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Corona-Krise: Ethikrat-Vorsitzende: "In der Diskussion darf es keine Tabus geben"

Corona-Krise

Ethikrat-Vorsitzende: "In der Diskussion darf es keine Tabus geben"

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    „Wir prüfen alle Entscheidungen daraufhin, ob sie sachgerecht und verhältnismäßig sind“, sagt Susanne Breit-Keßler. Die frühere Münchner Regionalbischöfin ist Vorsitzende des bayerischen Ethikrates.
    „Wir prüfen alle Entscheidungen daraufhin, ob sie sachgerecht und verhältnismäßig sind“, sagt Susanne Breit-Keßler. Die frühere Münchner Regionalbischöfin ist Vorsitzende des bayerischen Ethikrates. Foto: Andreas Gebert, dpa (Archiv)

    Im Moment hören wir jeden Tag, wie stolz die Regierung auf die Bürger ist, weil sie Disziplin zeigen und sich in der Corona-Krise an die Regeln halten. Kritische Nachfragen, ob das alles wirklich sein muss, ob es gerecht zugeht oder wie eine Exit-Strategie aussehen könnte, aber werden fast schon zum Tabu erklärt. Sie bilden mit den ehemaligen Präsidenten der Oberlandesgerichte Nürnberg und Bamberg einen Dreierrat, der kontrollieren soll, ob die staatlich verordneten Freiheitsbeschränkungen aus ethischer und juristischer Sicht angemessen und verantwortbar sind. Darf es derartige Tabus geben?

    Breit-Keßler: In der Diskussion darf es natürlich keine Tabus geben. Es geht um die Grundrechte unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Jeder und jede sollte sich dafür verantwortlich fühlen und mitdenken. Wir erwarten allerdings, dass diese Diskussion mit Sachargumenten geführt wird.

    Wie beurteilen Sie das aktuelle Krisenmanagement?

    Breit-Keßler: Die bisher verfügten Maßnahmen haben gezeigt, dass wir in der Frage des Lebensschutzes ganz allmählich vorankommen. Zugleich ist die Gefahr durch Corona längst nicht gebannt, weil es bislang keinen Impfstoff und keine Medikamente gibt. Leichtsinn ist nicht angesagt. Niemand will und darf schuld sein am Tod anderer. Ganz behutsam hat jetzt eine Exit-Strategie begonnen, die in 14-tägigen Abständen überprüft werden muss: Geht es medizinisch voran oder erleben wir Rückfälle? Können wir weitermachen mit einer ansatzweisen Normalisierung oder müssen wir erneut innehalten? Die Zahlen der Virologen spielen dabei selbstverständlich eine zentrale Rolle.

    Die Situation ist außergewöhnlich und für Regierende, die Verantwortung tragen, zweifellos auch außergewöhnlich belastend. Es gibt keine Blaupause und kein Lehrbuch für richtig oder falsch. Aber gerade mit Blick auf die Schwächsten in der Gesellschaft kristallisiert sich heraus, dass nicht alles richtig gemacht wurde. Man hat sich zu Beginn der Krise zum Beispiel vor allem um die Krankenhäuser gekümmert. Das war sicherlich richtig. Aber erst jetzt, nach einer Serie von Todesfällen, kümmert man sich auch verstärkt um Alten- und Pflegeheime oder um Einrichtungen für Behinderte. Haben Sie sich die Entscheidungen und Entscheidungsprozesse angesehen?

    Breit-Keßler: In Dilemma-Situationen, wie wir sie jetzt erleben, gibt es nicht einfach richtig oder falsch. Und es ist sogar noch komplizierter: Wenn man das Richtige tut, kann man zugleich gegen das Richtige verstoßen. Die Politiker müssen entscheiden, sie müssen handeln. Wir schauen ihnen als unabhängiges Gremium genau auf die Finger. Aber niemand, auch wir nicht, kann immer alles gleichzeitig gleich gut erledigen. Und dennoch haben Sie mit Ihrer Frage auch recht: Das, was für unsere Gesellschaft belastend ist, muss man sehr genau analysieren. Im Blick auf die Alten- und Pflegeheime sind wir noch dabei. Da werden wir verstärkt darüber nachdenken, wie bei aller Einhaltung des gebotenen Infektionsschutzes Mitmenschlichkeit besser möglich wird: Das absolute Primat „Sicherheit“ kann durch Kontaktsperre auf andere, schmerzliche Weise lebensbedrohlich werden.

    Wie weit können die Einschränkungen gehen? Ein geistig Behinderter oder eine Demenzkranke leiden unter Umständen sehr darunter, wenn ihr Betreuer ihn nicht mehr in den Arm nehmen darf.

    Breit-Keßler: Das ist richtig. Und es bricht einem das Herz. Ich kann oft nicht mehr schlafen, wenn ich daran denke, dass demente Menschen derzeit keinen Besuch bekommen. Zugleich: Wer von uns will dafür verantwortlich sein, wenn ein Mensch mit Behinderung sich am Pfleger ansteckt – oder umgekehrt – und dann stirbt? Ich wage mir das gar nicht auszumalen. Wir sollten weniger beklagen, was nicht geht im Augenblick. Wir müssen stattdessen mit aller Kraft liebevolle Kreativität entwickeln, um Nähe ohne Berührung zu leben. Ideen dafür gibt es schon.

    Und was ist mit todkranken Menschen? Darf man Kindern verbieten, ihre sterbende Mutter oder ihren sterbenden Vater zu besuchen?

    Breit-Keßler: Der Besuch bei Sterbenden ist für die Familie erlaubt.

    Es sind aber Fälle dokumentiert, in denen versucht wurde, einen Besuch zu untersagen.

    Breit-Keßler: Ich würde mir, auch in belastenden Situationen, die geltenden Regeln auf den Seiten des Innen- und des Gesundheitsministeriums im Internet durchlesen. Dazu die Verordnungen aus dem Netz herunterladen und notfalls damit in die Klinik gehen. Natürlich kann man auch ein Gericht anrufen.

    Gesundheit ist ein hohes Gut, Glück und Freiheit aber auch. Was macht der Dreierrat, um darauf zu achten, dass die Balance gewahrt wird?

    Breit-Keßler: Wir prüfen alle Entscheidungen daraufhin, ob sie sachgerecht und verhältnismäßig sind. Wir wissen: Es geht um Menschenleben. Darum, ob wir nicht nur unsere eigenen Wünsche respektieren, sondern auch die Bedürfnisse derer achten, die älter sind, die schwere Vorerkrankungen haben, die behandeln und pflegen. Übrigens: Auch unsere Kleinen sind gefährdet – die unter einem Jahr und bis zu fünf Jahren! Sie alle brauchen ausreichend Fürsorge und Behandlung, brauchen Zeit für fachliche und menschliche Zuwendung. Wir müssen unter allen Umständen die Triage vermeiden, die in anderen Ländern angewendet wird – das Auswählen, wer behandelt wird und wer nicht, wer – welch grausame Vorstellung! – abgehängt wird vom Beatmungsgerät zugunsten eines anderen. Also: Je weniger auf einen Schlag krank sind, desto besser.

    Noch einmal zum Anfang. Sie haben in einem Interview sinngemäß gesagt, man dürfe nicht zu schnell vorpreschen, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Das kann in einer Demokratie aber doch nicht heißen, dass man nicht drüber diskutieren darf. Wo bleibt da der mündige Bürger?

    Breit-Keßler: Der mündige Bürger sollte sich über verantwortungsvolle Medien – wie die Augsburger Allgemeine – informieren, sich eine fundierte Meinung bilden und mitreden. Uns im Dreierrat treiben die Leitziele des uneingeschränkten freiheitlichen Miteinanders und der Wiederherstellung der Normalität in unserem Rechtsstaat an. Dennoch tragen wir die bisherigen Maßnahmen mit, weil sie begründet, menschlich angemessen und zeitlich beschränkt sind. Die zeitliche Beschränkung, die kurzen Abstände, die für die Verordnungen und gegebenenfalls ihre Verlängerungen gelten, überzeugen nicht allein uns, sondern ganz offensichtlich auch die unabhängigen Gerichte.

    An welchen Punkten hat der Dreierrat denn bisher eingegriffen?

    Breit-Keßler: Wir haben verschiedene Dinge angeregt und sind dabei auf offene Ohren gestoßen: die zunächst geschlossenen Zeitungsläden wieder zu öffnen, die Ausländerbeiräte intensiver an der Information unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen mit Migrationshintergrund über die Maßnahmen der Staatsregierung zu beteiligen sowie in Einzelfällen und besonderen Nöten Abhilfe zu schaffen. Das Kabinett hat unseren Vorschlag aufgegriffen, dass alleinstehende Menschen auch mit jemand spazieren gehen können, der nicht ihrem Haushalt angehört, oder dass ältere Menschen bald wieder eine Fußpflege bekommen können. Von uns kommt schließlich die dringende Empfehlung, eine künftige nationale Bevorratung und Produktionskapazität von Schutzmasken, Medizin oder medizinischem Material ins Auge zu fassen. Die offensichtliche Abhängigkeit von China, Indien und anderen Ländern erweist sich als nicht hilfreich.

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