Augsburg/Landshut 28 Verhandlungstage lang hat Wolfgang R. von den Ermittlern den Spiegel vorgehalten bekommen. Das, was darin zu sehen war, ließ die Zuschauer im Landshuter Schwurgerichtssaal frösteln.
Ein Arzt, der heilt und tötet, dessen Ex-Frauen vergiftet wurden und dem nun erneut eine Verurteilung wegen Mordes droht. Der 62-Jährige schweigt. Den Prozessbeteiligten wird durch Zeugenaussagen schnell klar: Dieser Mann, der so unscheinbar in ausgewaschener blauer Gefängniskluft, aber mit hellwachem Blick auf der Anklagebank sitzt, hat viele Gesichter.
Der Mörder
1984 ermordet R. den Vermieter seiner Praxis im Odenwald, indem er ihn erst betäubt und ihm dann einen Schnitt in der Nase zugefügt hat. Der Mann erstickt an seinem eigenen Blut. R. steckt seine Praxis in Brand, um die Tat zu vertuschen und die Versicherungssumme zu kassieren. Doch die Ermittler kommen ihm auf die Schliche. Kurz bevor er 1987 in einem Indizienprozess wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wird, nimmt R. im Gerichtsaal in Darmstadt einen Wachmann als Geisel. Zwei Tage ist er auf der Flucht. 23 Jahre später droht ihm nun wieder "lebenslänglich": Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass R. an Ostern 2008 seinen Bekannten Anton F. aus Kirchasch (Landkreis Erding) aus Habgier erschossen hat. Um an das Vermögen des Finanzbeamten heranzukommen, hat er laut Staatsanwaltschaft das Testament gefälscht und seine damalige Lebensgefährtin Sonja S. als Alleinerbin eingesetzt. Am Tatort wird außerdem Blut einer seiner Patientinnen gefunden (siehe Infokasten). Die Ermittler gehen davon aus, dass R. diese Spur absichtlich legte. Sie ist nun das stärkste Beweismittel der Staatsanwaltschaft.
Der Arzt
R. gilt als talentierter Arzt, ein Ex-Vorgesetzter bezeichnet ihn als fachliches Genie. Patienten schätzen an ihm, dass er auch mal Tacheles redet. Nach dem Studium in Würzburg arbeitet er dort an einer Klinik. Anfang der 1980er Jahre lässt er sich als Orthopäde im Odenwald (Hessen) nieder. Nach seiner Haftentlassung im Jahr 2003 ist er in Frankfurt und Deggendorf angestellt, 2006 zieht er nach Augsburg und arbeitet im Stadtteil Göggingen in einer Praxis. Jahresgehalt: 130 000 Euro.
Der Lügner
Seine Arzthelferinnen nennen ihn "Käpt'n Blaubär", weil er so viele Geschichten erzählt. Immer wieder fällt R. auf, weil er vom israelischen Geheimdienst Mossad, von Afghanistan-Reisen, kontaminierter Munition, Schießversuchen spricht. "Er hat Stunden damit zugebracht, grausame Geschichten zu erzählen. Wenn das alles nicht stimmt, bleibt nur der Schluss, dass er von Grausamkeiten fasziniert war", sagt sein Ex-Therapeut. Gutachter Prof. Norbert Nedopil attestierte R. ein "Münchhausen-Syndrom": krankhaftes Lügen.
Der Liebhaber
R. kommt bei Frauen gut an. Er war viermal verheiratet und hatte etliche Freundinnen - obwohl er 17 Jahre seines Lebens im Gefängnis saß. Seine vierte Ehefrau lernt er während seiner Haftzeit kennen und heiratet sie 1998 im Knast. In der Sakristei der Gefängniskirche kommen sie sich näher. Zunächst sei er liebevoll gewesen, später habe er sie betrogen und geschlagen, sagt seine Ex. Auch seine anderen ehemaligen Liebschaften lassen kein gutes Haar an ihm. Das Merkwürdige: Vier Frauen, die mit R. eine Beziehung haben, weisen Vergiftungssymptome auf. So weit kam es bei R.'s letzter Freundin Sonja S. nicht. Er zieht sie anders ins Unglück: Die 36-Jährige ist wegen Beihilfe zum Mord und Betrugs angeklagt. Der Staatsanwalt geht davon aus, dass sie mit dem Tod Anton F.'s nichts zu tun hat. Sie bekommt voraussichtlich eine Bewährungsstrafe, weil sie R. geholfen hat, die Krankenkasse um 40 000 Euro zu betrügen. Die gemeinsame Tochter (1) zieht S. alleine groß.
Der Angeklagte
Weil der Angeklagte nicht mit einem Psychiater sprechen will, begutachtet Norbert Nedopil ihn im Gerichtsaal. Diagnose: Der 62-Jährige ist eine narzisstische, arrogante und dissoziale Persönlichkeit, die Menschen manipuliert. Bei Kränkungen und Kritik entwickle R. zum Ausgleich eigener Minderwertigkeitsgefühle intensive Hassgefühle mit sadistischen Tendenzen. Nach Aussagen seiner Ex-Frauen ist der Arzt "ein absoluter Geldfreak".
R. weiß genau, wann er welches Gesicht zeigt. Erst nach 28 Verhandlungstagen bricht er sein Schweigen und gibt sich verletzlich. "Ich bin kein besonders feiner Charakter, habe Menschen wie Sonja S. ins Unglück gestürzt. Aber ich habe niemand erschossen, keinen Mord begangen. Ich bin ein genauso armes Schwein, wie der Toni es war", sagt er unter Tränen. Sein Verteidiger fordert Freispruch, der Staatsanwalt lebenslang mit Sicherungsverwahrung. "Dr. Mord" steht vor dem Scherbenhaufen seines Lebens.