Vor der Einfahrt steht ein Bobbycar, eine Nachbarin gießt ihr Blumenbeet, nur das Gezwitscher der Amseln durchdringt die Stille. Im Neubaugebiet im Dirlewanger Osten im Unterallgäu scheint es sie noch zu geben, die heile Welt. Doch wenn Marcus Spicker die Tür zu seinem Haus öffnet und seine Geschichte erzählt, bricht diese wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Marcus Spicker war Vater. Vater eines Kuckuckskindes. Er mag dieses Wort eigentlich nicht. Denn was so lieb und harmlos und auch ein bisschen witzig klingt, hat sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Über zwei Jahre hat er ein Kind großgezogen, das nicht seines war. Jetzt hat er keinen Kontakt mehr zu dem Jungen, der keine 20 Kilometer entfernt lebt. Doch die Gefühle für sein verlorenes Kind kann Marcus Spicker nicht so einfach abstellen.
Seine Geschichte prägt ihn bis heute: Im Frühjahr 2003 erzählt ihm seine langjährige Freundin, dass sie ein Kind erwartet. Die beiden heiraten, ziehen in eine Doppelhaushälfte, eine Familie wie aus dem Bilderbuch: Ein Jahr bleibt Marcus Spicker mit dem Kind zu Hause.
Als er bemerkt, dass seine Frau ihn betrügt, bricht die heile Welt zum ersten Mal zusammen. Die beiden trennen sich, die Mutter zieht mit dem Buben aus. „Das leere Kinderzimmer war kaum auszuhalten“, sagt Marcus Spicker heute.
"Irgendwann ist es mit komisch vorgekommen"
Immer häufiger kommt es zu Problemen. Marcus Spicker darf den Buben nur für eine Übernachtung am Wochenende zu sich holen, sonst nie. „Irgendwann ist es mir komisch vorgekommen.“ Als ein Bekannter zu ihm sagt: „Du kannst dir ja nicht mal sicher sein, ob der Bub von dir ist“, winkt Marcus Spicker noch ab. Zweifel bleiben. Er bestellt ein Testset. Mit dem Wattestäbchen nimmt er Proben aus seinem Mundraum und dem des Buben. Da ist er sich noch zu 99,9 Prozent sicher, der Vater zu sein.
Als das Testergebnis an einem Freitag kommt, ist der Kleine wieder bei ihm. Das Kind bekommt nichts davon mit, wie Marcus Spicker die E-Mail liest, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wird, wie der Rest der heilen Welt zusammenbricht und Platz macht für Enttäuschung, Wut, Trauer.
Marcus Spicker heult, trinkt ein Bier, sitzt da und schaut ins Leere. „Wem soll ich es sagen?“, denkt er sich. Und: „Was kann ich nur tun, um den Kleinen nicht zu verlieren?“ Spicker öffnet sich seiner neuen Freundin. „Allein hätte ich’s nicht durchgestanden.“ Er konfrontiert seine Ex-Frau mit dem Testergebnis, doch sie weigert sich, den richtigen Vater des Buben zu benennen.
Weiterhin offiziell der Vater bleiben
Marcus Spicker versucht, mit ihr Absprachen einzugehen, will weiterhin offiziell der Vater bleiben. Doch es misslingt: „Letztlich war mit der Frau an Absprachen nicht zu denken“, sagt er heute. Er lässt die Vaterschaft aberkennen, will dem Buben nicht auf Dauer etwas vorspielen, das schade ihm nur. Der Kontakt bricht ab. „Ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste, was einem passieren kann.“ Spicker hofft, dass der Junge irgendwann Fragen stellt, wer denn der Mann auf alten Bildern ist, und sich auf die Suche macht. Inzwischen hat Marcus Spicker seine Freundin geheiratet. Er ist sich sicher, dass die beiden Kinder, die sie bekommen hat, von ihm sind. Klar sei er anfangs vorsichtiger gewesen, misstrauischer, aber auf Dauer habe er so nicht weiterleben können. Stattdessen setzt sich der 39-Jährige für das Thema ein, schreibt im Internet (kuckucksvater.wordpress.com) von seinen Erlebnissen und ist in Kontakt mit anderen Kuckucksvätern und -kindern. Es macht ihn wütend, wenn solche Fälle wie ein Kavaliersdelikt behandelt werden, wenn Mütter unschuldig davonkommen. „Für Väter und Kinder ist das Betrug.“ Ein verpflichtender Vaterschaftstest gleich nach der Geburt würde Aufschluss über die wahren Familienverhältnisse geben, glaubt Marcus Spicker. Und der Test würde Druck auf die Frauen ausüben, ihre Familie nicht länger zu belügen. Dass Väter bestraft werden, wenn sie heimlich einen Test machen, findet Spicker dagegen nicht in Ordnung – denn schließlich gehe es nicht um ein paar Kinder und Väter. In Studien ist von vier bis zehn Prozent die Rede. Geht man von dieser Quote aus, wären das über 25 000 Kuckuckskinder, die im vergangenen Jahr in Deutschland geboren wurden.
Marcus Spicker weiß nicht, ob sein Kuckuckssohn je von ihm erfahren wird. Seit fünf Jahren hat er ihn nicht mehr gesehen – bis er vor kurzem den neun Jahre alten Sohn seiner Frau zu einem Fußballspiel begleitet hat. In der gegnerischen Mannschaft spielte sein vermeintlicher Sohn, das Kind, das er zwei Jahre lang als sein eigenes angesehen hatte. Er hat ihn nicht angesprochen, wollte ihn nicht durcheinanderbringen, als Vater, der er ja eigentlich nicht ist. „Aber der Kleine hat immer seinen Platz bei mir.“