„Unsere Art zu wirtschaften und unser Verständnis von Wohlstand und Wachstum müssen sich grundsätzlich ändern.“ Diese Forderung haben die Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Bundes für Umwelt- und Naturschutz (BUND) schon vor Jahren gemeinsam formuliert. Ein sozial-ökologischer Umbau der Gesellschaft sollte die Antwort sein auf Klimawandel, Digitalisierung, Flüchtlingsbewegungen, Handelskonflikte und den erstarkenden politischen Extremismus. Jetzt kommt die Pandemie dazu. Müssen Sie nachbessern?
Richard Mergner: Nein, ganz im Gegenteil. Die Forderungen nach einem fairen und ökologischen Wirtschaftssystem, das Gesundheit und Leben schützt, sind brandaktuell. Durch die Pandemie sind die Fehlentwicklungen der Globalisierung noch offenkundiger geworden. Auf der Suche nach dem letzten Quäntchen Rendite werden Produktionsstandorte ins Ausland verlegt. Dadurch werden Lieferketten anfällig und die Versorgung der heimischen Bevölkerung im Krisenfall gefährdet. Landwirtschaft und billige Lebensmittel im Supermarkt funktionieren nur mit ausländischen Erntehelfern und Ausbeutung von Mensch und Natur. Die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit für den Umgang mit künftigen Krisen muss gestärkt werden, denn die Klimakrise und der Schwund natürlicher Ökosysteme haben auf Dauer noch schlimmere Folgen als die Covid-19-Pandemie.
„Der Umbau unserer Gesellschaft ist sogar dringender nötig denn je“
Matthias Jena: So ist es. Die Pandemie ändert einiges, aber nicht alles. Die von DGB und BUND benannten Megathemen bleiben uns erhalten. Der sozial-ökologische Umbau unserer Gesellschaft ist sogar dringender nötig denn je. Das zeigt sich zum Beispiel bei der Organisation und der Ausstattung unseres Gesundheitssystems wie auch anderer „systemrelevanter Bereiche“. Die Aufwertung dieser Bereiche ist dem DGB schon lange ein Anliegen.
Woher kommt es, dass Sie sich so weitgehend einig sind? Gewerkschafter und Naturschützer sind ja historisch gesehen nicht gerade natürliche Partner.
Jena: Selbstverständlich kommen Gewerkschaften und Naturschützer aus unterschiedlichen Traditionen. Aber es ist doch nicht so, dass dem Industriearbeiter die lebenswerte Umwelt egal ist. Oder dass die Aktiven beim BUND die Wichtigkeit des sozialen Friedens, der maßgeblich auf Beschäftigung und Einkommen fußt, verkennen würden. Uns eint der Wille, unser Wirtschaften gemeinsam neu zu gestalten und den sozial-ökologischen Wandel hinzubekommen – im Sinne der Beschäftigten und der Umwelt.
„Die Ausbeutung von Mensch und Natur haben ähnliche Ursachen“
Mergner: Die Ausbeutung von Mensch und Natur haben ähnliche Ursachen: die ausschließliche Ausrichtung unserer Gesellschaft und unseres Wirtschaftssystems auf größtmögliche Renditen. Dabei werden häufig Gewinne, die man aus kostenlosen Gütern der Natur zieht, privatisiert, wohingegen Verluste und Schäden an der Natur auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Hinzu kommt: Gewerkschaften wollen ja ein gutes Leben für ihre Mitglieder erkämpfen und dazu gehören zwingend Gesundheitsvorsorge und intakte Lebensgrundlagen. DGB und BUND Naturschutz engagieren sich in Bayern seit Jahren für ein Abschalten der lebensgefährlichen Atomkraftwerke und für die Energiewende, für Einspartechnik, für die Nutzung von Wind und Sonne.
Lassen Sie uns über Bayern reden. Der Freistaat profitierte bisher wie kaum ein anderes Bundesland von der Globalisierung. Jetzt trifft ihn die Krise besonders hart – nicht nur wegen der hohen Zahl der Infizierten, sondern auch, weil internationale Lieferketten gerissen sind, Saisonarbeiter fehlen und viel weniger exportiert werden kann. Wie lässt sich da aus Sicht der Gewerkschaften für die Zukunft Vorsorge treffen?
„Die Binnennachfrage ist der rettende Anker“
Jena: Wir haben schon lange darauf hingewiesen, dass sich die Exportabhängigkeit und die daraus entstandenen Ungleichgewichte am Ende rächen können. Daher war und ist eine zentrale Forderung der Gewerkschaften die Stärkung der Binnennachfrage, um eine ausgewogenere und weniger anfällige Entwicklung zu fördern. Bei einbrechender Konjunktur ist die Binnennachfrage der rettende Anker. Insbesondere bei der letzten großen Krise, der Finanzkrise, hat sich gezeigt, dass Konjunkturpakete, welche die regionale Nachfrage stärken, Wirkung zeigen.
Über Klimawandel und Artenschwund wird in Bayern derzeit wenig geredet. Trotzdem setzen sich diese bedrohlichen Entwicklungen fort. Aus der Wirtschaft kommt die Forderung, möglichst schnell wieder „durchzustarten“. Worauf kommt es da aus Sicht des Naturschutzes an?
Mergner: Die angekündigten Corona-Konjunkturprogramme müssen als Chance für einen sozial-ökologischen Umbau aller Wirtschaftsbereiche hin zu mehr Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Krisenfestigkeit genutzt werden. Mit dieser Forderung stehen wir nicht alleine da: Über 250 Unternehmen, die mehrere Millionen Beschäftigte repräsentieren, haben sich mit der Forderung nach einem Klima-Konjunkturpaket an die Bundesregierung gewandt. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Petersberger Gipfel haben diese Forderungen unterstützt. Aber die Konjunkturprogramme müssen nicht nur ökologisch, sondern auch sozial sein. Deshalb sind wir beispielsweise auch gegen eine Neuauflage der Abwrackprämie, mit der schon wieder mit einer als Innovation verbrämten Subvention einseitig die Autoindustrie gefördert werden soll.
Nicht nur die Autoindustrie ist betroffen
Die Autoindustrie ist aber ein Rückgrat der Wirtschaft in Bayern.
Mergner: Die Corona-Krise betrifft alle Menschen, nicht nur die Automobilbranche. Wir fordern daher eine Mobilitätsprämie, die direkt an die Bürger ausbezahlt wird. Diese können sie dann in ein ökologisches Verkehrsmittel ihrer Wahl, sei es Fahrrad, Bahncard, Nahverkehrsticket oder kleines E-Auto, investieren. Mit welchem Recht unterstützt man Unternehmen mit Steuergeldern, die – anders als zum Beispiel Einzelhändler, Gastwirte oder selbstständig Kulturschaffende – nicht in ihrer Existenz bedroht sind, sondern nur vorübergehend eine Gewinnminderung erfahren haben? Ist die Arbeit einer Busfahrerin weniger wertvoll als die eines Arbeiters in der Automobilindustrie?
Einfach so weitermachen wie vor der Pandemie wird nach Ihrer Auffassung also nicht möglich sein?
Mergner: Nein, es kann nicht einfach eine Wiederherstellung des vorherigen Status geben. Das hat auch die Nationale Akademie der Wissenschaften so festgestellt. Wenn wir die Chancen für Reformen und die Milliarden Euro an Corona-Krisengeldern jetzt nicht nutzen, schlittern wir sehenden Auges in die nächste Krise. Die Konjunkturprogramme müssen jetzt dazu genutzt werden, die Energie-, Mobilitäts- und Wärmewende sowie auch die Agrar- und Ressourcenwende zu beschleunigen. Damit lassen sich neue Arbeitsplätze schaffen und die Widerstandsfähigkeit für künftige Krisen stärken.
Jena: Ich bin mir sogar ganz sicher, dass es kein „Einfach so weitermachen“ geben wird. Die Pandemie hat viele Bereiche in ein anderes Licht gerückt. Plötzlich wurden Branchen systemrelevant, an denen jahrzehntelang gespart wurde – allen voran der Gesundheits- und Pflegebereich. Krankenhäuser sind dazu da, um kranke Menschen zu heilen, und nicht, um Profit abzuwerfen. Diese Erkenntnis muss dauerhaft in den verantwortlichen Köpfen hängen bleiben. Ähnliches gilt für den Öffentlichen Dienst und die Daseinsvorsorge. Das sind die Bereiche, die „den Laden am Laufen halten“. Wir Gewerkschaften werden alles dafür tun, um diese Arbeit zu honorieren und sie dauerhaft aufzuwerten.
Mehr Verteilungsgerechtigkeit ist nötig
Nennen Sie doch bitte Beispiele, was konkret anders gemacht werden sollte.
Jena: In Reaktion auf die Pandemie werden riesige Mengen staatlicher Gelder ausgeschüttet. Hier stellt sich die Frage: Wer bezahlt diese Rechnung? Der DGB wird Vorschläge machen, wie durch mehr Verteilungsgerechtigkeit ein Ausgleich geschaffen werden kann. Es ist kein Geheimnis, dass wir von den reichsten Menschen in Deutschland einen größeren Beitrag zur Finanzierung der staatlichen Aufgaben verlangen. Das Nettovermögen der Deutschen liegt bei etwa neun Billionen Euro – allein das reichste Hundertstel davon hält 3,8 Billionen Euro. Geld ist also genug da, es bedarf nur einer Abkehr vom wirtschaftsliberalen Dogma und einer Hinwendung zur sozialen Marktwirtschaft. Notwendig ist auch eine europaweit gedachte Strategie.
Deutschland schafft das nicht alleine?
Jena: Die derzeitige Situation stellt eine Belastungsprobe für den europäischen Zusammenhalt dar. Wenn sich jetzt nationale Alleingänge durchsetzen, kann das böse enden. Stark krisenbetroffene Staaten wie Italien oder Spanien dürfen nicht sich selbst überlassen werden. Der Zusammenhalt zeichnet eine Staatengemeinschaft aus und erfordert von den Stärkeren größere Opfer. Dass sich dieser solidarische Weg für Deutschland immer wieder rentiert hat, ist offensichtlich.
„Stopp für genmanipuliertes Soja aus Südamerika“
Was schlagen Naturschützer vor?
Mergner: Die verantwortliche Politik muss dafür sorgen, dass die Preise die soziale und ökologische Wahrheit sagen. Produkte müssen verboten oder massiv verteuert werden, wenn bei ihrer Herstellung Natur und Menschen ausgebeutet werden. Also Stopp für genmanipuliertes Soja aus Südamerika in den Futtertrögen und Umstellung auf Biolandwirtschaft. Im Energiebereich müssen sofort alle Atomkraftwerke und schrittweise die fossilen Kraftwerke abgeschaltet und Bayern mit erneuerbarer Energie versorgt werden.
Ich könnte mir vorstellen, dass Sie beide beim Thema Verbrennungsmotor unterschiedlicher Auffassung sind. Was trennt Sie und wo gibt es vielleicht doch Schnittmengen?
Mergner: Wir brauchen eine zukunftsfähige Mobilität, die Klimaschutz fördert. Das geht nur mit weniger Autos und Lkws, mit mehr Bussen und Bahnen und viel mehr Platz für Rad- und Fußgänger. E-Mobilität und Aufbau der Ladeinfrastruktur müssen den Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter für alle ermöglichen. Wir sind klar gegen die von Ministerpräsident Markus Söder geforderte Autokaufprämie, sondern, wenn überhaupt, für eine Mobilitätsprämie. Dann kann jeder selbst entscheiden, in welche Form einer ökologischen Mobilität er die Prämie investiert.
Jena: Die Schnittmengen zwischen uns sind größer, als viele denken. Als Gewerkschaften bekennen wir uns zu den Klimazielen. Entgegen der Doktrin des Shareholder Value, also der Gewinnmaximierung um jeden Preis, geht es uns um langfristige Strategien. Wir wollen, dass es auch morgen noch Arbeit in einer lebenswerten Umwelt gibt. Unsere Aufgabe ist es, die umweltpolitischen Herausforderungen mit der Beschäftigungssicherung unter einen Hut zu bekommen. Daran arbeiten wir Tag für Tag. Unserer Einschätzung nach wird sich der Verbrennungsmotor noch eine Weile halten – unter fortlaufender Verbesserung, was die Themen Feinstaub- und CO2-Ausstoß anbelangt. Aber der schon vielfach eingeschlagene Transformationsprozess ist unumkehrbar.
Zu den Personen: Matthias Jena ist seit 2010 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bayern. Richard Mergner ist seit 2018 Landeschef des Bund Naturschutz.
Lesen Sie dazu auch:
- Arbeitslosigkeit nimmt zu und Zahl der Kurzarbeiter steigt rasant
- Was für die Ausbildungssuche in Corona-Zeiten wichtig ist
- Die Ausbildung darf nicht wegen des Coronavirus leiden
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.