"Was wahr ist, aber nicht wahr sein darf": Darüber wollen die Lehrer und Schulleiter reden, die sich am Donnerstagmorgen vor ihre Webcams gesetzt haben. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) hat eingeladen, um "die dunklen Ecken des Bildungssystems auszuleuchten". Denn der Verband erhebt schwere Vorwürfe gegen die Staatsregierung: Sie ignoriere die Probleme an den Schulen und gehe entsprechend nicht ehrlich mit der Situation dort um.
Den Familien gerecht zu werden und gleichzeitig zu unterrichten wird immer mehr zur Herausforderung
Bayerns größter Lehrerverband – mehr als 40 Prozent der rund 155.000 Lehrkräfte im Freistaat sind darin organisiert – lässt die zugeschalteten Lehrer aus ihrem Alltag erzählen. Sie berichten, wie das Coronavirus die Probleme an den Schulen verschärft. Sie beklagen, dass die Staatsregierung oft beschönigt, wo sie eigentlich "Fürsorge zeigen" müsste, wie es eine Mittelschullehrerin formuliert.
Da ist zum Beispiel Sabine Bösl, Leiterin einer Grundschule im oberbayerischen Holzkirchen. "Ich habe seit einem Jahr das Gefühl, dass ich nur noch Löcher stopfe", berichtet sie. Häufig riefen zudem Eltern bei ihr an und wollten neue Beschlüsse erklärt bekommen. Sie hätten etwa Fragen zum Hygienekonzept. "Oft kannte ich diese Beschlüsse nur aus Pressekonferenzen und musste ihnen sagen: Ich warte noch auf ein Schreiben aus dem Kultusministerium zur Umsetzung." Den Familien gerecht zu werden und gleichzeitig zu unterrichten – "irgendwann können wir nicht mehr". Mit der Organisation von Reihentests an Schulen kommt jetzt eine zusätzliche Aufgabe auf die Schulleitungen zu.
Die Schnelltests (Selbsttests) sollen nach Informationen unserer Redaktion auf alle Schüler ab der ersten Klasse ausgedehnt werden. Bislang war von Schülern über 15 Jahren die Rede. Und weil es Jüngere überfordern könnte, sich selbst zu testen, soll das alles unter Aufsicht – also an den Schulen – geschehen. Ein Sprecher des Kultusministeriums bestätigt dies am späten Nachmittag und betont, dass die Tests freiwillig seien. Vor Ort müssten auch entsprechende Räumlichkeiten vorhanden sein, um die erwünschten Tests organisieren zu können.
Das Kultusministerium hingegen hält trotz Kritik an seinen Öffnungsplänen fest
Bei einer Sieben-Tages-Inzidenz von unter 100 kehren am kommenden Montag alle Jahrgangsstufen in den Wechselunterricht zurück. Für Lehrer sind dann zwei Schnelltests pro Woche vorgesehen. Das Problem: Bei vielen Schulen ist noch kein einziger Test angekommen. "Wenn ich nicht maximal gut testen und impfen kann, kann ich die Schulen nicht öffnen", sagt die BLLV-Vorsitzende Simone Fleischmann. Der Philologenverband forderte diese Woche, dass Schüler sich zu Hause testen und nur bei einem negativen Testergebnis am Unterricht teilnehmen dürfen. Das Kultusministerium hingegen hält an seinen Öffnungsplänen fest. Sie stünden "voll im Einklang" mit der Infektionsschutzmaßnahmen-Verordnung des Gesundheitsministeriums.
Der BLLV beklagt auch, dass die Förderung von Kindern, die in der Pandemie Lernlücken angesammelt haben oder ohnehin benachteiligt sind, zu kurz komme. Eigentlich sind Leute wie Jochen Fischer dafür zuständig, Förderlehrer an einer Grundschule in Otterfing (Landkreis Miesbach). Normalerweise kümmert er sich um Schüler, die in einzelnen Fächern besondere Unterstützung brauchen. "Aber wir Förderlehrer ersetzen zunehmend fehlende Lehrkräfte, weil wir in der Kompensation des Lehrermangels eingebunden werden."
Kritik an der Politik: Man nehme den Kindern die Chance auf Bildungsgerechtigkeit
80 Prozent seiner Dienstzeit verbringe er damit, Kinder in der Notbetreuung zu beaufsichtigen. Die restlichen 20 Prozent sitze er in Klassenzimmern ab, um dort Proben zu beaufsichtigen. "Wenn man uns andere Aufgaben überträgt, nimmt man den Kindern die Chance auf Bildungsgerechtigkeit." Große Probleme sieht auch Thomas Beschorner, Konrektor einer Förderschule in Unterfranken. Er erlebe täglich, wie Menschen an ihre Grenzen kämen, sagt er. Seinen Schülern, oft geistig oder körperlich beeinträchtigt, sei "jegliche Tagesstruktur abhandengekommen". Vielen habe die persönliche Nähe in der Corona-Krise so gefehlt "dass sie sich völlig verschlossen haben. Jetzt brauchen wir Zeit und Ruhe, um unsere Schüler wieder aufzufangen." Nichts anderes sei jetzt wichtig.
Das Kultusministerium weist den Vorwurf zurück, dass die Politik die wahre Situation an Schulen ignoriere. Man sei im ständigen Austausch mit der Schulfamilie, um die Sichtweisen von Eltern, Schülern, Lehrkräften, Schulleitungen und Kommunen unmittelbar zu erfahren. Sichtweisen, die übrigens durchaus unterschiedlich seien. Auch über die Schulaufsicht vor Ort sei das Kultusministerium "nah dran" an den Problemen, mit denen die Schulen in der Corona-Pandemie konfrontiert seien. (mit ioa)
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