Maria, die Buchhändlerin – weder der volle Name noch die Kleinstadt werden zur Vermeidung von Corona-Bußgeld an dieser Stelle genannt – hat ihre eigene Strategie entwickelt, den Widrigkeiten zu trotzen. Grund zur Sorge um ihren Job hatte sie schon vor der Pandemie. Amazon & Co. setzen den kleinen Läden gehörig zu. „Strukturelle Krise“ nennt man so was. Man kennt es aus vielen Branchen. Kinos, Kaufhäuser und viele Fachgeschäfte sind, weil der Markt sich wandelt, existenziell bedroht. Doch Maria und ihre Kolleginnen haben sich schon während des ersten Lockdowns etwas einfallen lassen. Die Ladentür bleibt zu, aber die Hintertür – fast schon wie in Chicago während der Prohibition – bleibt offen. Die Kunden rufen an, das Buch wird bestellt und tags darauf konspirativ im Hausgang hinter dem Laden kontaktfrei, mit Maske, Abstand und frisch desinfizierten Händen übergeben. Kunden, denen das zu heikel ist, bekommen ihre Bücher an die Haustür geliefert – nicht von einem überarbeiteten und gehetzten Paketboten, sondern von der Chefin persönlich.
Erst war Buchhändlerin Maria auch gegen den Corona-Lockdown
Trotzdem darf Maria, die Buchhändlerin, die sich privat an die Regeln hält und nur ihren Job zu retten versucht, als vorbildliche Bürgerin gelten. An ihrem Kommentar zum zweiten, harten Lockdown hätte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) wahrscheinlich seine helle Freude. Erst schimpft sie: „Mensch, muss das ausgerechnet jetzt sein, so kurz vor Weihnachten? Hätte man das nicht früher machen können?“ Dann zeigt sie Verständnis: „Wahrscheinlich geht es nicht anders.“ Und dann fügt sie selbstkritisch hinzu: „Aber es stimmt schon, vor zwei Wochen wäre ich auch noch dagegen gewesen.“
Gerade ihr letzter Satz bringt das Dilemma, in dem die politisch Verantwortlichen in der Pandemie stecken, auf den Punkt. Es geht nicht nur darum, in der Sache das Richtige zu tun. Es kommt auch darauf an, den richtigen Zeitpunkt zu finden – also den Moment, in dem das, was an „Zumutungen“ angeordnet wird, auch mehrheitlich akzeptiert wird. Manches, was schon vor Wochen sachlich richtig gewesen wäre, hätte sich da politisch sehr wahrscheinlich noch nicht durchsetzen lassen. Die meisten Menschen hatten den Sommer unbeschadet überstanden, es war eine Gewöhnung eingetreten und viele, die keinen Corona-Fall in der Familie oder gar den Tod eines Angehörigen zu beklagen hatten, sagten sich: Was soll’s?
Im Kern also geht es um Lernprozesse – individuell, gesellschaftlich und politisch. Wie sehr sich diese Lernprozesse in die Länge ziehen können, dafür ist die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) geradezu ein Paradebeispiel.
Karneval der Meinungen unter den Ministerpräsidenten
Was war das im Frühling für ein „Karneval der Meinungen“: Die im Süden, wie Söder und sein baden-württembergischer Kollege Winfried Kretschmann (Grüne), in deren Ländern das Virus zuerst mit Wucht zugeschlagen hatte, drängten auf scharfe Gegenmaßnahmen. Ihre Kollegen im Westen, Norden und Osten hielten das erst mal für übertrieben. Es gab Gerangel um Zuständigkeiten, eitles Beharren auf hoheitlichen Kompetenzen und jede Menge parteipolitisches Hickhack. Die Einsicht, dass das Virus sich nicht um das Verhältnis zwischen Bund und Ländern oder um den Wettstreit der Parteien schert, setzte sich nur im Schneckentempo durch.
Söder hatte in der Runde ein spezielles Problem: seine Vorgeschichte. Der Ruf, der ihm bei vielen Kollegen und politischen Konkurrenten außerhalb Bayerns anhaftet, ist nicht gerade schmeichelhaft. Sie kennen den Franken aus seiner Zeit als CSU-Generalsekretär. Unter dem früheren Parteichef Edmund Stoiber war er „der Mann fürs Grobe“. Sie kennen ihn als knallharten Machtpolitiker, der seinen Vorgänger Horst Seehofer mit zäher Raffinesse aus dem Amt gedrängt hat. Und sie kennen ihn seit dem Jahr 2018 als Kollegen, der als Frischling in der Runde der Länderchefs nicht gerade bescheiden mit einer harten „Bayern first“-Redeweise aufgetreten ist.
Es waren und sind also immer auch Gefühle im Spiel und Gefühle können den nüchternen Blick auf die Sache verstellen. Als Söder auf strengere Corona-Regeln drängte, hieß es, man lasse sich nicht bevormunden. Als er in Bayern eigene Entscheidungen traf, hieß es, er missachte die Bedeutung einheitlicher Regelungen und presche vor, um andere unter Druck zu setzen. Und als die Umfragewerte für Söder fast durch die Decke gingen, weil die Bürger ihn neben der Kanzlerin mehrheitlich als den profiliertesten Krisenmanager wahrnahmen, hieß es, er mache all das nur, weil er selbst Bundeskanzler werden will.
Chronologie der Corona-Pandemie 2020 in Eilmeldungen
Mehr als 600 Eilmeldungen hat die Deutsche Presse-Agentur bis Dezember 2020 allein zum Corona-Virus gesendet. Die Überschriften dokumentieren die Zeitspanne von den ersten Hinweisen auf eine Ausbreitung der Viruserkrankung bis zu den jüngsten Erfolgen bei der Impfstoffentwicklung. Ein Überblick:
Januar
22.1. WHO ruft wegen Virus in China vorerst keine "internationale Notlage" aus
24.1. Zwei Fälle der neuen Lungenkrankheit in Frankreich nachgewiesen
28.1. Erster Coronavirus-Fall in Deutschland bestätigt
30.1. Coronavirus in China: WHO erklärt internationale Notlage
Februar
15.2. Frankreich meldet ersten Coronavirus-Todesfall in Europa
22.2. Italien will mit Coronavirus betroffene Städte abriegeln
29.2. Erster Coronavirus-Todesfall in den USA
März
9.3. Coronavirus: Landrat meldet ersten Todesfall in Deutschland
11.3. WHO bezeichnet Verbreitung des neuen Coronavirus als Pandemie
12.3. USA erlassen wegen Coronavirus 30-tägigen Einreisestopp aus Europa
12.3. CDU verschiebt Parteitag wegen Corona-Krise
12.3. Merkel: Wegen Coronavirus auf Sozialkontakte weitgehend verzichten
12.3. Bund und Länder: Ab Montag alle planbaren Operationen verschieben
13.3. UEFA stoppt vorerst Spielbetrieb im Fußball-Europapokal
13.3. NRW schließt nächste Woche alle Schulen
(plus 14 weitere Eilmeldungen zu Schulschließungen in anderen Bundesländern)
13.3. DFL: Fußball-Bundesliga stellt Spielbetrieb vorerst ein
13.3. Trump ruft wegen Coronavirus nationalen Notstand aus
16.3. Regierung schlägt Schließung von Läden vor - Supermärkte aber offen
17.3. Maas startet Rückholaktion für im Ausland festsitzende Deutsche
17.3. Bundesregierung spricht weltweite Reisewarnung aus
17.3. Fußball-EM wegen Coronavirus um ein Jahr verschoben
17.3. Nur noch EU-Bürger sollen nach Deutschland reisen dürfen
18.3. Österreich kontrolliert ab Mitternacht Grenze zu Deutschland
19.3. Coronavirus-Pandemie: Italien meldet mehr Tote als China
21.3. Mietern soll in Krise nicht gekündigt werden dürfen
22.3. Bund und Länder wollen Restaurants unverzüglich schließen
24.3. IOC bestätigt: Olympia in Tokio wird verschoben
25.3. Historisches Hilfspaket in Corona-Krise beschlossen
27.3. Corona-Pandemie: Italien meldet fast 1000 Tote an einem Tag
April
2.4. Weltweit mehr als eine Million nachgewiesene Coronavirus-Infektionen
6.4. Kreise: Zwei Wochen Quarantäne bei Rückkehr nach Deutschland
6.4. Corona-Infektion: Britischer Premierminister auf Intensivstation
15.4. Bund will Öffnung von Geschäften bis 800 Quadratmeter ermöglichen
15.4. Schulstart in Deutschland schrittweise ab 4. Mai geplant
17.4. Spahn: Ausbruch ist beherrschbar geworden
21.4. Saison in Handball-Bundesliga abgebrochen
22.4. Erste klinische Studie zu Corona-Impfstoff in Deutschland zugelassen
23.4. Merkel: Länder in Corona-Krise teils zu forsch
28.4. Nun bundesweite Maskenpflicht auch im Einzelhandel
30.4. Betriebe melden für 10,1 Millionen Menschen Kurzarbeit an
Mai
5.5. Wirtschaftsminister der Länder wollen Gastronomieöffnung ab 9. Mai
6.5. Bund will Öffnung aller Geschäfte in Corona-Krise erlauben
6.5. Politik erlaubt Geisterspiele der Fußball-Bundesliga ab Mitte Mai
13.5. Bundesregierung beschließt Lockerung der Grenzkontrollen
15.5. Deutsche Wirtschaft bricht in der Corona-Krise ein
26.5. Bund und Länder einig: Kontaktbeschränkungen bis 29. Juni
Juni
9.6. Deutscher Export bricht im April um mehr als 30 Prozent ein
16.6. Offizielle Corona-Warn-App steht zum Download bereit
17.6. Großveranstaltungen werden mit Ausnahmen bis Ende Oktober verboten
17.6. Schulen sollen nach Sommerferien wieder komplett öffnen können
23.6. Zahlreiche Einschränkungen nach Corona-Ausbruch bei Tönnies
25.6. EU-Kommission genehmigt Rettungspaket für Lufthansa
29.6. Bundestag beschließt Mehrwertsteuersenkung und Familienbonus
Juli
3.7. Arznei Remdesivir erhält europäische Zulassung für Covid-19
7.7. Brasiliens Präsident Bolsonaro mit Coronavirus infiziert
22.7. Corona-Tests bei Einreise aus Risikogebieten sollen Pflicht werden
30.7. Deutsche Konjunktur bricht dramatisch ein
30.7. Historischer Konjunktureinbruch in den USA wegen Corona-Krise
August
11.8. Putin: Russland lässt Impfstoff gegen Coronavirus zu
14.8. Reisewarnung des Auswärtigen Amts für fast ganz Spanien samt Mallorca
27.8. Bund und Länder: Großveranstaltungen bis Ende des Jahres verboten
September
29.9. Feiern in öffentlichen Räumen auf 50 Teilnehmer beschränkt
30.9. Neue Corona-Risikogebiete in elf europäischen Ländern
Oktober
2.10. US-Präsident Trump und First Lady positiv auf Coronavirus getestet
7.10. Länder: Beherbergungsverbot für Reisende aus Risikogebieten
8.10. Corona-Neuinfektionen in Deutschland steigen sprunghaft auf über 4000
14.10. Beschluss: Sperrstunde um 23 Uhr für Gastronomie in Corona-Hotspots
14.10. Bund und Länder wollen striktere Kontaktbeschränkungen in Hotspots
14.10. Frankreich führt Gesundheitsnotstand wieder ein
15.10. RKI meldet Rekordwert bei Corona-Neuinfektionen in Deutschland
21.10. Gesundheitsminister Spahn positiv auf Corona getestet
26.10. CDU-Spitze verschiebt Parteitag zur Vorsitzendenwahl ins nächste Jahr
28.10. Bund und Länder: Beginn von Kontaktbeschränkungen am 2. November
28.10. Bund und Länder wollen Gastronomiebetriebe vorübergehend schließen
November
2.11. Teil-Lockdown startet: Öffentliches Leben wird heruntergefahren
9.11. Biontech veröffentlicht vielversprechende Daten zu Corona-Impfstoff
16.11. Auch US-Konzern Moderna legt positive Daten zu Corona-Impfstoff vor
16.11. Bund und Länder appellieren: Keine privaten Feiern mehr
18.11. Bundestag beschließt Änderungen beim Infektionsschutzgesetz
25.11. Private Zusammenkünfte werden auf fünf Personen begrenzt
25.11. Bund und Länder lockern Kontaktbeschränkungen für Weihnachten
30.11. Moderna will Zulassung für Corona-Impfstoff in EU beantragen
Dezember
1.12. Biontech und Pfizer beantragen EU-Zulassung für Corona-Impfstoff
2.12. Biontech und Pfizer: Großbritannien lässt Corona-Impfstoff zu
2.12. Bund und Länder: Teil-Lockdown wird bis in den Januar verlängert
9.12. Verfassungsschutz Baden-Württemberg beobachtet "Querdenken"-Bewegung
12.12. Corona-Impfstoff von Biontech und Pfizer erhält US-Notfallzulassung
13.12. Bund und Länder beschließen harten Lockdown ab dem 16. Dezember
13.12. Bund und Länder beschließen Versammlungsverbot an Silvester
13.12. Möglichst keine Schul- und Kita-Besuche ab Mittwoch bis 10. Januar
13.12. Bund erhöht Corona-Finanzhilfen für Unternehmen
19.12. Corona-Impfstoff von Moderna erhält Notfallzulassung in den USA
21.12. EMA empfiehlt erste Zulassung eines Corona-Impfstoffs in der EU
21.12. EU-Kommission genehmigt Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer
22.12. Bayern führt Corona-Testpflicht für Reisende aus Risikogebieten ein
(dpa)
Söder weiß, wo der Dreschflegel hängt
Unter normalen Umständen gehören derlei Giftigkeiten zum Geschäft. Auch Söder ist kein Waisenknabe. Er weiß, wo der Dreschflegel hängt. Unter den Bedingungen einer Pandemie aber sollte kleinliches Gezänk Nebensache sein. Tatsächlich brauchte es im Lauf des Jahres einige Marathonsitzungen, um zur Hauptsache zu kommen. Zuletzt ging es schnell. Der zweite harte Lockdown wurde in der MPK binnen einer Stunde beschlossen. Söder hatte seinen Teil dazu beigetragen. Er war dazu übergegangen, seine Kollegen nicht schon jeweils vor dem Treffen öffentlich mit Forderungen zu traktieren. Auch ein Partei- und Regierungschef muss lernen. Er selbst formuliert es pathetischer: „Man wächst nicht an den Wünschen, die man hat, sondern man reift an den Aufgaben, die einem gestellt werden.“
In Bayern war es von Anfang an nicht viel einfacher. Der erste Schock über die anrollende Pandemie saß tief. Die Zweifel waren groß. Und obwohl allseits getönt wurde, dass „die Krise die Stunde der Exekutive“ sei und somit alle Entscheidungsgewalt bei der Regierung liege, suchte Söder in den ersten Wochen den Kontakt zur Opposition, insbesondere zu den Grünen. Er sagte, er wolle einen möglichst breiten Konsens. Seine Kritiker behaupten, er wollte mögliche Fehlentscheidungen nicht allein auf seine Kappe nehmen. Als die Kontakte nach einiger Zeit wieder abbrachen, gab es zur Begründung zwei Versionen. Von Söders Seite hieß es, die Opposition habe kalte Füße bekommen, sie könnte sich in den Augen ihrer Wählerschaft von der Regierung zu sehr vereinnahmen lassen. Vonseiten der Grünen hieß es, Söder fühle sich nach Wochen der Unsicherheit wieder sicher und wolle gar keine Unterstützung mehr. So oder so – auch hier war jede Menge an Gefühlen im Spiel.
Tatsächlich ging es politisch um weit mehr. Das Infektionsschutzgesetz des Bundes war – da sind sich mittlerweile alle einig – nicht für eine Krise dieses Ausmaßes gemacht. Auf längere Sicht dürften die Regierungen der Länder, die das Gesetz per Verordnung zu vollziehen haben, nicht alleine Regelungen treffen, die derart tief in die Grundrechte der Bürger eingreifen. Der Ausnahmezustand dürfe kein Dauerzustand werden. Ohne Kontrolle des Parlaments könne die Legitimität der Entscheidungen auf mittlere Sicht nicht gewährleistet werden.
Landtag beklagte mangelndes Mitspracherecht bei Corona
Die Juristen in der Staatskanzlei sperrten sich lange gegen dieses Argument. Verfassungsrechtlich, so sagten sie, sei alles in Ordnung. Die Opposition im Landtag habe schließlich viele Möglichkeiten, gegen die Entscheidungen der Regierung aufzubegehren oder sie zumindest öffentlich zur Diskussion zu stellen. Die Kontrolle der Regierung sei gewährleistet. Grüne, SPD und FDP und auch Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) hielten dagegen. Zwar kann aus rechtlichen Gründen über die Corona-Verordnungen immer noch nicht direkt abgestimmt werden. Wohl aber kann sich die Regierung über den Umweg von Dringlichkeitsanträgen ihren Kurs absegnen lassen. Am 8. Dezember erklärt Söder hoch offiziell: „Die Zustimmung des Landtags ist keine symbolische Handlung. Vielmehr liegt das letzte Wort tatsächlich beim Parlament.“
Hält er sich hier eine Hintertür offen? Vielleicht. Wenn irgendwann nach der Pandemie Nutzen und Schaden der Entscheidungen abgewogen werden, wird Söder darauf verweisen können, dass der Landtag zugestimmt hat und dass er – anders, als das in anderen Ländern geschieht – die Corona-Verordnungen erst danach in Kraft gesetzt hat. Der Vorwurf aber, es sei irgendwo hinter verschlossenen Türen über die Köpfe von Parlament und Bürgern hinweg entschieden worden, ist damit vom Tisch. Demokratie ist ein lernendes System.
Als es diese Woche um den harten Lockdown ging, stimmten die Regierungsfraktionen von CSU und Freien Wählern zu. Grüne und SPD sagten nur im Grundsatz ja, gaben aber zu Protokoll, was ihnen im Detail nicht gefällt, und enthielten sich der Stimme. AfD und FDP stimmten mit Nein. Jeder hat halt so seine Hintertür.
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