Hamburg, Stuttgart, München, Regensburg, Weiden in der Oberpfalz. In all diesen Städten haben sich am Wochenende ähnliche Szenen abgespielt. Der Abend war lau - endlich mal wieder - die Ausgangssperren aufgehoben. Zwei Gründe für viele, sich draußen zu treffen, gemeinsam etwas zu trinken, zu feiern - und offenbar für manche, am Ende des Abends die Polizei anzugreifen.
So schreibt etwa die Polizei in Regensburg, dass sie mehrmals ausrücken musste, um Gruppen von Feiernden aufzulösen. Gegen 23 Uhr sind es etwa 500 Menschen, die in der Regensburger Altstadt zusammenstehen, Abstände nicht einhalten und Straßen blockieren. Die meisten gehen friedlich, als sie darum gebeten werden. Anders 250 Personen, die die Beamten und Beamtinnen gegen 2 Uhr heim schicken wollen. Sie reagieren aggressiv, einige werfen Flaschen. Bei der Festnahme eines Verdächtigen wird eine Polizistin an der Hand verletzt.
Feiern eskalieren in München: Mann schlägt Polizeibeamten ins Gesicht
Aus München berichten die Einsatzkräfte, mehrere Tausend Menschen seien in der Nacht von Samstag auf Sonntag in der Maxvorstadt zusammengekommen. Die Anwohner beschweren sich, alarmieren die Polizei. Ein 18-Jähriger rastet aus, schlägt einen Polizeibeamten ins Gesicht, heißt es im Polizeibericht. Ein 19-jähriger Memminger wirft eine Flasche nach den Einsatzkräften. In Weiden zieht eine Gruppe von etwa 60 Feiernden durch die Stadt und zerstören Autos, Plakate, eine Schranke, wie die Polizei mitteilt. Was war denn da los? Als eine Ursache macht die Polizei in Regensburg Alkohol aus. "Auch gruppendynamische Prozesse dürften mit eine Rolle gespielt haben", teilt ein Sprecher mit. Und das heißt?
Eine Frage für Johannes Luff. Er leitet die kriminologische Forschungsgruppe der bayerischen Polizei. Luff beginnt seine Erklärung etwas grundsätzlicher, bei der Unterscheidung zwischen einer Menschenmenge und einer Menschenmasse. Eine Menschenmenge, so sagt der Augsburger, seien viele Personen, die zwar am gleichen Ort seien, sonst aber wenig miteinander zu tun hätten. Diese Menge wandele sich zu einer Masse, wenn etwas Unvorhergesehenes oder als bedrohlich Wahrgenommenes passiere. Dann setze das eigenständige Denken aus, die Emotionen übernähmen, sagt Luff. "In einer Masse tun Menschen Dinge, die sie als Individuum nicht machen würden. Sie geben die persönliche Verantwortung ab. Es zählt nur, was das Kollektiv tut", sagt er. Ein Auslöser verwandle eine friedliche Menge in eine emotionale Masse.
Wie schnell so etwas gehen kann, macht ein Fall aus Augsburg vom vergangenen Sommer deutlich. Damals wurde aus friedlich Feiernden in der Maxstraße ein wütender Mob. Auslöser war ein Streit zwischen Polizeibeamten und der Betreiberin des Café Corso und deren Mutter, der in einem Handgemenge endete.
Haben die Ausgangssperren während der Corona-Pandemie die Aggression gesteigert?
Damit es aber soweit kommt, dass Feiernde die Polizei angreifen, muss diese schon vorher ein Feindbild gewesen sein, sagt der Bielefelder Gewaltforscher Andreas Zick. Wenn Menschen an einen öffentlichen Ort zusammenkommen, um zu feiern, bilde sich "eine gemeinsame Identität, also ein 'Wir', und dabei entsteht auch ein loses Bild, wer dort nicht hingehört: das sind die Ordnungskräfte, die Polizei", sagt Zick.
Nur draußen gefeiert wurde ja schon vor der Pandemie. Aber selbst wenn dann von der Polizei um Ruhe gebeten wurde, lief das meist friedlicher ab. Haben die Ausgangssperren, das Quasi-Feierverbot durch geschlossene Clubs und Bars während der Corona-Pandemie, die Aggression erhöht? Zum Teil, glaubt der Bielefelder Gewaltforscher Zick. Ähnliches sei ja schon im vergangenen Jahr passiert, sagt er und erinnert etwa an die Krawallnacht in Stuttgart vom 20. auf den 21. Juni, oder an die Ausschreitungen Mitte Juli in Frankfurt. "All diese aggressiven Konflikte haben eine Vorgeschichte. Die Pandemie spielt eine Rolle. Clubs, andere Treffpunkte sind für die Menschen zu", sagt er. Der Sozialpsychologe Ulrich Wagner von der Universität Marburg erklärt es ähnlich. "Die Menschen haben es so lange hingenommen, dass ihre Freiheiten eingeschränkt wurden. Jetzt, wo die Regeln lockerer werden, wollen sie endlich wieder Freiheiten haben. Sie sehen sich im Recht, diese auch auszuleben, ohne gestört zu werden. Wenn dann die Polizei oder das Ordnungsamt kommen und sagen: 'Ihr müsst bitte Abstände einhalten und leiser sein', dann löst das Widerstand und sogar Aggressionen aus", sagt er.
Und Wagner spricht noch einen anderen Punkt an: "Seit etwa zweieinhalb Jahren lässt sich beobachten, dass es immer häufiger zu Widerstand gegen Repräsentanten des Staates kommt. Irgendwann gilt es in bestimmten Gruppen dann als okay, mit Flaschen auf Polizisten zu werfen", sagt er. Dieses Phänomen geht auch aus bayerischen Statistiken hervor. Vor kurzem teilte das bayerische Innenministerium mit, im vergangenen Jahr habe es fast 8600 Fälle von körperlicher und verbaler Gewalt gegen Polizeibeamte gegeben - fast acht Prozent mehr als 2019.
Hotel- und Gaststättenverband: Offene Clubs würden helfen
Peter Pytlik, Chef der bayerischen Polizeigewerkschaft, sagt: "Dass die Situationen wieder mal eskaliert sind, macht uns nicht das erste Mal zutiefst betroffen." Gleichzeitig glaubt er aber nicht, dass sich die Lage in den kommenden Wochen ändert, wenn das Wetter weiter schön und die Ausgehmöglichkeiten weiter zu bleiben. Der bayerische Hotel- und Gaststättenverband fordert deshalb, Clubs und Diskotheken wieder zu öffnen und den Menschen einen kontrollierten Raum zum Feiern zu geben. Auch Sozialpsychologe Wagner glaubt, dass das helfen würde, schränkt aber ein: "Sagen Sie das mal dem Virus. Das ist ja die Crux. Sich draußen zu treffen, ist aus pandemischer Sicht am sichersten. Aber dann kommt es eben zu anderen Problemen wie Lärm, Dreck und Gewalt." Was also tun?
Wagner nennt Marburg als Beispiel, dort habe die Stadt Freiräume geschaffen, in denen sich Menschen treffen können, ohne andere zu stören. In Marburg sei etwa ein Sportstadium geöffnet und auf Grünflächen seien Kreise eingezeichnet, damit die Menschen bemerken, wenn sie sich zu nahe kommen. Der Kriminologe Luff sagt, die Polizei müsse auf Deeskalation setzen, das Gespräch suchen und erklären, warum sie wie reagiert. Das - so ist aus dem Polizeipräsidium in Augsburg zu erfahren - sei auch so für die kommenden Wochen geplant.
Der Gewaltforscher Zick würde sich wünschen, dass die Sicherheitsbehörden noch einen Schritt weiter gehen und versuchen zu verstehen, wie Gewaltdynamiken entstehen und wie sich das Bild der Polizei gewandelt hat. "Wir wissen aus der Forschung viel zu wenig über das Polizeibild, Stereotype und Vorurteile. Es gibt ein Bild von Polizei, das sich verändert hat. Die Polizei wird öfter angegriffen und das ist kein Jugendproblem. Auch bei den Corona-Demonstrationen wird die Polizei immer aggressiver angegangen. Am Ende werden wir sehen, dass so etwas nicht vom Himmel fällt, sondern mit einem präventiven Blick eventuell hätte besser verhindert werden können."
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