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Corona-Pandemie: Das Sterben der Alten: Wer entscheidet eigentlich, wer noch behandelt wird?

Corona-Pandemie

Das Sterben der Alten: Wer entscheidet eigentlich, wer noch behandelt wird?

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    Eine Altenpflegerin in Schutzkleidung hält die Hand eines Bewohners.
    Eine Altenpflegerin in Schutzkleidung hält die Hand eines Bewohners. Foto: Sebastian Gollnow/dpa/Symbolbild

    Wir kennen sie, diese Bilder. Die Bilder von Menschen, deren Leben von einem Schlauch in ihrer Luftröhre abhängt. Die im Krankenhauskittel in einem Bett auf einer Intensivstation liegen. Und die – das ist die große Tragödie dieser Pandemie – viel zu oft den Kampf gegen Covid-19 verlieren. Mittlerweile sind in Deutschland mehr als 69000 Menschen in Zusammenhang mit Corona gestorben – die meisten von ihnen, das zeigen Studien, direkt infolge der Infektion. Nur: Der Blick auf die Intensivstationen ist ein einseitiger. Denn viele Menschen sterben woanders. Sie erleben ihre letzten Stunden in Pflegeheimen, die in dieser Pandemie zu einer Art tickender Zeitbombe geworden sind. Zu einem Ort, an dem – öfter als ohnehin schon – gestorben wird. Und diese Bilder, die kennen wir nicht.

    An einem Mittwoch Anfang Januar blickt Corinna Rüffer, Bundestagsabgeordnete der Grünen, auf die Zahlen des Robert-Koch-Instituts und wundert sich. „1000 Todesfälle wurden gemeldet. Aber am gleichen Tag wurden nur 200 Personen gemeldet, die auf einer Intensivstation gestorben sind“, sagt Rüffer. Zwei Wochen lang beobachtet die Politikerin die Zahlen. „Mir wurde klar, dass das Standard ist.“ Rüffer ruft beim RKI an. „Mir wurde bestätigt, dass meine Beobachtung richtig ist.“ Seither will sie wissen, welche Erklärung es dafür gibt, dass so viele Menschen nicht in einer Klinik sterben. „Es verdichtet sich der Eindruck, dass Menschen, die früher in ein Krankenhaus gebracht worden wären, zu Palliativpatienten erklärt werden.“

    Die Abgeordnete hat viele Rückmeldungen bekommen, seit sie mit ihren Befürchtungen an die Öffentlichkeit getreten ist, auch von Angehörigen. Der Normalfall sei, dass das Heim gemeinsam mit dem Arzt anhand der Patientenverfügung überlege, wie man mit einem Patienten umgehen soll. „Und das passiert häufig auch. Aber mir wurde eben auch gesagt, dass da Sätze fallen wie: ,Das lohnt sich doch eh nicht mehr.‘“

    Corona-Tote: Patientenschützer sprechen von einer geheimen Triage

    Rüffer ist nicht die einzige, die derlei Befürchtungen hat. Patientenschützer und Kenner der Pflegebranche stoßen in ein ähnliches Horn – es wird sogar von einer „geheimen Triage“ gesprochen. Das Wort Triage kommt aus der Militärmedizin. Es bedeutet: Auswahl, Sortierung. In extremen Krisensituationen müssen Ärzte entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht. Ein Horror.

    Es sind bedrückende Fragen, die in der Pandemie aufgeworfen werden: Warum erreichen so viele alte Corona-Kranke nicht die Intensivstation? Wollen sie nicht, ist es so in ihrer Patientenverfügung festgelegt – oder lässt man sie nicht? Wie steht es um die Pflegebranche, deren Missstände in der Pandemie wie durch ein Brennglas sichtbar werden? Und dann ist da noch eine Frage – wahrscheinlich die wichtigste, die man stellen muss, wenn man sich mit dem Ende beschäftigt: Wer trifft eigentlich die allerletzte Entscheidung?

    Corona-Patient: Um 6 Uhr noch symptomfrei, um 8.30 Uhr tot

    Die Entscheidung „Krankenhaus oder nicht?“ ist, wenn man so will, das Tagesgeschäft von Michael Meier. Er ist Ärztlicher Leiter des Rettungsdiensts im Bereich Augsburg – und damit einer derjenigen, die in die Seniorenheime kommen, wenn es ernst wird. Vor Corona, sagt Meier, seien er und seine Kollegen oft früher als notwendig gerufen worden. „Jetzt kann man uns gar nicht mehr zu früh rufen. Wir erleben Fälle, da ist ein Corona-Patient um 6 Uhr noch symptomarm und um 8.30 Uhr tot. Beängstigend ist das“, sagt Meier, 53 Jahre alt, davon die vergangenen 25 im Notarztdienst. „Wenn Patienten vor der Aufnahme ins Krankenhaus versterben, dann liegt das häufig schlicht daran, dass sie es nicht mehr dorthin schaffen. Weil der Krankheitsverlauf fulminant ist.“

    Diese drastischen Fälle gibt es, die Norm sind sie jedoch nicht. Wird Meier zu positiv Getesteten in ein Seniorenheim in oder um Augsburg gerufen – „das passiert während einer Zwölf-Stunden-Schicht zwischen null- und viermal“ –, kann er meist helfen. Durch Schutzmontur blickt er dann in tiefblaue Gesichter, erlebt Menschen, die um jeden Atemzug ringen. „In den Heimen behandeln wir in den allermeisten Fällen symptomorientiert“, sagt Meier. Heißt: unmittelbare Hilfe durch Sauerstoff oder Beatmungstherapie.

    Entspricht die Maßnahme dem Willen des Betroffenen?

    Ob er einen Patienten anschließend ins Krankenhaus bringen lässt, entscheidet sich für Meier anhand zweier Fragen: Ist die Maßnahme indiziert, also medizinisch ausreichend begründbar – und falls ja, entspricht sie dem Willen des Betroffenen? Die erste Frage liegt in Meiers Ermessen, die zweite nicht. Und hier wird’s kompliziert. Denn was ein schwer kranker Corona-Patient wirklich will, ist oft nicht mehr klar zu bestimmen. Das wird vor allem dann zum Problem, wenn die Zeit drängt, weil das Virus mit voller Macht zuschlägt. „Wenn wir weder Verfügung noch Bevollmächtigten haben, kann es schwierig sein, den Patientenwillen abzubilden – gerade in hochakuten Situationen, wo es gilt, schnelle Entscheidungen zu treffen“, sagt Meier. Seiner Einschätzung nach haben zwischen 15 und 30 Prozent der Heimbewohner ein entsprechendes schriftliches Dokument. „Das ist mehr als vor ein paar Jahren und sogar mehr als noch während der ersten Welle, aber trotzdem viel zu wenig.“ Eine vorausschauende Versorgungsplanung sei nicht sonderlich populär, aus seiner Sicht aber elementar. „Das ist aber nicht erst seit Corona so.“

    Die Wünsche der Kranken, von denen Notarzt Meier spricht, spielen in dieser Debatte eine Hauptrolle. Wie tragisch die Schicksale oft sind, zeigt die Geschichte eines Manns, Mitte neunzig, der an Covid-19 erkrankte. Erst hatte er gesagt, er wolle nicht mit Schläuchen beatmet werden. Dann wollte der Mann doch in die Klinik. Er habe einfach Angst gehabt, erinnert sich eine Pflegerin, die ihn kannte. Sie arbeitet in einer Einrichtung im Ulmer Umland, der an Covid-19 erkrankte Mann lebte dort. Er kam ins Krankenhaus und starb dort zwei Tage später auf der Normalstation. Er war nicht mehr beatmet worden. „Er war seit fünf Jahren bei uns, hatte eine enge Beziehung zu den Pflegern. Warum muss es denn sein, dass er nicht in seinem Bett sterben darf?“, fragt die Pflegerin. „Die Menschen sind bei uns auch, um zu sterben. Sie dürfen bei uns sterben“, sagt die Frau, deren Name nicht in der Zeitung stehen soll. Die Betonung legt sie auf das Wort dürfen. Es ist ihr wichtig. Diese Art der Entscheidung, diese Art von Triage ist aus ihrer Sicht richtig.

    Im Heim bleibt den Sterbenden zumindest eine bekannte Stimme

    Schon immer habe man abgewogen, welcher schwer kranke Bewohner noch zur Behandlung ins Krankenhaus gebracht wird. „Die Menschen sind bei uns zu Hause“, sagt die Frau. Zu Hause heißt: Sie haben ihr eigenes Zimmer, ihr eigenes Bett, sie kennen das Personal. Und wenn die Pflegenden bei einem Corona-Ausbruch bis zur Unkenntlichkeit in Schutzkleidung verpackt zu den alten Menschen kommen, dann bleibt den Sterbenden zumindest noch eine bekannte Stimme. Im Pflegeheim zu sterben bedeute zu Hause zu sterben. Die Entscheidung, das betont die Pflegerin, treffe nie das Personal. Die Heimbewohner oder ihre Angehörigen legen fest, wie es weitergehen soll. Oder wie es zu Ende gehen soll.

    „Nicht jeder Mensch mit 98, der auf der Intensivstation für acht weitere Wochen gerettet werden könnte, kommt in die Klinik“, sagt die Pflegerin. Die Corona-Pandemie habe nichts daran geändert. In der Einrichtung, in der die Frau arbeitet, sind einige Beschäftigte zu Fachkräften für Palliativpflege ausgebildet. Das Personal in dem Seniorenheim, sagt die Frau, könne auf eine andere Weise für Sterbende da sein: Im Krankenhaus wolle man Menschen heilen, in einer Pflegeeinrichtung begleite man sie. Man sei in deren letzten Stunden da für die Menschen. „Das geht unter im Stress im Krankenhaus.“

    Schon beim Einzug ins Altenheim wird über das Ende gesprochen

    Das sieht auch Ralf Waidner so, der Leiter des BRK-Seniorenwohnen im Neu-Ulmer Stadtteil Ludwigsfeld. 18 Menschen, die dort lebten, sind an Covid-19 gestorben. Das war im Frühjahr 2020. Bis in den November hinein machten sie beinahe zwei Drittel aller Corona-Toten im Kreis Neu-Ulm aus. Dabei ist das Heim schon seit Anfang Juni offiziell coronafrei. Etwa ein Drittel der 18 Corona-Opfer aus dem BRK-Heim in Ludwigsfeld starb dort. „Das Wohl der Bewohner steht für uns ganz oben“, betont Waidner. Und zum Wohl gehöre es eben auch, zu entscheiden, an welchem Ort man seine letzten Tage und Stunden verbringen wolle. „Es bedeutet Lebensqualität, den Menschen ihren eigenen Weg zu ermöglichen“, sagt er. Den eigenen Weg könne das Seniorenheim viel leichter bieten als ein Krankenhaus.

    Waidner sagt: „Für uns ist das Sterben de facto Alltag und kein Tabuthema.“ Schon beim Einzug ins Seniorenwohnen spreche man über die Wünsche der Neuankömmlinge für das Lebensende. Sicher die Hälfte der Bewohner habe Patientenverfügungen, Betreuungsvollmachten und Vorsorgevollmachten, berichtet Waidner. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie sei dieses Thema noch präsenter geworden. „Wenn wir einen Notarzt rufen, fragt er uns: Ist die Situation lebensbedrohlich oder nicht?“, schildert Waidner. Dann entscheide der Bewohner, ob und wie er im Krankenhaus versorgt werden wolle – oder die Antwort stehe in den Dokumenten oder die Angehörigen müssten entscheiden. „Wir treffen diese Entscheidung hier nicht aus eigenen Stücken“, betont Waidner. Bei keinem der Corona-Kranken hätten Einrichtung oder Personal festgelegt, ob und wie die medizinische Versorgung weiterlaufen soll.

    Patientenschützer zeichnen ein düsteres Bild über den Zustand in der Altenpflege

    Ähnlich sieht das auch eine langjährige Krankenpflegerin in einem Allgäuer Seniorenheim: „Wenn es einem Patienten akut schlecht geht, er vielleicht nicht mehr ansprechbar ist, ruft man die Angehörigen an und entscheidet dann, wie man weiter vorgeht.“ Diese wüssten oft genau, ob der Erkrankte im Falle eines Falles intensivmedizinisch behandelt werden wollte oder nicht. Kommt es dann zu der Entscheidung, ihn nicht in ein Klinikum zu verlegen, sei das eine Sache des Respekts vor dem Patientenwillen. „Das ist aber keinesfalls eine Triage im medizinischen Sinne“, sagt die Krankenpflegerin. Dieser Begriff sei in diesem Zusammenhang viel zu stark und werde dem Thema nicht gerecht.

    Bei der Deutschen Stiftung Patientenschutz will man sich mit der Erklärung, es sei eben der Wille der alten Menschen und stünde so in der Patientenverfügung, nicht zufriedengeben. Die Stiftung habe im vergangenen Jahr etwa 10.000 Beratungsgespräche geführt, in denen es um das Thema Patientenverfügung ging. „Die Menschen, die grundsätzlich einen Krankenhausaufenthalt ausschließen, lassen sich an einer Hand abzählen“, sagt Eugen Brysch, der Vorstand. „Warum so viele ältere infizierte Menschen in der zweite Welle der Pandemie die Krankenhäuser nicht erreichen, ist bis heute ungeklärt. Seit Monaten fordern wir die Bundesregierung und Jens Spahn auf, eine Antwort zu liefern“, sagt Brysch. Es gebe bisher kein Monitoring. Auch über die Covid-19-Patienten in den Pflegeheimen sei nichts bekannt, kritisiert Brysch. „Wir wissen deswegen nicht, wie viele Überweisungen es in die Krankenhäuser gibt, wie viele ältere Corona-Patienten zu Hause und wie viele in den Heimen sterben.“ Brysch macht sehr deutlich, was ihn derzeit umtreibt: „Es zeichnet sich immer mehr ab, dass es eine geheime Triage gibt. Denn im Gegensatz zur ersten Welle liegt das Durchschnittsalter der Corona-Intensivpatienten unter 60 Jahren.“

    Einsam und verlassen: Viele Corona-Patienten sterben alleine

    Viele Berichte am Patientenschutztelefon zeichnen Brysch zufolge ein düsteres Bild über den Zustand in der Altenpflege. „Corona-Kranke werden alleine gelassen. Der Tod kommt ohne Begleitung in Einsamkeit und Isolation.“ Dabei erhielten 98 Prozent der Pflegebewohner in jedem Quartal Besuch von einem Hausarzt – „viel zu oft ist das nur einmal“. Gerade in Zeiten wie diesen brauche es aber ein regelmäßiges ärztliches Monitoring. „Doch statt die Probleme anzusprechen, dass die Hausarztversorgung bei einer Ketteninfektion zusammenbricht, wird eine Decke des Schweigens darüber gelegt. Kommt noch mangelnde Hygiene dazu, ist die Katastrophe vorprogrammiert.“ Ein Korrektiv von außen durch Angehörige, Gesundheitsämter, Heimaufsichten und den Medizinischen Dienst finde nicht statt, sagt Brysch. „Wer sich als Heimbetreiber darüber beschwert, dass dies ein verzerrtes Bild der Realität ist, der muss den Gegenbeweis antreten. Hier geht es nicht um eine pauschale Kritik an den Altenpflegekräften.“

    Eugen Brysch, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz, befürchtet eine geheime Triage.
    Eugen Brysch, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz, befürchtet eine geheime Triage. Foto: Deutsche Stiftung Patientenschutz, dpa

    Diese Isolation, von der der Patientenschützer spricht, ist in der Pandemie allgegenwärtig. Wie einsam das Sterben in den Pflegeheimen sein kann, hat ein Mann aus dem Raum Augsburg erlebt. Eineinhalb Jahre ist es her, da brachte er seinen Vater in ein Seniorenheim, die Demenz machte sich immer deutlicher bemerkbar. „Ich glaube, es ist ihm dort schon gutgegangen“, sagt der Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Aber so, wie es zu Ende gegangen ist – das war kaum zu ertragen.“

    Mann berichtet vom Tod seines Vaters: Er starb einsam im Pflegeheim

    Ende Dezember wurde der Vater, Mitte 80, positiv getestet. Mehrere Heimbewohner waren infiziert, Besuche daraufhin nicht mehr erlaubt. „Ab dem Moment war er wie abgeschnitten von uns“, sagt der Angehörige. Er habe regelmäßig im Heim angerufen, um zu fragen, wie es seinem Vater gehe. „Am Anfang hat sich das Personal noch sehr bemüht, uns auf dem Laufenden zu halten. Nach einer Woche hieß es dann: ,Tut mir leid, wir haben kaum noch die Leute, jedem Einzelnen eine Extra-Behandlung zukommen zu lassen.‘“ Offenbar seien zu der Zeit mehrere Mitarbeiter im Heim ausgefallen. „Ich weiß, dass ich nichts dagegen tun konnte. Aber es fühlte sich ein bisschen so an, als hätte ich ihn alleine gelassen.“

    Anfang Januar, es war am Nachmittag, kam dann ein Anruf aus dem Heim. Der Zustand des Vaters hatte sich akut verschlechtert, der Notarzt war da, es musste schnell gehen. „Als es meinem Vater noch besser ging, hat er immer gesagt: ,An einem Schlauch möchte ich nicht enden.‘ Er hatte auch eine Verfügung, eine Verlegung ins Krankenhaus war dann kein Thema mehr.“ Noch vor seiner Ankunft im Heim sei sein Vater gestorben. Wahrscheinlich, sagt der Mann, habe sein Vater die Umstände seines Tods nicht mehr richtig wahrgenommen, wie so vieles in seinem letzten Lebensabschnitt. „Ich hoffe es fast. So ein Ende ist nichts Schönes, für niemanden.“

    Die Mitarbeiter sind einem enormen Druck ausgesetzt

    Dass in der Pflegebranche vieles auf Kante genäht ist und Mitarbeiter oft enormen Druck ausgesetzt sind und mitunter wenig Zeit für die alten Menschen haben, ist kein Geheimnis. Die Heime könnten nur wirtschaftlich arbeiten, wenn sie voll ausgelastet seien, sagt Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. „Ist die Infektion in der Einrichtung, ist so ein Konzept fatal. Klug wäre es, dann die nicht infizierten Bewohner in anderen Einrichtungen zu versorgen, bis die Infektionslage wieder im Griff ist. Doch an ein Leerbetten-Konzept für Heime denkt niemand. Selbst wenn es nur für zwei bis drei Wochen in der Akutsituation benötigt wird.“ Seiner Ansicht nach ist es sogar absurd, dass gerade Reha-Einrichtungen schließen, weil sie zu wenige Patienten haben. „Die scharfe Trennung zwischen Kranken- und Pflegeversicherung kostet Leben in der Pandemie.“

    An den Münchner Sozialpädagogen und Pflegekritiker Claus Fussek wenden sich viele pflegende Angehörige in ihrer Verzweiflung.
    An den Münchner Sozialpädagogen und Pflegekritiker Claus Fussek wenden sich viele pflegende Angehörige in ihrer Verzweiflung. Foto: Dave Stonies

    Einer, der die Empörung über die so genannte Triage-Diskussion in Pflegeheimen zum Teil auch als „scheinheilig, ja verlogen“ bezeichnet, ist Claus Fussek. Sozialarbeiter. Pflegekritiker. Autor von Büchern wie „Alt und abgeschoben“, „Im Netz der Pflege-Mafia“. Fussek sagt: „Natürlich gibt es Formen von Triage in Pflegeheimen, an die wir uns längst gewöhnt haben. Und zwar schon vor Corona. Schon seit Jahrzehnten.“ So sei bekannt, dass beispielsweise die Nachtwachen in vielen Pflegeheimen unverantwortlich niedrig besetzt seien. Dies führe dazu, dass überlastete Pflegekräfte in diesen schwierigen Situationen entscheiden müssten, wen sie beim Sterben noch begleiten können und dürfen. „Weil sie für zu viele schwerstkranke Menschen zuständig sind, müssen sie die alten, kranken Menschen oft sogar fixieren oder mit Medikamenten ruhig stellen. Ich erlebe viele traumatisierte Pflegekräfte.“ Und Fussek fragt: „Ist ein zu eng bemessener Pflegepersonalschlüssel, der dazu führt, dass alte Menschen über Stunden nichts zu trinken bekommen, in ihren Ausscheidungen liegen gelassen werden, Schmerzen leiden und alleine sterben müssen, etwa nicht eine Form von Triage?“

    Die meisten Menschen schieben das Thema Sterben weit von sich weg

    Die Wurzel vieler Missstände sei auch diese: „Wir haben die Pflege den Gesetzen der freien Marktwirtschaft, der Gewinnmaximierung überlassen – und das ist doch pervers.“ Dass es nicht einmal in allen Heimen palliative Strukturen gäbe, ist für ihn ein Skandal. Das lange Warten auf einen der wenigen Hospizplätze sei auch eine Form von Triage. Doch alle schauen zu, ärgert sich Fussek. Denn zur Wahrheit gehört für ihn auch, „dass die meisten Menschen die Themen Krankheit, Sterben, Tod so weit wie nur irgendwie möglich von sich wegschieben“. Er sagt: „Wie viele alte Menschen bekamen schon vor Corona keinen Besuch mehr? Wie viele alte Menschen haben selbst das Gefühl, nur niemandem zur Last fallen zu dürfen? Wie oft wird insgeheim vor allem durchgerechnet, was die Pflege der Eltern kosten darf?“

    Für Fussek ist das Elend in vielen Heimen „ein gesamtgesellschaftliches Versagen“. Ein Versagen, das immer größer werde und nicht mehr lösbar erscheine. „Solange die Pflege nicht zur Schicksalsfrage unserer ganzen Gesellschaft wird, ändert sich nichts an den himmelschreienden Missständen.“

    Doch Fussek geht noch einen Schritt weiter. Er erklärt: „Pflegekräfte sind häufig nicht nur Opfer, sondern auch Täter.“ Manche würden ihre Macht gnadenlos ausspielen: „Unsere Heime sind oft zu rechtsfreien Räumen geworden. Denn oft kommt es vor, dass Angehörige, die kritisch nachfragen, sogar bedroht werden und fürchten müssen, dass ihre pflegebedürftigen Angehörigen die Kritik ausbaden müssen.“ Die Pflegebedürftigen selbst trauten sich oft nichts zu sagen. Daher ist es für ihn höchste Zeit für eine ehrliche „Mee-too-Diskussion“ in der Pflege. „Die vielen empathischen, guten, hoch engagierten Pflegekräfte, die auch unter diesen Bedingungen leiden, müssen endlich aufstehen, sich zusammentun, sich wehren und öffentlich erklären: Da machen wir nicht mehr mit.“

    Weihbischof Anton Losinger: Alter darf kein Kriterium für Triage werden

    Die Missstände, die Fussek anspricht, werfen ethische Fragen auf. Fragen, mit denen sich Weihbischof Anton Losinger, Mitglied im Bayerischen Ethikrat, beschäftigt. Mit Blick auf die Palliativmedizin könne „eine gewisse Schieflage“ am Lebensende durchaus festgestellt werden, sagt er. Denn so sehr es uns heute mit der Palliativ- und Schmerzmedizin erfolgreich gelinge, Leiden zu lindern, gehöre diese Medizin mit zur teuersten. Sie sei leider noch ein knappes Gut. Und nicht jedem, gerade in der ambulanten Pflege zu Hause, werde sie in einer austherapierten Situation am Lebensende zuteil.

    Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger beschäftigt sich viel mit der Frage der Triage.
    Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger beschäftigt sich viel mit der Frage der Triage. Foto: Fred Schöllhorn

    Als sich im Winter die Intensivbetten der Krankenhäuser in einem atemberaubenden Tempo füllten, schien das Schreckgespenst der Triage plötzlich nah wie nie. In diversen Online-Foren wurde darüber debattiert, ob es denn richtig sei, einen 90-Jährigen noch zu beatmen, sollten die Plätze wirklich knapp werden. Weihbischof Losinger betont: „Wenn es um die Verteilung von absolut knappen Gütern geht, in diesem Fall von Beatmungsgeräten und damit von lebenserhaltender medizinischer Versorgung, dürfen Menschen niemals nach persönlichen Merkmalen benachteiligt oder gar aussortiert werden.“ Denn das würde weg von Menschenwürde und Lebensrecht in eine nur dem Nutzen gehorchende Ethik führen – „und dann gnade uns Gott“. Das Alter wäre so ein persönliches Merkmal, erklärt Losinger, das niemals ein Kriterium bei einer Triage sein dürfe. Auch nicht eine Behinderung. Ausschließlich die medizinisch diagnostizierte Ausweglosigkeit einer Behandlung dürfe in solch einer absoluten Knappheitssituation dazu führen, dass eine lebenserhaltende Maschine dem einen genommen und dem anderen gegeben werden könnte, „was herzzerreißende Entscheidungen für die Ärzte und Pflegenden und eine tragische medizinische und menschliche Dilemma-Entscheidung bedeutet“.

    Christoph Lütge: Patientenwille ist am Lebensende entscheidend

    Einen etwas anderen Fokus hat Professor Christoph Lütge, Ethiker an der Technischen Universität München (TUM). Er war bis vor kurzem ein Kollege Losingers im Bayerischen Ethikrat, bis er vor wenigen Wochen – „ohne nähere Begründung“, wie Lütge sagt – von Ministerpräsident Markus Söder aus dem Gremium geworfen wurde. Offenbar weil er eine kritische Haltung gegenüber den Corona-Einschränkungen vertrat – diese teils überzogen fand. Nichtsdestotrotz ist Lütge weiter in Sachen Corona und Ethik engagiert. Und er sagt: „Es ist für mich von zentraler Bedeutung, dass der Patientenwille respektiert wird.“ Dieser Respekt sei unabdingbar mit der Achtung der Menschenwürde verquickt. Und die Menschenwürde wiederum stellt für ihn das höchste Gut überhaupt dar. „Wenn also jemand stets nicht ins Krankenhaus wollte, ist das unbedingt zu achten.“ Diesen Blick dürfe man keinesfalls verlieren.

    Auch Dr. Markus Wehler, stellvertretender Sprecher des klinischen Ethikkomitees am Universitätsklinikum Augsburg, beschäftigt sich mit ethischen Fragen, die durch die Pandemie aufgeworfen werden. Auch damit, was zu tun ist, wenn die Kapazitäten erschöpft wären. „Allein das Alter ist kein Kriterium bei Triage“, betont der Direktor der Zentralen Notaufnahme. Wobei er gleich klarstellt: „Triage gab es in dieser Corona-Krise am Universitätsklinikum Augsburg nie. Und wir waren auch nie nahe dran.“ Gleichwohl wäre man auf diesen absoluten Ausnahmefall vorbereitet, habe einen Plan in der Schublade. Wenn wirklich in allen Kliniken der Region keine Kapazitäten mehr vorhanden wären, wenn kein anderer Ausweg mehr bliebe.

    Wer hat die höchste Wahrscheinlichkeit zu überleben?

    Die Kriterien dafür stehen seit langem. Lange vor Corona. Getragen werden sie von einer Frage: Wer hat die höchste Wahrscheinlichkeit zu überleben? Kurz- und langfristig. Dafür gibt es evaluierte Prognosesysteme. „Denn das Schlimmste, was in so einem Fall passieren kann, ist Intransparenz“, sagt Wehler. Alles müsse kontrollierbar und nachvollziehbar ablaufen. Und mit Blick auf Vorerkrankungen und Allgemeinzustand könne bei diesem Prozedere ein fitter 80-Jähriger sogar besser abschneiden als ein kranker 40-Jähriger. Erst wenn beispielsweise ein 60-Jähriger und ein 85-Jähriger die gleiche Prognose erhalten, entscheide das Alter als Sekundärkriterium. Wehler macht keinen Hehl daraus, dass nicht alle diese am Gesundheitszustand des Patienten orientierten Triage-Kriterien richtig finden. Einige Kritiker lehnen dieses Vorgehen als ungerecht ab und favorisieren eine Behandlung nach dem First-come- first-served-Prinzip. Für den erfahrenen Mediziner kein gangbarer Weg, schließlich wolle jeder Arzt so viele Menschenleben wie möglich retten.

    Viele Leben konnten trotz aller Bemühungen aber auch nicht gerettet werden. Und noch immer sterben jeden Tag in Deutschland etwa 400 Menschen, die sich mit dem Virus infiziert haben. Die meisten sind über 70 Jahre alt.

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