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Schwaben: Bezirkstagspräsident Sailer im Interview: "Das Mitgefühl nimmt ab"

Schwaben

Bezirkstagspräsident Sailer im Interview: "Das Mitgefühl nimmt ab"

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    Martin Sailer ist der neue Bezirkstagspräsident des Bezirk Schwaben.
    Martin Sailer ist der neue Bezirkstagspräsident des Bezirk Schwaben. Foto: Marcus Merk

    Herr Sailer, was hat Sie am Amt des Bezirkstagspräsidenten gereizt?

    Martin Sailer: Das waren vor allem zwei Gründe: Zum einen ist es wie das Amt des Landrats ein Amt, das einem einen ganz großen Gestaltungsspielraum eröffnet, aus dem heraus man sehr viel bewegen kann. Vor allem auf unseren Kernfeldern, dem Sozialen und im Bereich Kunst, Kultur, Europa. Zum anderen, weil meines Erachtens der Bezirk gerade jetzt, in einer Zeit, in der unsere Gesellschaft immer weiter auseinanderzudriften droht, eine entscheidende Integrationsaufgabe hat.

    Sie haben schon beim Abschied Ihres Vorgängers Jürgen Reichert gesagt, dass Sie den Eindruck haben, die Empathie, das Mitgefühl, nimmt ab.

    Sailer: Ja, das Mitgefühl nimmt ab. Und wir als Bezirk müssen immer wieder daran erinnern, dass es darauf ankommt, wie wir als Gesellschaft mit schwächeren, mit kranken Menschen, mit Minderheiten umgehen. Dass sich gerade im Umgang mit benachteiligten Menschen der Wert einer Gesellschaft misst. Hier kommen auf die Bezirke in den nächsten Jahren ganz neue Herausforderungen zu, nämlich dafür zu sorgen, dass dieses Auseinanderdriften der Gesellschaft nicht weiter voranschreitet.

    Woran machen Sie denn überhaupt fest, dass das Mitgefühl schwindet?

    Sailer: Wir sehen doch überall einschneidende Veränderungen. So wird auf europäischer Ebene der Nationalgedanke immer wichtiger, die Idee Europas mit offenen Grenzen wird infrage gestellt, weil die Interessen des eigenen Staates in den Vordergrund gerückt werden. Stichwort: Brexit. Und das bricht sich runter bis in unsere Gesellschaft. Nicht mehr die ganze Gesellschaft wird in den Blick genommen, sondern der persönliche Vorteil, das individuelle Fortkommen. Die Basis aber, die Solidarität, die unsere Gesellschaft zusammenhält, bröckelt. Es wird zunehmend offen hinterfragt, ob das Einstehen für Schwächere überhaupt so sein muss. Auch finden sich immer weniger Menschen, die ein Ehrenamt übernehmen. Hier bricht gerade Stück für Stück etwas weg. Wir als Bezirke müssen da dagegenhalten.

    Aber was können Sie konkret tun?

    Sichtschutz ist bei Unfällen mittlerweile eine wichtige Vorkehrung, denn zu viele Schaulustige filmen oder machen Fotos. Sinkt also bei vielen Menschen die Bereitschaft, bei einem Unglück erst einmal zu helfen?
    Sichtschutz ist bei Unfällen mittlerweile eine wichtige Vorkehrung, denn zu viele Schaulustige filmen oder machen Fotos. Sinkt also bei vielen Menschen die Bereitschaft, bei einem Unglück erst einmal zu helfen?

    Sailer: Ich glaube, wir müssen überall dort, wo wir die Möglichkeit haben, uns als Bezirk öffentlichkeitswirksam zu präsentieren, den Finger in die Wunde legen. Dass das Mitgefühl schwindet, sehen Sie doch noch an einem anderen Beispiel: Wenn Rettungskräfte – übertrieben gesagt – als erstes Zäune aufbauen müssen und Decken hochhalten, damit die Gaffer am Unfallort nicht Fotos machen, dann hat sich in dieser Gesellschaft etwas verändert. Vor 20 Jahren hätten die Menschen angehalten, da hätten sich eher zu viele auf den Verletzten gestürzt, weil alle helfen wollten. Heute muss man sich die Frage stellen: Hält bald gar keiner mehr an einem Unfall an, um zu helfen? Denkt sich jeder nur, irgendeiner wird schon halten? Das ist doch das Ende unserer Gesellschaft. Diese Entwicklung bereitet mir große Sorge.

    Aber noch einmal: Was kann der Bezirk dagegen tun?

    Sailer: Wir müssen an allen Stellen, wo wir die Möglichkeit haben, aufstehen und deutlich machen, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nur funktioniert, wenn wir auf der einen Seite natürlich die Leistungsträger fördern, aber auf der anderen Seite für die da sind, die unsere Solidarität und unsere Unterstützung brauchen. Und dafür hat meines Erachtens der Bezirk auch das Gewicht und die Möglichkeiten dazu. Man werfe nur einen Blick auf unser Haushaltsvolumen: Wir gehen in der nächsten Wahlperiode auf über eine Milliarde Euro zu. Eine abschließende Antwort auf Ihre Frage gibt es hier allerdings nicht. Wir müssen uns als Bezirk auch etwas einfallen lassen, um mehr gehört zu werden.

    Denn Sie haben doch schon das Problem, dass viele Menschen gar nicht wissen, was der Bezirk überhaupt tut.

    Sailer: Wir leiden zum Beispiel sehr darunter, dass wir im Schatten der Landtagswahlen stehen. Daher wäre aus meiner Sicht der erste Schritt, die Bezirkstagswahl von der Landtagswahl zu trennen. Nur so haben wir überhaupt eine Chance, mit unseren Themen medial durchzudringen. Ich denke, dass unser Haushaltsvolumen eine eigenständige Wahl rechtfertigt. Und dann hätten wir zumindest zu diesem Zeitpunkt eine längere öffentliche Diskussion darüber, was die Bezirke leisten.

    Was haben Sie sich vorgenommen? Sagen Sie uns doch bitte drei Ziele.

    Sailer: Erstens: Wie gehen wir mit der wachsenden Zahl psychisch kranker Menschen um? Um ihre Bedürfnisse zu decken, müssen wir unsere Versorgungsstrukturen flächendeckend ausbauen. Auch will ich zweitens den Ansatz „ambulant vor stationär“ weiter vorantreiben. Und drittens beschäftigt mich, wie es uns gelingen kann, behinderte Menschen besser am ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Das heißt, dass Menschen mit einem Handicap nicht nur die Möglichkeit bekommen müssen, in einer Behindertenwerkstatt zu arbeiten, sondern wirklich in der freien Wirtschaft. Letzteres ist übrigens wieder eine Frage der Solidarität. Und es muss die Frage gestellt werden, ob hier jedes Unternehmen in konjunkturell so guten Zeiten schon seinen Beitrag leistet.

    Ihr Vorgänger hat Ihnen ein anderes Thema auf den Weg mitgegeben. Für Herrn Reichert ist es die Pflege.

    Sailer: Das ist ein großes Thema, das den Bezirk bereits seit Jahren beschäftigt und das wir zu einem Schwerpunktthema dieser Wahlperiode machen müssen.

    Welche Akzente wollen Sie in der Kultur setzen?

    Sailer: Da möchte ich zum einen das fortsetzen, was mein Vorgänger begonnen hat. So will ich beispielsweise die Depots für zeitgenössische Künstler aus Schwaben im Weiherhof in Oberschönenfeld im Landkreis Augsburg und in Maihingen im Ries weiter ausbauen. Hier wird jungen Menschen die Möglichkeit geboten, sich mit den Arbeiten der Künstler auseinanderzusetzen. Daneben kann ich mir neue Projekte etwa mit dem Jungen Theater oder mit Musicals vorstellen. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir temporär ganz neue Formen von Kunst und Kultur fördern. Und zwar Formen, in denen sich junge Menschen einbringen. Ihnen eine Plattform zu geben, das ist mir wichtig.

    Damit junge Menschen früh einen Bezug zum Bezirk bekommen, oder?

    Sailer: Ich bin überzeugt davon, dass wir schon sehr früh auf junge Menschen mit dem Thema Heimat, mit dem Thema Schwaben zugehen müssen. Nur so kann eine Identität geschaffen werden. Und davon profitieren wir später. Je früher junge Menschen Schwaben als ihre Heimat sehen, desto eher bleiben sie hier oder kommen nach einer Ausbildung, einem Studium wieder hierher zurück. Und die gut ausgebildete Jugend müssen wir versuchen hier zu halten.

    Aber braucht es den Bezirk dafür?

    Sailer: Also zum einen hat der Bezirk eine ganz wichtige Ausgleichsfunktion, damit sich ärmere und reichere Landkreise sowie kreisfreie Städte bestimmte Einrichtungen und Versorgungsstrukturen leisten können. Und gerade, wenn es um die Pflege der schwäbischen Kultur geht, ist der Bezirk unersetzlich. Denn schwäbische Kultur kann nur der Bezirk koordinieren.

    Haben Sie dafür ein Beispiel?

    Sailer: Sehr viele. Nehmen Sie als Beispiel nur das gesamte Ensemble Oberschönenfeld, also nicht nur das Kloster. Dass diese Anlage so erhalten werden konnte, ist ausschließlich dem Bezirk zu verdanken. Hätten damals alle Landkreise und kreisfreien Städte über den Erhalt entscheiden müssen, hätten sicher viele gesagt, das ist doch nicht unser Problem, das soll der Landkreis Augsburg machen. Der hätte das allein aber niemals finanziell stemmen können. Und so kann ich Ihnen für jeden Landkreis und für jede kreisfreie Stadt Beispiele nennen, wo der Bezirk als Förderer aufgetreten ist.

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