Seit drei Wochen sind die bayerischen Schulen geschlossen – und es ist nicht unwahrscheinlich, dass Schüler auch nach den Osterferien zu Hause lernen müssen. Geht das genauso gut wie im Klassenzimmer?
Sonja Dollinger: Wir stehen vor einer beispiellosen Krise, deren Ende noch nicht absehbar ist. Es gab noch keine vergleichbare Situation, sodass es noch keine spezifischen Befunde zum Lernen daheim in diesem Ausmaß gibt. Theoretisch aber ist das über einen begrenzten Zeitraum denkbar, wenn im Vorfeld die Strukturen geschaffen sind. Aber nichts kann letztendlich den direkten Austausch und das gemeinsame, von der Lehrkraft begleitete Lernen mit anderen Kindern ersetzen. Der Wissensstand zum digitalen Lernen generell ist aber profund und erlaubt uns – zusammen mit den Erfahrungen, die Kinder, Eltern und Lehrkräfte in den letzten Wochen machen und mitteilen – begründbare Vermutungen, wie Kinder möglichst gut unter den gegebenen Umständen lernen können und wo es Probleme gibt.
Wie wichtig ist die Lernumgebung Schule für ein erfolgreiches Lernen?
Sabine Martschinke: Äußerst wichtig. Die Kinder erleben dort unmittelbare Gemeinsamkeit. Vielleicht noch entscheidender ist der direkte Kontakt mit der Lehrkraft. Kinder brauchen ständige Rückmeldung, um effektiv lernen zu können. Die Forschung zur Unterrichtsqualität besagt: Je strukturierter der Unterricht gestaltet ist, desto erfolgreicher lernen Schüler. Natürlich werden Lehrkräfte – und sicher auch Eltern – versuchen, den Kindern auch beim Lernen daheim Struktur zu geben, aber das ist und war unter den gegebenen Umständen sicher nicht immer umsetzbar.
Zuletzt hieß es immer wieder, Eltern seien jetzt „Ersatzlehrer“. Können Eltern die Lehrkraft ersetzen?
Dollinger: Eltern sollen und können keine Lehrkräfte ersetzen, die ja professionell diagnostizieren, fördern, Lernprozesse begleiten. Eltern spielen andere und sehr wichtige Rollen in dieser schwierigen Situation. Sie können unterstützen, ermutigen, den Tag strukturieren, für bewusste „lernfreie“ Zeiten sorgen. Lehrkräfte haben aber vor der Corona-Krise schon viel getan. Unterricht ist gerade in der Grundschule schon häufig mit selbstverantwortlichen und offenen Lernphasen angereichert. Kinder lernen und arbeiten mit Tages- oder Wochenplänen und haben freie Arbeitsphasen, in denen sie selbstständig lernen. Dies ist eine gute Voraussetzung, unter der Anleitung von Lehrkräften und mit der Unterstützung der Eltern ein Lernen daheim positiv zu gestalten.
Niemand weiß aus Erfahrung, wie man in diesen Zeiten am besten Inhalte vermittelt. Entsteht eine neue Art von Leistungsdruck auf die Eltern?
Martschinke: Zunächst einmal wissen viele Lehrkräfte schon viel dazu, wie sie Kinder auch auf digitalem Wege unterrichten und fördern können. Einige Eltern haben hier trotzdem große Erwartungen an sich selbst. Man muss sich aber klarmachen, dass diese extreme Situation befristet ist und bald hoffentlich das Lernen wieder mehr in die Schule verlagert werden kann. Der Spagat zwischen Arbeit oder Homeoffice, Homeschooling und dem einfachen Dasein fürs Kind ist teilweise für Eltern schmerzhaft. Eltern sollen und können hier ihre Ansprüche herunterschrauben – das nimmt Druck heraus. Die Verantwortung für die Planung des Lernens daheim liegt weiterhin bei den Lehrkräften. Das sollte man auch als Beruhigung empfinden und darauf vertrauen, dass sie alle Kinder im Blick haben.
Wie können Eltern den eigenen Druck noch lindern?
Martschinke: Das Wichtigste ist der Austausch unter allen Beteiligten. Lehrkräfte, Kinder und Eltern sollten sich gegenseitig wertschätzende Rückmeldung geben, bei Bedarf auch konstruktiv kritisieren. Lehrkräfte müssen wissen, wenn es für Kinder zu viel, zu schwer, zu leicht ist. Wir hören von Lehrern, die Familien anrufen und hören wollen, wie ihre Lernangebote ankommen, die wissen wollen, wie es den Kindern geht, die mit ihnen über ihre Ängste sprechen.
Was ist mit Kindern, deren Eltern zu Hause nicht helfen können oder wollen? Werden diese noch weiter zurückfallen, als sie es ohnehin schon sind?
Dollinger: Wir wussten schon vor Corona um Benachteiligungen von Kindern aus sozial schwächeren Familien. Da ist Armut ein Thema: Familien haben eventuell die technischen Voraussetzungen nicht, die Kinder für digitales Lernen brauchen. Es fehlen ruhige Arbeitsplätze. Es gibt Eltern, die jetzt beide arbeiten müssen, ob außer Haus oder im Homeoffice. Grundsätzlich variiert die Unterstützung zu Hause immer. Damit ist unter Umständen mit einer Verschärfung der Situation zu rechnen. Aber: Lehrkräfte kennen diese Benachteiligungen und werden dies bei ihren aktuellen Lernangeboten und auch künftigen Unterrichtsplanungen berücksichtigen.
Kann Schule diese Leistungsschere später wieder schließen? Wenn ja, wie?
Martschinke: Gerade die Grundschule ist schon immer die Schule mit einer sehr heterogenen Schülerschaft. Lehrkräfte sind durch die Lehrerbildung und ihre Erfahrungen Spezialisten für Individualisierung, für den Blick auf Gruppen, aber auch für den Blick auf jedes einzelne Kind. Professioneller Umgang mit Heterogenität vor, während und sicher auch nach dieser Krise heißt immer: Beobachten und prüfen, wo Kinder stehen und sie dort abholen mit geeigneten, adaptiven Fördermaßnahmen.
Haben Sie abschließend ein paar Tipps für die richtige Balance zwischen Lern- und Freizeit?
Dollinger: Die Antwort steckt schon in der Frage: Es geht um die richtige Balance, die für jedes Kind, für jede Familie anders aussehen kann. Die schulische Zeitstruktur bindet Rituale ein, enthält aber auch viele Formen der Abwechslung zwischen Lern- und Erholungsphasen, sei es der Austausch im Morgenkreis, die kleinen und großen Pausen mit den Freunden, Sport- und der Kunstunterricht. Struktur, Rituale und Pausen beim Lernen sind auch zu Hause wichtig. So können feste Zeiten für Lernen und Freizeit lernförderlich wirken.
Zu den Interview-Partnerinnen: Sonja Dollinger und Sabine Martschinke sind Professorinnen für Grundschulpädagogik und -didaktik am Institut für Grundschulforschung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
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