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Bistum Augsburg: Missbrauch im Beichtstuhl: Feldafing und die Schatten der Vergangenheit

Unzählige Heimkinder soll der ehemalige Feldafinger Pfarrer missbraucht haben, viele davon in der Kirche.
Bistum Augsburg

Missbrauch im Beichtstuhl: Feldafing und die Schatten der Vergangenheit

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    Gabriele Höpfel will nicht länger schweigen. Sie will, dass Missbrauchsbetroffenen wie ihr geglaubt wird. Und, dass sie und alle anderen ihren „Seelenfrieden“ finden.

    Die 65-Jährige sagt, dass sich der einstige Feldafinger Pfarrer Otto Oehler in den 60er Jahren vor ihren Augen selbstbefriedigt habe. Im Beichtstuhl. Die Feldafinger Kinder mussten vor allen kirchlichen Festen beichten. „Wenn er die Beichte abgenommen hat, wollte er immer wissen, ob man sich selber anfasst und was man da macht. Oder ob man schon geküsst hat. Er hat dann nebenbei in diesem Häuschen die Hand an sich angelegt und hat sich da befriedigt. Ich war damals in der dritten Klasse, wo das losging“, erzählt sie. Gewehrt habe sie sich nicht. Niemandem habe sie bislang etwas gesagt, auch nicht ihren Eltern, damals. Sie habe sich gefürchtet. Oehler habe ihr mit der Hölle und mit dem Fegefeuer gedroht.

    Gabriele Höpfel aus Feldafing wirft dem Feldafinger Pfarrer Otto Oehler vor, sie in der Kirche St. Peter und Paul missbraucht zu haben.
    Gabriele Höpfel aus Feldafing wirft dem Feldafinger Pfarrer Otto Oehler vor, sie in der Kirche St. Peter und Paul missbraucht zu haben. Foto: Bayerischer Rundfunk

    „Ich war ein fröhliches Kind, hab immer gelacht“, sagt sie leise und in Erinnerungen versunken. „Er war ein schmieriger Typ.“

    Ein "pädophiles Netzwerk" am Starnberger See?

    Höpfel ist nicht sein einziges mutmaßliches Opfer. Aber sie ist nach gemeinsamen Recherchen unserer Redaktion mit dem ARD-Politikmagazin „report München“ die Erste, die aus dem Ort stammt. Sie war also kein Heimkind aus der Villa Maffei, die sich in Trägerschaft des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Bayern befand. Dort erlebten Betroffene nach eigenen Aussagen im Keller schwersten sexuellen Missbrauch durch weltliche Erzieher, Dorfpfarrer Otto Oehler sowie andere Priester rund um den Starnberger See. Von einem „pädophilen Netzwerk“ ist die Rede.

    Eine Rekonstruktion der Geschehnisse ist nicht einfach. Beschuldigte sind tot, Betroffene teils in hohem Alter und in psychisch wie physisch schlechter Verfassung. Akten und Dokumente sind rar. Und doch kehrt die Vergangenheit mit voller Wucht zurück – und viele beginnen jetzt, sich ihr intensiv zu stellen. Darunter der Paritätische Wohlfahrtsverband Bayern, die Stadt München und das katholische Bistum Augsburg, zu dem das oberbayerische Feldafing kirchlicherseits gehört.

    „Der Pfarrer hat so schön gepredigt – das war ein falscher Mann.“

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    Für diesen Text wurde mit über 30 Personen gesprochen – die Namen der Betroffenen sind geändert, um diese zu schützen.

    Ferdinand Schönau zählt zu ihnen. Er kehrt an jenem Tag an den Ort des Grauens zurück, die alte Feldafinger Kirche St. Peter und Paul. Sein Peiniger, Otto Oehler, starb 1991. In seinen Träumen spukt er noch herum.

    Schönau läuft vorsichtig auf seinen Krücken auf den Altar zu und sieht sich im Halbdunkel um. Stark blickt zu Jörg Jaegers, ihrem Traumatherapeuten. Er achtet darauf, dass sich die beiden nicht zu viel zumuten. In der heutigen Sakristei sagt Stark schließlich jenen Satz, der ihr besonders wichtig ist: „An diesem Ort hat uns Pfarrer Oehler missbraucht.“ Sie hält die Hände vors Gesicht und weint. „Mich auch“, sagt Schönau. „Ich sehe mich dort selbst als Kind nackt stehen. Der Pfarrer hat so schön gepredigt – das war ein falscher Mann.“

    Die ehemaligen Heimkinder Ferdinand Schönau (links) und Robert Waldheim werfen Oehler ebenfalls vor, sie in der Kirche St. Peter und Paul missbraucht zu haben.
    Die ehemaligen Heimkinder Ferdinand Schönau (links) und Robert Waldheim werfen Oehler ebenfalls vor, sie in der Kirche St. Peter und Paul missbraucht zu haben. Foto: Bayerischer Rundfunk

    Otto Oehler ist längst tot. Geredet wird nach wie vor über ihn. Besser gesagt: wieder. Jetzt, da Betroffene ihre erschütternden Geschichten erzählen. Jetzt, da ihnen der Paritätische Wohlfahrtsverband Bayern, die Stadt München oder das Bistum Augsburg versichern, dass sie ihre Schilderungen für glaubwürdig halten.

    In Feldafing wollen viele nicht glauben, was über den Pfarrer erzählt wird

    Was jetzt in Feldafing passiert, geschah ähnlich auch andernorts, nachdem Missbrauchsverdachtsfälle innerhalb der katholischen Kirche bekannt geworden sind. Wenn die Vergangenheit zurückkehrt, erinnern sich manche, manch andere nicht. Manche fordern schonungslose Aufarbeitung, manch andere wollen nicht glauben, was sich in ihrer Gemeinde abgespielt haben soll. Manche schimpfen auf „die Kirche“, manch andere wittern eine Diffamierungskampagne gegen sie.

    In Feldafing mit seinen etwas mehr als 4000 Einwohnern hört man nun häufig: Oehler müsse ein „Mann mit zwei Gesichtern“ gewesen sein.

    1991 ist Pfarrer Oehler gestorben. Diese Aufnahme zeigt das Sterbebild, das damals veröffentlicht wurde.
    1991 ist Pfarrer Oehler gestorben. Diese Aufnahme zeigt das Sterbebild, das damals veröffentlicht wurde. Foto: Daniel Wirsching/Gemeindearchiv Feldafing

    Martina Graefe arbeitet im Gemeindearchiv, das im „Alten Rathaus“ untergebracht ist. Im Keller, wie sie vor einem Treffen sagt. Der Keller, immerhin, hat Tageslicht und durch die Archivfenster kann sie nach draußen schauen: links das Tor der Villa Maffei, geradeaus das ehemalige Pfarr- und das ehemalige Mesnerhaus, rechts St.Peter und Paul. Oehler hatte kurze Wege.

    Zur Verabschiedung von Oehler in den Ruhestand kamen 500 bis 600 Feldafinger

    Auf einer Meldekarte sind sein Geburtsort im Kreis Nördlingen und sein Geburtstag im September 1900 vermerkt; auf dem Sterbebildchen seine Stationen als Priester, sein Todestag im Jahr 1991. „Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen“, liest man. Daten seines Lebens: sechstes von zwölf Kindern, der Vater Oberlehrer. Besuch des Gymnasiums in Kempten, Studium in Dillingen, Priesterweihe 1926.

    Von 1947 bis 1968 war er in Feldafing Pfarrer. Zu seiner Verabschiedung in den Ruhestand kamen 500 bis 600 Feldafinger, berichtete die Lokalpresse. Sie schrieb von einem prächtigen Gottesdienst. „Reizend und ergreifend wurde ein Gedicht von drei Schulkindern vorgetragen.“ Der Kirchenpfleger habe dem Pfarrer für „sein stilles und doch sehr tatkräftiges Wirken“ gedankt.

    Graefe hat die wenigen Dokumente, die zu Oehler vorhanden sind, vor sich auf einen Tisch gelegt. Sie hatte Kontakt zu seinen mutmaßlichen Opfern per Mail und Telefon. Zum ersten Mal im Oktober 2012, sagt die bald 62-Jährige. Ein ehemaliges Heimkind bat sie um Meldedaten. Ein weiteres schickte ihr seine Leidensgeschichte. „Ich konnte nach zwei Seiten nicht mehr weiterlesen – bis heute nicht.“ Damals habe sie einen älteren Feldafinger darauf angesprochen. Er habe sofort abgeblockt, der Pfarrer sei „ein guter Mann“ gewesen.

    Die Archivarin holt Architektenpläne aus einem Schrank, Mappe 18. Oehler plante 1948 den „Einbau eines Jugendheimes in das Nebengebäude des k(atholischen, die Red.) Pfarrhofes“. 1952 plante er einen Kindergarten. Eingereicht wurden die Zeichnungen wohl nicht. „Man macht sich da natürlich so seine Gedanken“, sagt Graefe. „Klar, vielleicht wollte er den Dorfkindern etwas Gutes tun. Oder wollte er möglichen Opfern näher sein?“ 2014 trat sie aus der katholischen Kirche aus, weil die Berichte der früheren Feldafinger Heimkinder sie so erschüttert hätten.

    Die Vergangenheit holte Robert Waldheim ein

    Sie betrachtet nun Fotos von der Einweihung der neuen Ortskirche, Hl. Kreuz, im Jahr 1965. Oehler hatte den Neubau vorangetrieben. Ferdinand Schönau sagt: Nach dem Festgottesdienst seien er und acht weitere Heimkinder „verteilt worden“ an Pfarrer der Nachbargemeinden. „Da wurden wir ausgesucht wie Obst – ,den mag ich, den ich‘.“ Derjenige, der ihn missbrauchte, habe ihn als „seine Sünde“ bezeichnet und ihm „vor lauter Geilheit ins Ohr gebissen“.

    Ein anderes ehemaliges Heimkind bestätigt das: Robert Waldheim, 69 Jahre. Er führte erfolgreich eine Autowerkstatt. Mit über 50 wurde er arbeitsunfähig – die Vergangenheit holte ihn ein. Auch er sagt, Oehler habe ihn missbraucht in der Sakristei der alten Kirche: „Da standen einige Leute rum, eine graue Matte lag am Boden und ein Kackhaufen drauf. Der Pfarrer saß auf einem roten Stuhl und hat mich in den Haufen reingedrückt.“ Auch im Keller der Villa Maffei sei er von Oehler mehrmals brutal vergewaltigt worden.

    Welche Funktion der Pfarrer im Heim hatte, ist unklar. Nach Aussage des Bistums Augsburg war er nicht der Religionslehrer der Heimkinder. „Manchmal kamen Erzieher oder Erzieherinnen runter, dann kam der Pfarrer. Irgendeiner hat dich immer benutzt“, erinnert sich Waldheim. Verteilt und weitergereicht worden seien nicht alle Kinder im Heim, sondern nur etwa neun: jene, die keinen Besuch von Eltern erhielten, Kinder, um die sich niemand kümmerte. Mehrere von ihnen sind schon gestorben.

    Einer der mutmaßlichen Tatorte: die Kirche St. Peter und Paul in Feldafing.
    Einer der mutmaßlichen Tatorte: die Kirche St. Peter und Paul in Feldafing. Foto: Marcus Merk

    Das Bistum Augsburg hält die Schilderungen für plausibel

    Martha Stark sei nach der Einweihung der Heilig-Kreuz-Kirche ebenfalls an Geistliche weitergereicht worden, erzählt Ferdinand Schönau. Sie selbst weiß es nicht mehr genau. Noch nicht. Seit Februar macht die 65-Jährige eine Traumatherapie, die Erinnerungen kehren langsam zurück. Mit sechs Jahren kam sie in die Villa Maffei. Davor lebte sie im „Hänsel- und Gretel-Heim“ in Oberammergau, das Personal stellten Nonnen der Niederbronner Schwestern. Ein Geistlicher, der nach Ordensangaben seine Sommerurlaube im Gästehaus verbrachte, habe sie vergewaltigt. „Ich musste mich auf den Schoß des Paters setzen. Dann hat er mir die Hose ausgezogen und sagte, das gehört zur Liebe.“

    Das Bistum Augsburg hält die Schilderungen dieser drei ehemaligen Heimkinder nicht nur für plausibel, sie hätten auch höhere finanzielle „Leistungen in Anerkennung des erlittenen Leids“ als üblich erhalten, erklärt es. Zudem „wurden und werden die Kosten gewünschter Therapiemaßnahmen übernommen“. Insgesamt vier Heimkinder hätten sexuellen Missbrauch durch Pfarrer Oehler gemeldet, sagt das Bistum auf Anfrage, „im Jahr 2015/2016“ bei der Missbrauchsbeauftragten. Meldungen von Betroffenen oder Bürgern aus dem Ort seien bisher nicht bekannt.

    Eine Nonne soll die Kinder zu ihren Peinigern gefahren haben

    Nach Oehler gefragt, gibt das Bistum an, dass seine Versetzung in den Ruhestand 1968 „unseres Wissens nach“ auf seinen gesundheitlichen Zustand zurückzuführen gewesen sei. Es gebe noch seine Personalakte, sie sei archiviert. „Allgemein einsehbar“ sei sie wegen der archivrechtlichen Sperrfristen, die bis 40 Jahre nach seinem Tod gelten, nicht. Als das Bistum im Jahr 2018 Ergebnisse einer lokalen Auswertung der bundesweiten sogenannten MHG-Studie vorstellte, sprach es von 85 Beschuldigten und 164 Opfern. Oehler, heißt es nun, sei in der Studie erfasst worden. Aber: „Zu Gruppenexzessen sexuellen Missbrauchs verbunden mit extremen Demütigungen und ritueller Gewalt“ lägen keine Informationen vor.

    Tür zur früheren, nicht mehr existierenden Sakristei in der Feldafinger Kirche St. Peter und Paul. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich die heutige Sakristei.
    Tür zur früheren, nicht mehr existierenden Sakristei in der Feldafinger Kirche St. Peter und Paul. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich die heutige Sakristei. Foto: Marcus Merk

    Gruppenexzesse. Die Vorwürfe der ehemaligen Feldafinger Heimkinder reichen noch weiter: Sie seien auch in einen Keller des Benediktinerklosters Ettal gebracht worden. Robert Waldheim musste nach eigener Aussage viermal in den Sommerferien wochenlang dorthin, mit anderen Kindern; Busfahrerin sei eine Nonne gewesen. Nonnen seien an Missbrauchsritualen beteiligt gewesen.

    Ferdinand Schönau sagt, man habe ihn von einem Zeltlager abgeholt und nach Ettal gebracht: „,Da bekommt ihr gutes Essen und Eis‘“, wurde ihm gesagt. „Es war schon dunkel, ich wurde in ein Gewölbe gebracht. Da kamen Männer rein mit Taschenlampen. ‚Zieht euch jetzt mal aus, wir wollen euch begutachten‘.“ Martha Stark war nach eigener Aussage einmal in Ettal. Auf der Hinfahrt sei sie mit Tabletten ruhig gestellt worden. Abt Barnabas Bögle teilt mit: „Außerhalb der Presseberichterstattung haben wir weder von externer noch von interner Stelle Kenntnisse oder Belege zu den Vorwürfen erlangt.“ Robert Waldheim kann das nicht nachvollziehen, denn bereits 2009 habe er an das Kloster geschrieben.

    Der Privatforscher Vladimir Kadavy – ehemaliges Heimkind aus Oberammergau und kein Missbrauchsopfer – und Traumatherapeut Jörg Jaegers kommen zu dem Schluss: Es müsse ein Netzwerk aus Tätern und Mitwissern gegeben haben. Anders sei es nicht möglich gewesen, dass die Kinder an die verschiedenen Tatorte verbracht worden seien, meint Kadavy. „Wir haben die Vernetzung der Aussagen von Betroffenen aus unterschiedlichen Kontexten, die sich überhaupt nicht kannten“, fügt Jaegers an.

    Den Abgrund ausleuchten soll eine unabhängige Studie im Auftrag des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Bayern. Die Verbandsvorsitzende Margit Berndl sagt, man habe die Berichte der ehemaligen Heimkinder als glaubhaft eingestuft und wolle „heute die Verantwortung für die Taten von damals vollumfänglich übernehmen“. Annette Eberle, eine aus Augsburg stammende Professorin für Pädagogik in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München, Campus Benediktbeuern, hat eine Vorstudie abgeschlossen, die im Laufe des Monats veröffentlicht werden soll. Sie bildet die Grundlage für die Beauftragung einer Hauptstudie. Die Netzwerkthese konnte sie bislang nicht belegen, spricht jedoch von „rechtsfreien Räumen“ in den Heimen.

    Gab es ein Täter-Netzwerk, dem auch Oehler angehörte?

    Aufarbeiten will auch die Stadt München. Eine Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen Kriminalbeamten Ignaz Raab, in die auch Traumatherapeut Jaegers berufen wurde, trifft sich möglicherweise in diesem November zum ersten Mal. Binnen der nächsten sechs Monate soll eine erste Entscheidung über Entschädigungszahlungen an Betroffene herbeigeführt werden, erklärt eine Sprecherin des Sozialreferats. Auch diese Kommission der Stadt München geht unter anderem der Frage nach, ob es ein Täter-Netzwerk gab. Das Jugendamt der Stadt hatte Heimkinder wie Martha Stark, Robert Waldheim und Ferdinand Schönau in die Feldafinger Villa Maffei eingewiesen. Hat es seine Kontrollpflicht verletzt?

    Wenn die Vergangenheit mit Wucht zurückkehrt. In der Sakristei der 1965 eingeweihten Heilig-Kreuz-Kirche in Feldafing haben sich Pfarrer Leander Mikschl und fünf Zeitzeugen versammelt. Mikschl ist seit wenigen Jahren in der Gemeinde. Er ist um Transparenz bemüht. Nach dem Gespräch meint er: „Für mich sind die Vorwürfe plausibler geworden.“ Oehler habe sich offenbar sicher sein können, dass aus der „Parallelwelt Kinderheim“ nichts nach außen dringe.

    Der heutige Feldafinger Pfarrer Leander Mikschl ist um Transparenz bemüht.
    Der heutige Feldafinger Pfarrer Leander Mikschl ist um Transparenz bemüht. Foto: Marcus Merk

    Georgine Straßner spricht für viele, nicht nur der Anwesenden, als sie über die Heimkinder sagt: „Die waren ganz abgeschottet.“ Und Oehler? „Mit Pfarrer Oehler“, sagt die 79-Jährige, macht eine Pause und setzt neu an: „Wir hatten eine wunderschöne Zeit mit ihm.“ Dass er irgendjemanden angefasst oder blöd angeredet hätte? „Nichts.“ Korrekt bis zum Äußersten sei er gewesen. Doch man sieht ihrem Gesicht an, wie sie zweifelt.

    „Ich glaube nicht, dass ich die Einzige war, mit der er das so gemacht hat.“

    Gabriele Höpfel undefined

    Hier die Welt des Dorfes, dort die des Heimes. Dazwischen eine unsichtbare Grenze. Heinz Ludwig, 82, zum Beispiel erinnert sich an den Schäferhund der Villa Maffei, an die Heimkinder nicht. „Man hat immer gesagt, die seien behindert – ob sie’s waren, wissen wir nicht“, ergänzt Straßner.

    Für umso größeres Entsetzen sorgt unter den versammelten Zeitzeugen, dass sich mit Gabriele Höpfel erstmals eine Betroffene zu Wort meldet, die kein Heimkind war. Die erzählt, wie sie im Beichtstuhl zusehen habe müssen, wie sich Oehler befriedigt habe. Wie er gestöhnt habe. Und sie, als er fertig gewesen sei, von ihren Sünden losgesprochen habe. Sie habe danach in einer Kirchenbank beten müssen. Bis er zu ihr gekommen sei, ihr seine Hand aufgelegt und gesagt habe, sie dürfe gehen. Jahrelang habe sich das wiederholt. „Es war der Horror.“ Nachts wache sie noch schweißgebadet auf. Sie sagt: „Ich glaube nicht, dass ich die Einzige war, mit der er das so gemacht hat.“

    Eine Betroffene aus dem Dorf, kein Heimkind. Georgine Straßner kann es nicht fassen. „Das gibt’s doch gar nicht!“, ruft sie. Franz Schrödl, 81, stimmt ihr zu. Er war Ministrant, im Alter von zehn bis 18 Jahren. Er könne „überhaupt nichts Negatives“ über Oehler sagen. Dafür zweifelt er an manchen Schilderungen der Betroffenen und unterstellt ihnen, sie seien hauptsächlich an einer finanziellen Entschädigung interessiert.

    Die Vorwürfe sind für Franz Schrödl schwer begreifbar: Er könne nichts Negatives über Pfarrer Oehler sagen, betont er.
    Die Vorwürfe sind für Franz Schrödl schwer begreifbar: Er könne nichts Negatives über Pfarrer Oehler sagen, betont er. Foto: Marcus Merk

    Georgine Straßner fragt: „Warum kommt das jetzt erst?“ Beides – oft vorwurfsvoll geäußert – hören Missbrauchsbetroffene regelmäßig. Es schmerzt sie einmal mehr. Pfarrer Leander Mikschl, der Notfallseelsorger war, hat das Gespräch schweigend verfolgt, nun sagt er: „Menschen, die in ihrer Kindheit traumatisiert werden, können das lange gut zudecken.“ Georgine Straßner nickt.

    Traumata können auch nach Jahrzehnten wieder hochkommen

    Anruf bei Kinder- und Jugendpsychiater Jörg M. Fegert vom Uniklinikum Ulm. Es sei nicht untypisch bei Traumata, dass für gewisse Zeiten Dinge nicht erinnert werden und diese dann hochkommen, erläutert er. „Es gibt auch viele Betroffene, die schweigen, weil sie kein Gehör gefunden haben. Erst, wenn sich eine gesellschaftliche Situation ändert, kann es sein, dass sie sich trauen, das Erlebte anzusprechen.“ Das Motiv zu sprechen, zeige die Forschung, sei meist ein altruistisches: „Betroffene gaben überwiegend an, sie wollten verhindern, dass heutigen Kindern ähnlich Schlimmes passiert. Die eher niedrigen Anerkennungsleistungen und die ellenlangen Verfahren, um sie zu beantragen, erlebe ich eher als Belastung für viele Betroffene“, sagt der Professor.

    Auch das Phänomen von Täter-Netzwerken ist ihm bekannt – wenngleich nicht konkret auf Feldafing bezogen: „Das Phänomen von Täter-Netzwerken ist mir immer wieder begegnet. In Familien gab es entsprechende Vernetzungen, aber auch innerhalb der katholischen Kirche.“

    Betroffene können sich beim Pfarr- und Gemeinderat sowie einer Historikerin melden

    All das bleibt schwer begreifbar. Etwa für Franz Schrödl. Von „den Medien“ sei Oehler zum „großen, bösen Mann“ gemacht worden, meint er. Er sagt das nicht sonderlich vorwurfsvoll, er sagt es, als sei das ein Fakt, mit dem man eben umgehen müsse. Damit umgehen, das muss ganz Feldafing. Ein schmerzlicher Prozess – für die Pfarr- und die politische Gemeinde.

    Mitglieder von Pfarr- und Gemeinderat wollen ihr Möglichstes zur Aufarbeitung beitragen. Betroffene wurden aufgerufen, sich zu melden oder mit Annette Eberle in Kontakt zu treten. Diese besuchte Martina Graefe im Gemeindearchiv, sprach mit Zeitzeugen und erhielt vom Bistum Augsburg Informationen aus der Personalakte zu Oehler.

    Die Kirche St. Peter und Paul wurde für die Betroffenen zum Ort des Schreckens.
    Die Kirche St. Peter und Paul wurde für die Betroffenen zum Ort des Schreckens. Foto: Marcus Merk

    Als Bürgermeister Bernhard Sontheim, 1959 geboren, von den Vorwürfen gegen den früheren Pfarrer erfuhr, war sein erster Gedanke: „Das ist ein Skandal, der seinesgleichen sucht.“ So erzählt er es bei einem Treffen im Rathaus. Er sage ungern „Pfarrer Oehler“, er nenne ihn: „dieser Mensch.“ Als ihm bewusst geworden sei, dass ihn dieser Mensch getauft habe, sei ihm schlecht geworden.

    Auch Sontheim ist aus der katholischen Kirche ausgetreten. Als Bub, fällt ihm ein, habe er bloß mit „frisch g’waschenem Sonntagsg’wand“ in die Kirche gehen dürfen. Einmal sei die Hose nicht trocken geworden, er verpasste den Gottesdienst. In der nächsten Religionsstunde habe ihn Oehler gefragt, warum er nicht da gewesen sei – und ihm eine Watschn gegeben. „Das war das erste Mal, dass ich an der Kirche gezweifelt habe“, sagt Sontheim. Seinen Eltern sagte er nichts. Er habe gedacht, er sei schuld. Und ohnehin: „Mir wurde beigebracht, dass Gott einen bestraft.“

    1987 wurde Oehler in Betzigau die goldene Bürgermedaille verliehen

    Kurz vor seinem Ruhestand zitierte die Lokalpresse Pfarrer Otto Oehler: „Es wäre bestimmt noch einige Jahre möglich gewesen, hier in Feldafing zu arbeiten, aber ich bin der Meinung, dass ich jetzt lieber etwas weniger arbeite und dafür länger.“ Er zog ins Allgäu. Und auch dort muss man sich der Vergangenheit stellen: in Betzigau. Im Gemeindeteil Hochgreut verbrachte Oehler seine Tage als angesehener Mann. Aus der Zeitung erfuhren die Feldafinger im Februar 1987, dass er „mit einer hohen Auszeichnung geehrt“ worden sei. „Für seine großen Verdienste um die Gemeinde

    Im Juli beschloss der Gemeinderat von Betzigau aus „Respekt vor den Opfern“, Oehler – der auch den Ehrentitel „Bischöflicher Geistlicher Rat“ führte – die Bürgermedaille „mit sofortiger Wirkung“ abzuerkennen. „Missbrauchsvergehen dieser Art missbilligt der Gemeinderat ausdrücklich und bringt hiermit sein tiefstes Bedauern zum Ausdruck“, hieß es. Roland Helfrich, der Bürgermeister von Betzigau, sagt, Missbrauchsvorwürfe aus Hochgreut oder Betzigau seien nicht bekannt oder gemeldet worden. Der Gemeinderat und er seien der Überzeugung, dass Vorfälle wie in Feldafing „von der Kirche vollständig und umfassend aufgeklärt werden müssen, um den Opfern in respektvoller Weise zu ihrem Recht zu verhelfen“.

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    Foto: Marcus Merk

    Die Betroffenen fordern eine Entschuldigung von der Kirche

    Der Augsburger Bischof Bertram Meier kommentiert auf Anfrage die Vorgänge in Feldafing: „Jedwedes Leid, das willentlich Kindern und Jugendlichen zugefügt wird, ist eine tiefe Verletzung.“ Das gelte besonders, wenn Repräsentanten der Kirche für dieses Leid verantwortlich sind beziehungsweise waren. „Wir müssen hinschauen, hinhören, alles dafür tun, dass solche Dinge nicht mehr geschehen. Doch dafür gibt es keine Garantie, da wir es mit Menschen zu tun haben, die schwach werden können. In jedem Fall müssen Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Jeden und jede der Betroffenen schließe ich in meine Gebete ein, voller Scham für das, was Menschen anderen Menschen antun können.“

    Reicht den Betroffenen das? Robert Waldheim hat einen Wunsch. Er will, dass hochrangige Vertreter der Kirche anerkennen, dass ihm dieses unfassbare Leid angetan wurde: „Wichtig wäre, dass die hohen Leute zu uns hingehen und sich persönlich entschuldigen.“ Gabriele Höpfel hat sich bislang noch nicht an die Missbrauchsbeauftragte des Bistums Augsburg gewandt. Das will sie jetzt tun.

    Auch das Politikmagazin „Kontrovers“ berichtet an diesem Mittwoch (21.15 Uhr, BR Fernsehen). Die Reportage „report München extra: Das Netzwerk der Täter“, die sich ebenfalls mit dem Fall beschäftigt, ist in der ARD-Mediathek zu sehen.

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