Schikanen bei der Bundeswehr? Wäre diese Geschichte nicht so ernst, würden Altgediente noch auf die Idee kommen, zu sagen: Ach, Schikanen bei der Bundeswehr. Und von den „üblichen Ritualen“ erzählen, wie man früher „Frischlinge gepiesackt“ hat, mit Saufspielen wider Willen oder verwüsteten Spinden, die der Kamerad dann in schweißtreibender Millimeterarbeit wieder ordnen musste. Und sie würden womöglich mit den Worten schließen: „Das hat doch jeder Soldat mitgemacht“ oder gar: „Hat doch nicht geschadet.“
Diese Geschichte hat einigen Menschen geschadet. Sehr sogar. Hier geht es um nichts weniger als: Körperverletzung, Nötigung, Freiheitsberaubung oder „sexualbezogene Verfehlungen“, wie es die Staatsanwaltschaft Traunstein noch vorsichtig nennt. Und es ist nicht das erste Mal für die Bundeswehr, dass sie mit solchen Vorwürfen konfrontiert wird, beileibe nicht. Was kommt da noch auf sie zu?
Nun reagiert auch Ursula von der Leyen
Ursula von der Leyen ist Oberbefehlshaberin von gut 178.000 Soldaten im Land. Sie hat nun auf ziemlich ungewöhnliche Art ihrem Ärger Luft gemacht. Nicht wegen Pfullendorf, dem Fall, der im Januar den traurigen Anfang machte. Auch nicht wegen Bad Reichenhall, dem jüngsten Schauplatz übler Geschichten aus einer deutschen Kaserne. Sondern wegen eines weiteren Falles, bei dem die Staatsanwaltschaft gerade das Verfahren eingestellt hat. Dabei sei die betroffene Soldatin „von einem Kameraden körperlich bedrängt und sexuell belästigt“ worden, sagt von der Leyen.
Ungewöhnlich an diesem Vorgang ist, dass die Verteidigungsministerin die Begründung für die Einstellung des Verfahrens öffentlich als „inakzeptabel“ und „abenteuerlich“ kritisiert. Demnach habe die Staatsanwältin der Soldatin geschrieben: „Bei dem von Ihnen beschriebenen ,Imponiergehabe‘ des Beschuldigten (Posen, Muskelspiel, Aufforderung zum Sex, Griff an das Gesäß) ist jedoch nach allgemeinem (vorwiegend männlichem) Verständnis davon auszugehen, dass der Beschuldigte sein ,Interesse‘ an Ihnen damit kundtun und nicht, dass er Sie beleidigen wollte.“
Von der Leyen macht deutlich, dass sie das anders sieht. In ihrem Brandbrief heißt es: „Ich dulde in der Bundeswehr kein Verhalten, das die Würde, die Ehre und die Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung von Soldatinnen oder Soldaten und der zivilen Beschäftigten verletzt.“
Warum sind schon wieder die Gebirgsjäger betroffen?
Und Bad Reichenhall? Dazu erwähnt sie kein Wort. Dass der Brief der Ministerin gerade jetzt veröffentlicht wurde, sei „purer Zufall“, heißt es in ihrem Ministerium. Dabei birgt gerade dieser neue Fall aus dem Berchtesgadener Land gewaltigen Zündstoff. Und wirft so brisante Fragen auf wie: Warum sind schon wieder Gebirgsjäger betroffen?
Diese Truppengattung gilt als Eliteeinheit bei der Bundeswehr. Ausgerechnet sie hat in den vergangenen Jahren immer wieder beklemmende Schlagzeilen geliefert: Betrunkene Soldaten, die den Hitlergruß zeigen. Ekelerregende Aufnahmerituale mit rohem Fleisch und Alkoholexzessen. Makabre Posen mit Totenschädeln in Afghanistan. Kriegsspiele für Kinder bei einem Tag der offenen Tür – in der Hochstaufen-Kaserne in Bad Reichenhall. Und nun, in der gleichen Kaserne, der Vorwurf von sexueller Belästigung und Volksverhetzung. Die Gebirgstruppe als schwarzes Schaf der Bundeswehr?
Die jetzigen Ermittlungen gegen 14 Soldaten laufen schon eine ganze Weile. Ein Obergefreiter berichtet dem Wehrbeauftragten im Oktober 2016, er sei zwischen November 2015 und September 2016 eben in Bad Reichenhall „mehrfach diskriminiert sowie verbal und tätlich sexuell belästigt und genötigt worden“. Die Staatsanwaltschaft Traunstein ermittelt zumindest gegen einen Bundeswehr-Angehörigen wegen Mobbings und „sexualbezogener Verfehlungen“ und gegen drei weitere Personen wegen Volksverhetzung und Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz.
Aus einem Brief des Verteidigungsministeriums an den Bundestag geht hervor, dass unter den Beschuldigten zwei Feldwebel und zwei Unteroffiziere seien. Der damalige Teileinheitsführer sei im Dezember aus seiner Funktion herausgelöst und ersetzt worden, heißt es. Der Fall sei „äußerst bedauerlich und vollkommen inakzeptabel“. Die Kommandeure hätten jedoch „umsichtig und konsequent reagiert“.
Auch der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels (SPD), lobt die Aufklärung. Er macht sich Anfang März ein Bild von der Lage in Bad Reichenhall. Nichts sei vertuscht worden, sagt er.
Aber warum die Gebirgsjäger, warum Bad Reichenhall? Die Kleinstadt mit ihren rund 18.000 Einwohnern ist Sitz der Gebirgsjägerbrigade 23 mit insgesamt 5300 Soldaten an fünf südbayerischen Standorten, darunter Füssen. Sie gelten als körperlich besonders fit, sind für den Einsatz unter extremen Witterungs- und Geländebedingungen ausgebildet und ausgerüstet. Mehrfach wurden sie schon in Auslandseinsätze geschickt, nach Afghanistan etwa und in den Kosovo.
Bartels, der Wehrbeauftragte, will sich zu keiner Pauschalkritik an den Gebirgsjägern hinreißen lassen. Er sagt nur: Generell müsse man bei jungen Soldaten in Kampfverbänden genau hingucken. „Es gibt eine Notwendigkeit, sensibel zu sein, in manchen Bereichen mehr als in anderen.“ In Kasernen seien abends vermehrt Soldaten unter 25 Jahren unter sich. Sie seien „ziemlich leer geräumt, auch von Vorgesetzten“.
Auch in Pfullendorf gab es unrühmliche Vorfälle
Im oberschwäbischen Städtchen Pfullendorf sind keine Gebirgsjäger stationiert. Die Staufer-Kaserne ist Heimat des Ausbildungszentrums „Spezielle Operationen“. Dort erhalten Spezialkräfte in Bereichen wie Sanitätsdienst oder Überleben und Verhalten bei Gefangennahme ihr Rüstzeug. Und auch dort hat jetzt ein Skandal das Leben durcheinandergewirbelt.
Dieser Fall hat ebenfalls eine längere Vorgeschichte. Im Jahr 2014 beklagt sich eine Soldatin über den Umgang mit ihr in der Kaserne. Daraufhin wird eine Untersuchungskommission eingesetzt, die Ende 2014 ihren Bericht vorlegt. „Organisatorische Maßnahmen“ sollen Besserung bringen. Im August 2016 kommt es zu „entwürdigenden Handlungen“, wie das die Bundeswehr heute nennt, bei der sanitätsdienstlichen Ausbildung. Dabei werden nackte Soldaten gedemütigt und gefilmt. Die junge Offizierin Nicole E., im Rang eines Leutnants, meldet die Vorfälle an den Wehrbeauftragten. Sie bekräftigt ihre Vorwürfe im Oktober in einem Brief an die Ministerin. Die Truppe räumt ein, es sei zu Mobbing gegen die Frau gekommen. Eine umgehende Anweisung soll die Missstände bei der Ausbildung abstellen, wegen des Mobbings wird disziplinarrechtlich ermittelt. Sogar Generalinspekteur Volker Wieker, der ranghöchste Soldat der Bundeswehr, schaltet sich in die internen Ermittlungen ein. Bei sieben Mannschaftsdienstgraden, die Aufnahmerituale mit kalten Duschen zu verantworten haben, wird die Entlassung aus dem Dienst beantragt.
Aus einem geheimen Zwischenbericht, der unserer Zeitung vorliegt, geht hervor, dass es in der 2. Inspektion des Zentrums, die Soldaten für die medizinische Notfallversorgung im Kampf fit macht, alles andere als kameradschaftlich und professionell zugeht. Von „persönlichen Animositäten“ ist die Rede und gar von „mafiösen Strukturen“. Es habe eine Mauer des Schweigens gegeben, die Beteiligten deckten sich gegenseitig. Und dann ist da die Rede von einer Tanzstange im Aufenthaltsraum der Unteroffiziere. An dieser soll auch Leutnant E. im Sinne eines Aufnahmerituals in die Ausbilder-Gruppe „zur Gaudi“ höchstwahrscheinlich alkoholisierter Männer nackt auftreten.
Frauen wurden an den Genitalien betatscht
Die Frau verweigert sich allerdings dem Ritual und weiht den stellvertretenden Kommandeur des Zentrums ein. Der ordnet die unverzügliche Entfernung der Stange an. Entfernt wird auch der Chef der 2. Inspektion, ein Major. Man versetzt vier weitere Ausbilder sowie den Kompaniefeldwebel („Spieß“) auf andere Dienstposten. Auch die Demütigungen bei der Kampfsanitäter-Ausbildung, bei denen Soldaten entblößte Brüste und Genitalien von Kameradinnen betatschten, werden verboten. Schließlich muss auch der Kommandeur des Zentrums gehen, Oberst Thomas Heinrich Schmidt.
Parallel dazu nimmt die Staatsanwaltschaft Hechingen Ermittlungen auf. Im Fall der Praktiken bei der Kampfsanitäterausbildung handele es sich erst um Vorermittlungen, teilt die Behörde gestern auf Anfrage unserer Zeitung mit. Das zweite Verfahren, in dem es um die Aufnahmerituale geht, ist schon in einem fortgeschrittenen Stadium. Hier geht es um Vorwürfe der Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Nötigung. Sieben Mannschaftsdienstgrade werden beschuldigt.
In Pfullendorf hat sich eine „unerträgliche Atmosphäre“ entwickelt, sagt Ursula von der Leyen im Februar. „Der Standort braucht einen Neuanfang.“ Ist zu Bad Reichenhall bald Ähnliches von ihr zu hören? mit dpa und afp