Einmal im Jahr waren in dem beschaulichen Ort Pielenhofen bei Regensburg besonders viele Autos vor dem Kloster zu sehen. Das war stets der letzte Juli-Unterrichtstag der Vorschule der Regensburger Domspatzen, die dort bis 2013 beheimatet war. Dann fuhren die Internatszöglinge – Schüler der dritten und vierten Klassen – nach Hause in die Ferien. Sie fuhren fort aus einer Anstalt, in der vor allem in den 1950er, 60er und 70er Jahren eine „Atmosphäre der Angst“ geherrscht hatte, in einer „totalen Institution“ mit Lehrpersonal, von dem „zu allen Zeiten des Tages und der Nacht Gefahr“ ausging. So lauteten einige der Aussagen von Sozial- und Geschichtswissenschaftlern, die am Montag in Regensburg ihre Studien zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen bei den Regensburger Domspatzen vorgestellt haben.
Mindestens 547 Schüler sind bei den Regensburger Domspatzen Opfer von Gewalt geworden
In den schulischen Einrichtungen des weltberühmten Chors sind seit 1945 mindestens 547 Schüler Opfer von Gewalt geworden. Dies hatte vor zwei Jahren ein Gutachten eines Sonderermittlers ergeben. Die beiden jetzt vorgestellten Gutachten, die von Historikern der Universität Regensburg und von Soziologen der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden erstellt wurden, sollen nun vertieft die Ursachen dieser Missbrauchsfälle beleuchten. Dies auch, um möglichst viele Kenntnisse für Präventionsmaßnahmen bereitstellen zu können. Beide Studien werden demnächst veröffentlicht.
Wie Bernhard Löffler, Professor für bayerische Landesgeschichte, sagte, habe eine unübersichtliche, abgeschottete Organisation der Schulen dazu beigetragen, dass sich Schülermissbrauch ohne Kontrollmechanismen ausbreiten konnte. Umstände, die es möglich gemacht hätten, dass vor allem in den Internaten „annäherungsweise 12,6 Prozent der Schüler“ Opfer von Gewalt geworden sind. Dies sei zwar auch vor dem Hintergrund geschehen, dass körperliche Strafen in den 50er und 60er Jahren zu probaten Erziehungsmitteln gehört hätten. Jedoch hätten die Gewaltanwendungen bei den Regensburger Domspatzen in ihrer Massivität „auch die seinerzeit gesellschaftlich akzeptierten Vorstellungen von Strafe“ gesprengt. Dies könne bei einigen Tätern nur mit „persönlichen Deformationen“ erklärt werden.
Chorleitern der Regensburger Domspatzen ging es ur um den Erfolg des Chores
Die Brutalität hat im Fall der Domspatzen deutliche Wurzeln: Viele Kriegsteilnehmer, so das Gutachten, hätten mit ihren Gewalterfahrungen den Umgang mit den Kindern geprägt. Löffler wendete sich deshalb gegen die These, für viele Missbrauchsskandale sei die reformorientierte „68er-Pädagogik“ Ursache gewesen. Diese These hatte im April diesen Jahres der emeritierte Papst Benedikt XVI. aufgestellt, ein Bruder des langjährigen Regensburger Domkapellmeisters Georg Ratzinger, ein Chorleiter, dem das Gutachten „diverse Formen der Gewaltanwendung“ und Mitwisserschaft am „Prügelregime“ zuweist. Ihm und vielen anderen sei es nicht um pädagogische Inhalte, sondern um die gesangliche Exzellenz und den Erfolg des Chors gegangen.
Das Gutachten der Wiesbadener Sozialwissenschaftler konstatiert, die Berichte über psychische, physische und sexualisierte Gewalt und Vernachlässigung seien „hochplausibel“. Unmittelbare Konsequenzen der Gewalttaten seien Angst, Verletzungen, Schmerzen und Isolation gewesen, langfristige Folgen Albträume, Beziehungsprobleme, Depressionen. Psychologin Lisanne Breiling bewertete die heute gemachten Präventionsmaßnahmen an den besagten Schulen als „grundsätzlich geeignet“. Es gehe um einen weiteren „nachhaltigen Aufarbeitungsprozess“.
Regensburgs Bischof Rudolf Vorderholz will eine intensivere Aufarbeitung
Ob und wie der gelingt, ist nach wie vor strittig. Die beiden Gutachten sind Teil eines Maßnahmenkatalogs einer Kommission zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Regensburgs Bischof Rudolf Voderholzer sagte, es gehe vor allem um eine weitere „Intensivierung der Aufarbeitung“ und um ein Lernen aus diesem Prozess. Seinem Vorgänger Gerhard Ludwig Müller waren wiederholt eine sehr gebremste Aufklärungsabsicht und problematische Umgangsformen mit den Betroffenenvertretern vorgeworfen worden.
Historiker Löffler sprach nach der Pressekonferenz davon, wie er dem Thema einerseits „sprachlos und erschüttert“ gegenüberstehe, wie er aber andererseits als Wissenschaftler zur notwendigen wissenschaftlichen Einordnung des Geschehens beitragen könne. Für Udo Kaiser, eines der einstmaligen Opfer, geht das ganze Verfahren allerdings nicht weit genug: „Es hat sich nichts geändert“, sagt er. „ Denn an der Grundhaltung ändert sich nichts. Da müsste man schon 2000 Jahre Geschichte der Kirche aufarbeiten.“
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