Wer verstehen will, was da gerade passiert, muss sich nur die Schubladen anschauen. Diese Leere, die einem ins Auge sticht, die wenigen traurigen Ordner, die ein bisschen verloren aussehen. Mit einem tiefen Seufzer öffnet Michael Seitz eine Schublade nach der anderen, schüttelt den Kopf, als wolle er nicht so recht wahrhaben, was da gerade passiert. „Im Moment haben wir hier Totentanz“, sagt Seitz, kurze braune Haare, 46 Jahre alt und Geschäftsführer von Frundsberg Reisen in Mindelheim. Normalerweise wären seine Schränke voll, gefüllt mit Buchungen von Kunden. Aber normal ist in diesem Corona-Jahr eben gar nichts. Deutschland bleibt zu Hause. Und die Reisebranche bekommt das mit voller Wucht zu spüren.
Knapp die Hälfte der Reisebüros gibt in einer Erhebung des Deutschen Reiseverbands Ende August an, bereits Mitarbeiter entlassen zu haben oder dies voraussichtlich tun zu müssen. Über zwei Drittel der Befragten bezeichnen die Situation als existenzbedrohend. Auch die Reiseveranstalter stecken in der Krise. 85 Prozent haben Kurzarbeit beantragt, und der überwiegende Teil geht davon aus, dass sich daran auch im kommenden Jahr nichts ändern wird. Und das ist ja nur die eine Seite. Auf der anderen: die Reisenden. Die vielen Menschen, die sich fragen, wo ein sicherer Urlaub noch möglich ist, die mit immer neuen Regeln zurechtkommen müssen – und damit, dass die Freiheit, die eine Reise eigentlich mit sich bringt, nicht mehr da ist.
Der Reisebürochef berichtet von massiven Umsatzeinbußen
Wann können die Menschen wohl wieder völlig unbeschwert verreisen? Ohne Corona-Test und ohne Quarantäne? Hat die Krise die Reisebranche gar für immer verändert? Wie viele Unternehmen werden das alles nicht überleben? Und wie geht es nun, nach den ersten schwierigen Monaten der Pandemie, weiter? So viele Fragen, so wenige befriedigende Antworten.
Michael Seitz geht an einem Werbefoto für Karibikreisen vorbei und setzt sich an seinen Schreibtisch. Zeit zu erzählen, wie er die vergangenen Monate erlebt hat, die habe er in diesen Tagen im Überfluss, sagt er. Seitz lächelt, aber man spürt, wie sehr ihm die ganze Sache an die Nieren geht. Dann zeigt er auf einen Schrank am anderen Ende des Büros. „Der ist komplett voll mit nicht bearbeiteten Erstattungen von Airlines.“ Einige Fluggesellschaften hätten bislang noch überhaupt nicht reagiert, jegliche Aufforderung werde ignoriert. Und das Problem sei ja nicht nur, dass das alles sehr aufwendig sei – für die Rückabwicklungen gebe es auch kein Geld.
Und Geld fehlt massiv: Die Umsatzeinbußen liegen bei 90 Prozent, das Reisebüro musste Kurzarbeit anmelden. Der Verlust pro Monat beläuft sich auf 20.000 bis 30.000 Euro, in den Monaten April bis Juli noch mehr. „Die staatlichen Überbrückungshilfen sind eine große Hilfe, die es uns erlauben, ohne betriebsbedingte Kündigungen durchzukommen“, erklärt Seitz.
Mit dem unbeschwerten Reisen ist es im Corona-Jahr erst einmal vorbei
Auch für Reisende hat sich vieles verändert. Vor allem die Unbeschwertheit, mit der man früher fremde Länder erkunden konnte, ist vorerst dahin. Kathrin Bankovic hat das hautnah erlebt, in Vietnam, als vor ihrer Nase ein Ladengitter auf den Sims kracht. Rumms. Auf einen Schlag ist es da, das Coronavirus. Die vietnamesische Verkäuferin auf der anderen Seite des Gitters in einem Vorort von Hoi An gestikuliert wild mit ihren Händen: Kathrin Bankovic und ihre Reisebekanntschaft Jonas Ramstetter sollen mit ihrem Moped woanders hinfahren. „Sie wirkte nicht böse“, erinnert sich die 29-Jährige noch gut. „Sie hatte Angst, dass wir Touristen Corona in ihr Dorf schleppen.“ Das war am 10. März.
Kathrin Bankovic hatte sich Ende 2019 von ihrem alten Leben in Kempten verabschiedet. Sie gab ihren Job in der Gastronomie auf, zog aus ihrer Wohngemeinschaft aus, kündigte Versicherungen, sogar ihre Kleidung verschenkte sie kistenweise. Den Rest ihres Besitzes stellte sie bei ihren Eltern unter. Das alte Leben verpackte sie in Kartons, das neue in einen Rucksack. Sie wollte mit so wenig Gepäck wie möglich in die Welt hinaus. Über Südostasien nach Australien, dort arbeiten und vielleicht für lange Zeit nicht mehr nach Deutschland zurück.
Mitte Februar lernte sie in Kambodscha Jonas Ramstetter kennen. Die Zeitungen dort titelten, dass Premierminister Hun Sen das neuartige Coronavirus für ungefährlich halte, die Beziehungen zu China nicht riskieren wolle und das Kreuzfahrtschiff Westerdam am Hafen in Sihanoukville, im Süden Kambodschas, vor Anker gehen lasse. Die Passagiere, vor denen andere Staatsmänner wegen der möglichen Infektionsgefahr Angst hatten und der Westerdam deshalb die Hafeneinfahrt verwehrten, begrüßte Hun Sen mit Blumen und Handschlag. Ende Februar öffnete dann Vietnam wieder die Grenze zu China. Die Welt schien in Ordnung.
Kathrin Bankovic aus Kempten wollte lange ins Ausland, jetzt ist sie zurück in ihrem alten Leben
Das war sie damals auch in Mindelheim, erzählt Michael Seitz. Er geht jetzt eine schmale Wendeltreppe nach oben in die Küche und setzt sich an einen Tisch, in der Hand eine Tasse Kaffee. „Im März fing es an“, sagt Seitz und nimmt einen Schluck. „Da haben uns plötzlich viele Menschen aus dem Ausland angerufen, die verständlicherweise zurück nach Deutschland wollten.“ Seitz erinnert sich an vier Reisende, die in Australien festsaßen. Eigentlich hätten sie nach Singapur und dann weiter nach Deutschland fliegen sollen – doch weil sie in Singapur nicht mehr umsteigen durften, wurden sie in Australien erst gar nicht in den Flieger gelassen. Mitten in der Nacht versuchten Seitz und seine Kollegen eine Lösung zu finden. Schließlich gelang es, sie auf Flüge nach San Francisco und weiter nach Frankfurt umzubuchen – und auch noch eine Einreiseerlaubnis in die USA zu organisieren. „Es gab immer weniger Flüge, der Reiseverkehr wurde ja lahmgelegt. Und wir mussten gucken, wie wir unter diesen Umständen unsere Kunden nach Hause bringen“, sagt Seitz.
Nach Hause, nach Kempten – dorthin wollte Kathrin Bankovic eigentlich nicht zurück. „Wir wollten uns nicht eingestehen, dass die Reise vorbei ist“, erzählt sie. Da war sie in Vietnam. Und traf immer häufiger auf Menschen, die ihr aus dem Weg gingen. Am 15. März erreichte sie die Stadt Da Nang. Was sie sah, hätte Individualreisende unter anderen Umständen gefreut: keine Touristen. Doch auch Einheimische waren nicht zu sehen, ein beängstigender Anblick. Restaurants, Läden, Sehenswürdigkeiten – verbarrikadiert. Nur ein Hostel aus Containern hatte noch geöffnet, erzählt sie. Kathrin Bankovic und ihre Reisebekanntschaft waren die einzigen Gäste. Also weiter nach Australien? Dort hätte sie zwei Wochen lang in Quarantäne gemusst. „Das Reisen hat keinen Spaß mehr gemacht. Du kannst nicht mehr leben“, sagt sie. Am 18. März, etwa vier Monate nachdem sie Deutschland verlassen hatte, flog sie nach München. Einen Tag, bevor Bayern den Lockdown verhängte.
Plötzlich war sie wieder in ihrem alten Leben. In ihrer WG in Kempten, an ihrer früheren Arbeitsstelle. Statt Reisebekanntschaften traf sie nun Freunde. Der Wunsch zu Reisen verschwand nicht aus ihrem Kopf, aber das Freiheitsgefühl war weg: „Ich glaube nicht, dass ich den Schritt noch einmal gehe, mein ganzes Leben aufzugeben“, sagt sie. Doch sie hat Fernweh. Einmal dachte sie darüber nach, eine Freundin in Nicaragua zu besuchen. Oder woanders hinzureisen. Doch sobald ein Land zum Risikogebiet erklärt wurde oder die Corona-Fälle stiegen, vergaß sie ihre Gedankenspiele schnell wieder.
Staaten schlossen und öffneten ihre Grenzen für Touristen, unter verschiedensten Auflagen. Im August kaufte sich Kathrin Bankovic ein Ticket für ein Musikfestival Anfang September auf einer kroatischen Insel. Die Zahl der Covid-19-Infizierten war zu dem Zeitpunkt gering. Dann häuften sich die positiven Tests. Das Festival wurde auf eine andere Insel verlegt, schließlich abgesagt. Kathrin Bankovic wollte von Paris nach Deutschland fahren, auch dieser Plan scheiterte. Erneut wurden Risikogebiete ausgewiesen. Sie reiste zum Gardasee. „Australien“, sagt sie, „habe ich mittlerweile aufgegeben.“ Sie ist verunsichert.
Reisebürochef Michael Seitz kennt das, er spüre deutlich die Verunsicherung unter seinen Kunden. Von Beginn des Lockdowns an. „Viele haben uns angerufen, wollten wissen, was denn mit ihrem Sommerurlaub passiert“, erinnert er sich. Und jetzt? Man merke den Menschen an, dass sie wegwollten, sagt er. Aber so recht trauten sich viele nicht.
Selbst Reisen innerhalb Deutschlands ist schwieriger geworden
Selbst Reisen innerhalb Deutschlands sind ja nicht mehr so einfach wie früher. Stichwort: Beherbergungsverbot. Im Kern bedeutet es, dass Menschen aus Risikogebieten nicht in Hotels einchecken dürfen. Es gibt allerdings zahlreiche Ausnahmen – und damit wird die Situation noch unübersichtlicher.
Wer ins Ausland will, für den stellt sich vor allem die Frage: Wohin? Für viele Länder gelten Reisewarnungen, die gerade im Herbst und Winter beliebten Fernreisen würden in dieser Saison kaum stattfinden, meint Seitz. So ganz kann er das aber nicht nachvollziehen. „Es heißt immer, die Leute sollen in Deutschland Urlaub machen. Dabei sind die Infektionszahlen hier viel größer als etwa auf einer kleinen Seychelleninsel, wo kaum Menschen sind.“ Man müsse alles viel differenzierter betrachten, sagt er. Das gelte auch für die bei deutschen Urlaubern beliebten Kanaren. „Die kleineren Kanaren-Inseln sind ja kaum betroffen.“
Seitz ergänzt: Wer jetzt trotz aller Unsicherheiten eine Reise buche, profitiere zumindest von einer großen Flexibilität, die einige Veranstalter gewährten. „Es gibt kostenlose Storno- beziehungsweise Umbuchungsmöglichkeiten, teils bis 30 oder 14 Tage vor Reiseantritt – egal, ob es eine Reisewarnung gibt oder nicht.“ Dennoch sei die Nachfrage sehr verhalten. Etwa fünf Kunden kämen pro Tag vorbei – vor einem Jahr waren es etwa acht Mal so viele. Demnächst beginnt die Frühbucher-Saison. Seitz sagt: „Ich glaube, dass dann einige Familien ihren Sommerurlaub für das kommende Jahr buchen werden.“.
Das kommende Jahr – wie wird es wohl für die Kemptenerin Kathrin Bankovic werden? Wird sie doch noch einen neuen Versuch starten, um an ihr Traumziel Australien zu kommen? Und wie wird es Michael Seitz, dem Reisebürochef aus Mindelheim, ergehen? Der 46-Jährige zuckt mit den Schultern, nimmt einen Schluck Kaffee und sagt: „Bis wir wieder Umsätze haben wie im Jahr 2019, wird es mindestens drei Jahre dauern.“ Die leeren Schubladen im Reisebüro – sie werden sich wohl nur langsam füllen.
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