Da sitzen also der Fredi und der Örni und schauen in das Himmelsweißblau dieses Sommertages. Mücken surren durch die Mittagsträgheit, die Kastanienbäume rauschen im Wind, es riecht nach Steckerlfisch und Schweinsbraten. Der Kies knirscht unter den Füßen des Kellners, der am Tisch der beiden Männer vorbeigeht. Fredi hebt die Hand und sein leeres Glas und sagt: „Schorschi, machst mir noch eine Halbe.“
Wenn man so will, dann sind der Fredi und der Örni Symbolfiguren der bayerischen Biergartenkultur. Mehrmals in der Woche kommen sie hierher, in den Augustiner-Keller in der Münchner Arnulfstraße, den ältesten Biergarten der Stadt. Dann sitzen sie an dem mächtigen, massiven Ganter-Stammtisch, reden mit den anderen Gerstensaft-Gesellen über Gott, die Welt, das Bier, Bayern. 1964 wurde der Stammtisch gegründet, für den es momentan sogar eine Warteliste gibt. „Es ist diese besondere Atmosphäre, die den Biergarten ausmacht“, sagt der Fredi. Der Örni nickt und nimmt einen Schluck. Ihre ganzen Namen wollen sie nicht sagen. In München kenne man sie. Im Biergarten sowieso.
Bayern und seine Biergärten. Das ist mehr als nur ein Lebensgefühl unter Kastanien. Mehr als idyllische Zünftigkeit. Bayern und seine Biergärten gehören zusammen, wie der Radi und das Brotzeitbrettl, wie die Schaumkrone und das Weißbier. Die Tradition, draußen zu essen und zu trinken, ist mittlerweile mehr als 200 Jahre alt. Die Geschichte, die dahintersteckt, ist diese: Früher durfte das vorwiegend getrunkene untergärige Bier wegen der Sommerhitze nur in der kalten Jahreszeit gebraut werden, von Michaeli im September bis Georgi im April. Und da auch die Lagerung ein Problem war, weil das Bier bei hohen Temperaturen schnell schlecht wurde, legten die Brauer tief unter der Erde Bierkeller an – schließlich wollte man Bier nicht nur im bitterkalten Winter, sondern auch im Sommer trinken.
Viele dieser Keller gibt es noch heute, etwa den unter dem Augustiner-Biergarten, der im Winter mit Eis aus dem Nymphenburger Kanal gefüllt wurde, um ihn für die kommenden Monate in eine Art Kühlschrank zu verwandeln. Und weil das Bier bei der Auslieferung im Sommer schnell zu warm geworden wäre, wurde es Sitte, es gleich vor Ort zu trinken. Über dem Keller. Im Schatten der Kastanien, die extra gepflanzt worden waren, damit die Sommersonne nicht auf die Kühlkeller brannte. In vielen Regionen Bayerns sagt man noch heute, man gehe „auf den Keller“, wenn man einen Biergarten besucht.
1812: Geburtsstunde der bayerischen Biergärten
In den neuen Schänken wurde auch etwas zu essen angeboten – und das führte schließlich zu einem handfesten Streit. Denn die Wirtsleute in der Nähe der Bierkeller fürchteten um ihr Geschäft. Erst der königliche Erlass von 1812, die eigentliche Geburtsstunde der bayerischen Biergärten, brachte Frieden: Zwar wurde den Brauern offiziell erlaubt, außerhalb von Gaststätten ihr Bier auszuschenken, der Verkauf von Speisen aber wurde verboten. Die Bürger durften ihr Essen selbst mitbringen. Und dieses Brotzeitrecht hat bis heute Bestand.
Davon mache aber kaum mehr jemand Gebrauch, sagt Christa Zoller, Mitinhaberin des Schlössles in Offenhausen, einem Stadtteil von Neu-Ulm. Zoller, blonde Haare, Brille, weiße Trachtenbluse, sitzt an einem Holztisch vor dem Gasthaus. „So gut wie niemand bringt heute noch sein eigenes Essen mit in den Biergarten“, sagt sie. Einmal aber habe sie erlebt, wie dreiste Gäste die Brotzeiterlaubnis schamlos ausgenutzt haben: Statt sich, wie es Tradition ist, ein Wurstbrot oder ein paar Radieserl mitzubringen, wollten sie den Pizza-Service rufen. „Das geht eindeutig zu weit“, sagt Zoller und schüttelt den Kopf.
Die Wirtin ist in eine wahre Bier-Dynastie hineingeboren. Seit 1879 betreibt ihre Familie das Gasthaus, noch heute wird das Bier selbst gebraut. Die Kastanienbäume, deren Blätter an diesem Sommernachmittag sanft im Wind schaukeln, wurden von ihrem Urgroßvater gepflanzt. Und es gibt noch mehr Geschichten: Zoller deutet nach oben, zum zweiten Stock des historischen Gebäudes. Einst saß dort Napoleon in einem der Zimmer, überblickte die Gefechtslage vor Ulm und koordinierte seine Truppen auf dem Schlachtfeld.
Von dem Fenster, durch das der Feldherr einst schaute, blickt man heute auf das Grünbraun der Bäume und viele Bänke. Etwa 500 Menschen finden im Schlössle-Biergarten Platz. Und diese Gäste, die haben sich über die Jahre sehr verändert, meint Zoller. „Es gibt nicht mehr so viele Stammgäste“, sagt sie. „Und es wird heute viel weniger getrunken.“ Früher machten die Getränke 65 Prozent des Umsatzes aus, heute erzielt der Biergarten mehr Umsatz mit dem Essen. An einem heißen Hochsommertag wurden damals gute 1000 Liter Bier getrunken. Heute ist es etwa die Hälfte. „Die meisten holen sich auch keine Maß mehr, sondern nur eine Halbe“, sagt Zoller, hält kurz inne und fügt hinzu: „Es ist aber ja nicht schlecht, wenn man bewusster mit dem Thema Alkohol umgeht.“
Weniger Alkohol - aber Sehnsucht nach dem blauen Himmel
Eines aber ist über die Jahre immer gleich geblieben: die Sehnsucht nach dem Draußensein. Nach einem Schluck Bier, der nicht nur nach Heimat, sondern irgendwie auch nach Freiheit schmeckt. Und diese Sehnsucht lockt jährlich Millionen Menschen in die Biergärten des Freistaates. Einer, der sich mit der Faszination, die diese Orte ausüben, befasst hat, ist Alfons Schweiggert. „Ganz Bayern ist ein großer Biergarten“, heißt sein Buch. „Es ist diese Gemeinschaft, die den Biergarten ausmacht. Es sind Treffpunkte von Arm und Reich. Orte, wo der Universitätsprofessor mit dem Arbeitslosen spricht“, sagt Schweiggert. Es gehe darum, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, mit dem Nachbarn die Brotzeit zu teilen, sich zuzuprosten, aufs Leben anzustoßen. Und für einige Menschen sei der Biergarten eine geradezu spirituelle Erfahrung. „Manche sitzen einfach da und schauen in die Ferne. Bei diesen Leuten hat man das Gefühl, dass es eine Biergartenmeditation gibt.“
So ein Ort der Ruhe, ja beinahe der Meditation, ist die Waldschänke Eisbrunn. Ein Biergarten mitten im Wald, in der Nähe der berühmten Harburg im Landkreis Donau-Ries. Bienen schwirren über den Lavendelbüscheln, die in Blumentöpfen auf den Biertischen stehen. Die Bäume rauschen im Sommerwind – sonst hört man nichts. Kathrin Meyer, 31, kurze rote Haare, blau-weiß gemustertes Shirt, sitzt inmitten dieser Idylle auf einer Holzbank. „Mein Partner und ich haben uns hier den Traum von der Selbstständigkeit erfüllt“, sagt sie. Sie mag die Tradition, die Ruhe, die Gelassenheit. Und wie ihr geht es vielen. „Dass man im Sommer in den Biergarten geht, das gehört in ganz Bayern einfach dazu“, meint Meyer.
Im Frühling 2017 hat sie das Gasthaus mit dem großen Biergarten mitten im Wald übernommen. Und damit auch ein Stück Historie. Die Schänke ging aus einem botanischen Garten hervor, in dem allerlei seltene Bäume und Sträucher wuchsen. Ab 1860 gediehen hier auch ausländische Pflanzen. Exoten wie Tulpenbäume oder Douglastannen konnten bewundert werden. Der Ort wurde berühmt und zu einem Ziel von Ausflüglern aus ganz Süddeutschland – und die wollten auch verpflegt werden. Eine kleine Gaststube wurde eingerichtet, wo die Besucher mit Getränken aus dem angelegten Bierkeller versorgt wurden. Auch ein Biergarten entstand. Und in dem ist diesen Tagen mächtig viel los. „Das Geschäft läuft gut. Wir sind sehr zufrieden. Und der Wurstsalat ist der Verkaufsschlager“, sagt Meyer.
Das Geschäft läuft auch im Münchner Augustiner-Biergarten gut – scheinbar völlig unbeeindruckt vom Wirtshaussterben. Jedes Jahr verschwinden im Freistaat Traditionslokale, ein Viertel aller Ortschaften hat keine klassische Wirtschaft mehr. Das Biergartengeschäft aber, das brummt. Mehr als 200 Festangestellte gibt es im Augustiner-Biergarten. Vor acht Jahren waren es noch 78, erzählt Christian Vogler, der Wirt, der aus Zusmarshausen im Landkreis Augsburg stammt. Vogler ist schon lange im Gastronomie-Geschäft, arbeitete im Augsburger Edel-Restaurant „Die Ecke“, später in Sternerestaurants in Italien, China, Frankreich. „Irgendwann hatte ich die Schnauze voll von der Schicki-Micki-Gastronomie“, erzählt er und blickt hinein in den riesigen Biergarten, in dem 5000 Menschen Platz haben.
Biergarten: Geselligkeit und kuriose Geschichten
Der Biergarten ist aber nicht nur ein Ort des Genießens und der Geselligkeit, sondern auch ein Ort, an dem kuriose Geschichten passieren. Vogler denkt etwa an den Besuch der Rockband Nickelback zurück. Der Sänger war so begeistert von Voglers Lederhose, dass der ihm spontan eine auslieh. Und die trug der Rockstar dann beim Konzert in der bayerischen Landeshauptstadt. Vogler erinnert sich auch an einen Milliardär, der sich für viel Geld einen Stammtisch im Augustiner-Biergarten kaufen wollte. „Aber so funktioniert das nicht. Ich habe ihm gesagt, er soll regelmäßig vorbeikommen. Wenn er zu uns passt, dann darf er einen Stammtisch aufstellen.“ Dass der Mann womöglich mehrere Millionen hingeblättert hätte, hätte Voglers Meinung nicht geändert. „Es geht um die Tradition“, sagt er und deutet nach links, wo mehrere Männer an einem großen, wuchtigen Holztisch sitzen.
Zwei davon sind der Fredi und der Örni. Bis halb drei wollen sie heute bleiben. Vielleicht auch bis sechs. Kellner Schorschi kommt vorbei und bringt noch eine Halbe. Es riecht nach deftigem Braten und geräuchertem Fisch. Die Blätter der Bäume rauschen im Wind. Und die beiden Männer stoßen an und schauen in den weiß-blauen Bayern-Himmel.