Da ist die kleine Baustelle neben der Kirche, auf der sich die Bauarbeiter ab und an etwas zurufen. Da ist die Frau, die mit einem Strauß Blumen Richtung Friedhof läuft. Hin und wieder kommt ein Auto die Hauptstraße entlang. Es ist ruhig an diesem Nachmittag in Görisried, der kleinen Gemeinde mit 1400 Einwohnern im Ostallgäu.
Bald aber wird es mit der Stille vorbei sein. Auf der Wiese am nördlichen Ortsrand steht dann, eingerahmt vom Alpenpanorama, wieder das riesige Zirkuszelt. Das Zelt, in dem schon Gangsterrapper Sido, Rockstar Samu Haber und Schlagersänger Mickie Krause aufgetreten sind. Sie alle haben beim Musikfestival "Go to Gö" Halt gemacht. Und mehr als zehnmal so viele Besucher hierhergelockt, wie Görisried Einwohner hat.
Auf der anderen Seite des Dorfs steht Josef Guggemos – graues Haar, kräftige Arme, gemütliches Lächeln – und schaut auf die Plakate, die an der Wand lehnen. Hunderte sind es, alle in leuchtendem Rosa. 25 Jahre "Go to Gö" steht darauf, außerdem die Bands und Künstler, die vom kommenden Freitag an im Ort auftreten werden: Mia Julia, LaBrassBanda oder SDP. Zum Jubiläum, sagt Guggemos, braucht es schon ein besonderes Programm. "Das ist für uns das Nonplusultra, was wir in 25 Jahren gemeinsam auf die Beine gestellt haben. Eine Art ,Best of‘ aus allem", sagt der 59-Jährige. Es gibt einen Partyabend, Heimatrock und Musiker, die man kennt.
Kaum wird es Frühling in Bayern, zieht es die Menschen zum Feiern nach draußen. Ein paar Wochen noch, dann starten die ersten Open Airs: "Rock im Park" in Nürnberg, "Rockavaria" am Münchner Königsplatz, "Modular" in Augsburg.
Görisried feiert sein Musikfestival "Go to Gö" im Zelt
In Görisried ist vieles anders. Nicht nur, weil das Festival im Zelt stattfindet, einem Zirkuszelt noch dazu. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass keine professionellen Veranstalter dahinter stehen, sondern die Görisrieder selbst, genauer gesagt der Sportverein und der Musikverein. Und allen voran Guggemos, der die Fußballsparte beim TSV Görisried leitet. Warum man das tut – Bands suchen, Plakate bestellen, Zelt aufbauen und dann noch die ganze Verantwortung?
Für Guggemos stellt sich die Frage nicht. Er macht einfach und nennt sich selbst einen "Veteranen der ersten Stunde". Seit dem ersten Festival ist er bei der Planung dabei. Guggemos sagt: "Ein Festival in dieser Größenordnung in der Freizeit zu organisieren, das geht nur mit ein paar Verrückten, die Gas geben."
Und an – im besten Sinne – Verrückten ist in Görisried kein Mangel: Wenn es um das Festival geht, packen Jung und Alt mit an. Die einen bauen das Zelt auf, andere verkaufen Eintrittsbändchen und Getränke oder sorgen dafür, dass die Wiese nach dem Festival wieder aussieht wie zuvor. Die Feuerwehr im Dorf regelt den Verkehr. Guggemos kommt aus dem Aufzählen gar nicht mehr heraus.
Anpacken und zusammen etwas auf die Beine stellen. Wer durch Görisried geht, spürt diesen Geist. "Ich bin selbst im Musikverein und es gibt immer was zu tun", sagt eine Spaziergängerin. "Das ist einfach eine tolle Gemeinschaftssache, bei der jeder hilft."
Der Erfolg von "Go to Gö" liegt am Identitätsgefühl der Einwohner
Für Markus Hilpert ist Görisried ein Positivbeispiel. Ein Beispiel dafür, wie man junge Leute im Ort halten kann, während anderswo darüber geklagt wird, dass immer mehr junge Menschen in die Stadt ziehen und die Dörfer nach und nach ausbluten. Hilpert, der an der Universität Augsburg Geografie lehrt, sagt: "Die Gemeinden sollten sich nicht zurücklehnen im Glauben, ohnehin nichts gegen diese Entwicklung tun zu können." Vielmehr komme es darauf an, ein Identitätsgefühl herzustellen.
Zwischen Identität und Engagement gebe es einen engen statistischen Zusammenhang. "Gemeinsam ein größeres Ereignis wie eben ein Festival zu organisieren, kann in hohem Maße eine regionale Identität schaffen", sagt Hilpert. "Die Menschen sind stolz auf das, was sie zuammen geleistet haben, und gleichzeitig stolz auf ihre Heimat."
Bei Andreas Weihele ist das nicht anders – auch wenn er es wahrscheinlich so nicht sagen würde. Der 25-Jährige hilft ebenfalls bei "Go to Gö" mit. An diesem Abend sitzt er wie so oft im Sportheim, diskutiert, was noch erledigt werden muss. Daran, aus Görisried wegzuziehen, hat Weihele nie daran gedacht. Und so denken viele. "Die meisten, die mit mir zur Schule gegangen sind, wohnen immer noch im Ort." Auch wer zum Studieren in die Stadt gehe, komme häufig an den Wochenenden nach Hause oder nach dem Studium ganz zurück.
Insgesamt sind es etwa 250 Ehrenamtliche, die jedes Jahr das Festival stemmen. Die meisten helfen gerade in diesen Tagen rund um das Musik-Event mit. Guggemos, der als Einkäufer bei einem Ostallgäuer Unternehmen arbeitet, dagegen steckt das ganze Jahr in der Planung – aber nicht allein, wie er betont. Ein Kreis aus acht Leuten setzt sich regelmäßig zusammen, sucht Bands aus, plant, diskutiert und organisiert. Andreas Weihele sagt: "Es wird schon erwartet, dass man hilft. Aber man macht es ja auch gern." Schon als Bub hat er beim Aufräumen geholfen. Görisried ohne Festival kann er sich gar nicht vorstellen. Wenn wie derzeit das Zelt auf dem Festplatz aufgestellt wird, nehmen sich viele dafür frei.
Untrasried hat bereits alles hinter sich: Zu "Rockfrühling" kamen 10.000 Musikfans
Knapp 25 Kilometer weiter nördlich ist das nicht anders. In Untrasried, wo fünf Vereine den "Rockfrühling" organisieren, haben sie die Arbeit bereits hinter sich: 1000 Stunden, die zwölf Leute in die Planung gesteckt haben, 4000 Arbeitsstunden von anderen Helfern. Am ersten Aprilwochenende hat das Festival mit sieben Bands wieder einmal 10.000 Besucher in den 800-Einwohner-Ort gelockt. Christian Schmölz vom Party-Organisations-Komitee sagt: "Das Fest ist bei uns das beherrschende Thema, das das Dorf zusammenschweißt."
Ähnlich sieht es in Wulfertshausen aus, wo am letzten Juli-Wochenende das "Reggae in Wulf" stattfindet, wie seit über 15 Jahren. Wenn das Festival vorbei ist, herrscht ungefähr vier Wochen lang Ruhe, dann geht es wieder von vorne los: Die Verantwortlichen setzen sich zusammen, diskutieren, was gut und schlecht lief und darüber, welche Bands beim nächsten Mal auftreten sollen. "Ich frage mich manchmal, wo wir alle die Energie hernehmen", sagt Markus Friedrich, zweiter Vorsitzender von "Wulf United". Wenn er dann aber von der Bühne blickt, sieht, wie hunderte Menschen im bunten Licht tanzen, lachen, Spaß haben, dann weiß er es.
Dieses Gefühl der Zufriedenheit, wenn alles läuft – das kennen sie auch in Görisried. Das Festival aber kostet nicht nur Zeit, sondern auch Geld. "Je höher die Qualität, desto teurer wird auch alles", sagt Guggemos. "Wir brauchen Geld für Werbung, die Künstler haben höhere Ansprüche an den Ton und die Technik, heuer gibt es eine große LED-Wand, da kommt einiges zusammen." Wie teuer "Go to Gö" ist, will er nicht verraten – auch nicht, was übrig bleibt. Die Besucher zahlen für die Tickets je nach Künstler um die 20 Euro, deutlich weniger als bei anderen Konzerten: "Das trägt sich nur, wenn an allen drei Festival-Tagen jeweils rund 5000 Besucher kommen."
"Go to Gö" ist nur bei täglich 5000 Besuchern rentabel - 3000 sind zu wenig
Bei 3000 Gästen dagegen gehe die Rechnung schon nicht mehr auf. Christoph Unsin, einer der Helfer, nickt. "Wenn wie vergangenes Jahr bei Sido nicht viel los ist und man sieht, dass sich das Zelt nur spärlich füllt, kommt man schon ins Schwitzen." Das Festival 2017 sei zwar kein Verlustgeschäft gewesen, allerdings waren die Besucherzahlen niedriger als in den Jahren davor.
Von den Anfängen aber ist man in Görisried weit entfernt. Die Idee zu dem Festival, erzählt Guggemos, wurde vor 25 Jahren aus der Not geboren. "Damals haben wir das größte Unternehmen im Dorf verloren, die Vereine mussten zusehen, wie sie wieder zu Geld kommen." Also organisierten sie ein internationales Fußballturnier – samt Musikprogramm. Das Turnier gibt es schon lange nicht mehr, das Festival aber ist geblieben. Einen Teil der Einnahmen legt die "MK-TSV Görisried GmbH", die die beiden Vereine gegründet haben, zurück. Ein Teil fließt an gemeinnützige Projekte, der Rest an die Vereine. Davon profitieren viele in Görisried: die Musiker in der Kapelle, der Sportverein, der unter anderem einen Fitnessraum eingerichtet hat, in dem alle Görisrieder für einen geringen Beitrag trainieren können.
Eine Frage aber bleibt noch. Warum es so viele große Namen ins kleine Görisried zieht? Samu Haber etwa oder Sido. Guggemos ist keiner, der mit seinen Kontakten prahlen würde. Aber er kennt mittlerweile die großen Booking-Agenturen und weiß, welcher Künstler wo unter Vertrag ist. Klinkenputzen müsse er zwar immer noch, aber durch die regelmäßigen Kontakte ist "Go to Gö" vielen Agenturen inzwischen ein Begriff. "Das haben wir uns über Jahre aufgebaut", sagt er.
Eine Band gibt es, die auf Guggemos’ Liste ganz oben steht, an deren Manager er sich aber seit Jahren die Zähne ausbeißt: die Sportfreunde Stiller. "Jedes Jahr schicke ich eine Anfrage, jedes Jahr erhalte ich eine Absage." Mittlerweile kennt der Manager den hartnäckigen Mann aus dem Allgäu. "Du gibst wohl nie auf?", hat er ihn unlängst gefragt. Tut er nicht.