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Corona-Inzidenz: Verlässlich oder überholt? Das Problem mit den Corona-Infektionszahlen

Corona-Inzidenz

Verlässlich oder überholt? Das Problem mit den Corona-Infektionszahlen

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    Im Landkreis Landsberg liegt der Sieben-Tage-Inzidenzwert am Sonntag nur noch knapp über 100. Aber wie aussagekräftig ist die Zahl?
    Im Landkreis Landsberg liegt der Sieben-Tage-Inzidenzwert am Sonntag nur noch knapp über 100. Aber wie aussagekräftig ist die Zahl? Foto: Julian Leitenstorfer

    Das, was früher einmal der tägliche Blick auf den Wetterbericht war, ist heute die Beobachtung der Inzidenzwerte. Wenn man so will, dann zeigen die Zahlen, ob eher ein laues Lüftchen weht oder doch ein schwerer Sturm aufzieht. Doch diese Werte, die die Pandemie in eine Art Zahlenkorsett kleiden, sind auch anfällig für Ungereimtheiten.

    Markus Söder gilt als großer Verfechter des Inzidenz-Prinzips. "Es gibt keinen Anlass, vom System der Inzidenzen abzukehren. Dies wäre ein Blindflug mit erheblichstem Gefahrenpotenzial", sagte der bayerische Ministerpräsident vor Kurzem in einer Pressekonferenz, als die dritte Welle gerade Fahrt aufnahm.

    Was ist der Grund für abweichende Corona-Inzidenzzahlen?

    In Bayern hängt viel von diesen Inzidenzwerten ab. Etwa, ob Kinder in die Klassenzimmer dürfen. Ob Geschäfte Click&Meet anbieten können oder ob es nächtliche Ausgangsbeschränkungen gibt. Doch das Problem ist: Noch immer gibt es nach dem Wochenende keine zuverlässigen Zahlen, das Bild ist regelmäßig verzerrt. Woran liegt das? Am Meldeweg? Oder wird in den Gesundheitsämtern und Laboren am Wochenende nicht gearbeitet?

    Dr. Uta-Maria Kastner, Leiterin des Dillinger Gesundheitsamtes, ärgert sich über solche Vorwürfe. Im Landkreis Dillingen und in fast allen Gesundheitsämtern in Schwaben würden alle Meldungen täglich erfasst und weitergemeldet. "Es gibt deshalb keinen Meldeverzug bei den täglichen Fallzahlen", sagt sie. "Wir sind am Wochenende seit Beginn der Pandemie immer besetzt und hatten nur im Sommer eine kurze Pause."

    Für die Abweichungen der Zahlen nennt Kastner einen anderen Grund: Es werde am Wochenende einfach weniger getestet, da die Hausarztpraxen geschlossen seien und die Testzentren reduzierte Öffnungszeiten hätten. "Auch nehmen kranke Personen am Wochenende das Angebot von Testungen weniger wahr und warten lieber bis sie am Montag zum Hausarzt gehen können." Gerade weil von den Zahlen so viel abhänge, werde ja auch ein Inzidenzwert, der über drei Tage stabil bleibt, als Maß für weitere Maßnahmen genommen, erklärt die Medizinerin. Das Münchner Gesundheitsamt – ebenfalls sieben Tage pro Woche im Einsatz – erfasst die Zahlen normalerweise am Nachmittag und meldet diese laut einer Sprecherin auch umgehend weiter. Diskrepanzen könnten sich daher aus erst danach erfassten Zahlen ergeben, die erst in der Inzidenz des darauffolgenden Tages berücksichtigt werden.

    Abweichende Corona-Inzidenzzahlen? Gesundheitsämter sind fast immer im Einsatz

    Laut Infektionsschutzgesetz müssen Covid-19-Fälle vom zuständigen Gesundheitsamt spätestens am nächsten Arbeitstag elektronisch an die zuständige Landesbehörde und von dort spätestens am nächsten Arbeitstag an das Robert Koch-Institut übermittelt werden, erklärt eine Sprecherin des bayerischen Gesundheitsministeriums. Durch diesen Meldeweg könnten sich der Ministeriumssprecherin zufolge die Zahlen in den Übersichten der Gesundheitsämter von denen des Landesamtes für Gesundheit und des Robert-Koch-Instituts "für die einzelnen Meldetage unterscheiden und dort rückwirkend gegebenenfalls noch erhöhen". Schwankungen bei den tagesaktuellen Meldungen würden aber dadurch aufgefangen, dass der maßgebliche Inzidenzwert die Fälle der letzten sieben Tage pro 100.000 Einwohner abbildet. "Es handelt sich also um die aufsummierten Fälle, die im Verlauf dieser sieben Tage durch die Gesundheitsämter gemeldet wurden."

    Eine Sprecherin des bayerischen Landesamtes für Gesundheit (LGL) ergänzt: "Aufgrund der nach wie vor hohen Fallzahlen können – auch aufgrund unterschiedlicher Aktualisierungszeitpunkte der Webseiten und der Veröffentlichung unterschiedlicher Datenstände – temporär Abweichungen auftreten." Es sei auch nicht gänzlich auszuschließen, dass eine korrekte Übertragung der Daten aus technischen Gründen verhindert werde.

    Fabian Mehring, Landtagsabgeordneter der Freien Wähler, geht es gar nicht so sehr um Meldeprozesse, sondern darum, dass der Inzidenzwert oft als alleinige Kennzahl hergenommen wird: "Ich halte es für falsch, dass man alle Öffnungsperspektiven nur daran koppelt." Denn der Wert schwanke eben mit der Anzahl der Tests und verliere mit zunehmenden Impfungen auch immer mehr an Aussagekraft. "Wenn ich weiß, dass die Zahl oft ungenau ist, kann ich doch nicht die ganze Lebenswirklichkeit daran festmachen."

    Die Ausrichtung der Politik am Inzidenzwert habe überdies noch ein anderes Problem: "Wenn er drei Tage über 100 liegt, müssen die Geschäfte schließen. Liegt er dann drei Tage knapp unter 100, dürfen sie wieder öffnen. Die Händler werfen uns zurecht eine mangelnde Planbarkeit vor", sagt Mehring, der sich für eine "gewichtete Risikoinzidenz" ausspricht. Der Inzidenzwert ist dabei nur ein Faktor neben anderen, etwa der Positivrate der Tests, dem R-Wert, der Belastung des Gesundheitssystems, der Impfquote und der Sterberate.

    Weniger Corona-Tests zu Ostern sorgen für zweifelhafte Ergebnisse

    Wie fragil das Inzidenz-Konstrukt ist, zeige sich auch aktuell, sagt der Abgeordnete: "Der Wert geht leicht zurück, aber dass es wirklich eine Entspannung gibt, wird angezweifelt – eben weil jetzt weniger getestet wurde." Auch das bayerische Landesamt für Gesundheit verweist darauf, dass bei der Interpretation der Fallzahlen rund um die Ostertage zu beachten sei, dass weniger Personen einen Arzt aufsuchten, wodurch auch weniger Proben genommen und weniger Laboruntersuchungen durchgeführt worden seien. "Dies führt dazu, dass weniger Erregernachweise an die zuständigen Gesundheitsämter gemeldet werden. Zudem haben nicht alle Gesundheitsämter an allen Tagen an das LGL übermittelt", sagt eine Sprecherin des Landesamtes.

    Über die Osterfeiertage haben dem RKI zufolge auch nicht alle Labore voll gearbeitet. Und auch an normalen Wochenenden melden nicht alle Labore die Fallzahlen. Dem bayerischen Gesundheitsministerium zufolge trifft das insbesondere auf privatwirtschaftliche Labore zu. Verallgemeinern könne man das aber nicht, warnen Experten. Das Personal würde seit Monaten Überstunden machen und auch an den Wochenenden arbeiten, erklärten etwa die Bayerische Landesärztekammer und der Verband der Akkreditierten Labore im vergangenen Herbst, am Höhepunkt der zweiten Welle.

    Im Unterschied zu den Beamten in den Gesundheitsämtern können die Arbeitnehmer in privatwirtschaftlichen Laboren nicht Tag für Tag arbeiten, erklärt Martina Benecke, die an der Universität Augsburg den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht innehat. Denn das Arbeitszeitgesetz für Arbeitnehmer gelte zwar nicht für Staatsbeamte – wohl aber für die Angestellten in den Laboren. Im vergangenen Jahr sei das noch anders gewesen, sagt die Professorin. Von April bis Juli galt die Covid-19-Arbeitszeitverordnung, die regelte, dass auch Nicht-Beamte flexiblere Arbeitszeiten haben können.

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