. Ich fühle mich schlecht, dass ich mich vor ihnen fürchte.“
Derzeit mache sie eine Traumatherapie. Sie wolle das Erlebte verarbeiten. Auf die Erstaufnahme mag sie indes nichts kommen lassen, sagt M. Die Mitarbeiter leisteten dort eine „hervorragende Arbeit“.
Gegenüber der Umwidmung der ihrer Meinung nach ohnehin zu groß bemessenen Erstaufnahme mit bis zu 1000 Plätzen in ein Ankerzentrum sei sie mehr als skeptisch: „Das Ganze geht nur dezentral. Eine menschenwürdige Unterbringung ist selbst in einer Vorzeigeeinrichtung wie in Donauwörth so nicht möglich.“ Politiker, die anderes behaupteten, halte sie für „weltfremd“. Andererseits sei es merklich, dass viele Asylsuchende eine völlig falsche Vorstellung von Deutschland als „Schlaraffenland“ hätten. Das müsse klar benannt werden, es gehöre zur Wahrheit. Genauso wie ihre eigene Erfahrung, dass „sich wahrscheinlich 90 bis 95 Prozent der Asylbewerber in der Erstaufnahme gut benehmen“. Die anderen jedoch, sie bestimmten all zu oft über die Stimmung vor Ort.
Um die Erstaufnahmeeinrichtung in Donauwörth geht es auch in unserem Podcast. Hier können Sie reinhören.
Skeptisch sei sie auch gegenüber dem berühmten Satz von Kanzlerin Merkel: „Wir schaffen das“. So einfach sei es nicht. Ohne dass man zum Beispiel wirksam unterscheide, dass nur politisch oder religiös Verfolgte Asyl genießen, andere, die in den Bereich anderweitiger Migration fielen, aber eben nicht, werde das Thema unter den Bedingungen nach 2015 kaum zu bewältigen sein.
Für M. ist auch ihr eigener Konflikt noch nicht gelöst. Es habe ihr wehgetan, dass viele direkt oder indirekt abwinkten bei ihrer Geschichte. Dass ihr das Gefühl vermittelt worden sei, der Fall passe irgendwie nicht hinein ins Geschehen rund um die Erstaufnahme.
Sie sei kein Mensch, der jetzt einen Groll hege gegen irgendjemanden. Doch das Erlebte, „es muss berichtet werden“. Alles andere wäre achtlos. Weder das Verfahren noch die Albträume sind beendet.
Ende August soll Christine M.s Fall vor dem Amtsgericht Nördlingen verhandelt werden. Die juristischen Vorwürfe gegen den Angeklagten: Vorsätzliche Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung.
*Name geändert
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