Wenn Vater, Mutter oder der Partner zum Pflegefall werden, denken viele Angehörige zunächst nicht groß nach. Sie sehen Bedarf und packen an, wo sie können. Fortan sind sie Manager über gleich zwei Leben – und organisieren Essen, Haushalt, Kleidung oder Arztbesuche für ihre Nächsten mit. Ein paar Tage später sind sie mit komplizierten rechtlichen Rahmenbedingungen rund um Pflegeversicherung und Vollmachten konfrontiert. Ein Bürokratie-Dschungel, der Zeit und Mühe beansprucht und in dem sich Angehörige alleingelassen fühlen. Und: Diejenigen, die zu Hause ihre Angehörigen pflegen, werden in Zukunft weniger werden. Dabei sind sie das Rückgrat des Systems. Die Pflege steht vor einer Wende.
In Deutschland waren zur letzten Erhebung des Statistischen Bundesamts Ende 2015 knapp 2,9 Millionen Menschen pflegebedürftig. 783.000 von ihnen wurden in einem Heim betreut. Die Mehrheit, knapp 2,08 Millionen, wurde zu Hause betreut. Bayernweit waren zum selben Zeitpunkt 348253 Menschen in Pflege. Auch hier wohnte nur ein Drittel in Heimen. Um 241.290 Pflegebedürftige kümmerten sich Angehörige.
20 Prozent aller pflegenden Angehörigen von Depression betroffen
Und gerade die haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen: Angebote wie die Kurzzeitpflege, die im Gesetz für Pflegebedürftige vorgesehen sind, können sie nicht in Anspruch nehmen, weil diese sehr knapp und oft ausgebucht sind. Der freie Markt, auf dem die Pflegeanbieter agieren, gibt nicht immer das her, was gebraucht wird. Verbände beklagen die Missstände seit Jahrzehnten. Sie sprechen von einem "Pflegenotstand" und fordern eine grundlegende Reform des Systems. Der Sozialverband VdK hat 2014 sogar mit einer Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht versucht, Mindeststandards zu erreichen, um die Rechte der Pflegebedürftigen zu sichern. 2016 lehnte das Gericht die Beschwerde ab.
Die Herausforderungen für das Pflegesystem werden größer – gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Künftig werden die Menschen älter und damit stärker auf Betreuung angewiesen sein. Noch leisten Angehörige den Hauptdienst, sie kümmern sich zu Hause um 70 Prozent aller Pflegebedürftigen. "Für mich sind sie die stillen Helden der Nation", lobt Hermann Imhof (CSU). Der Pflegebeauftragte der Bayerischen Staatsregierung rühmt ihre Verdienste, sagt aber auch: "Man sieht vielen Angehörigen an, dass sie Leid haben." Oft fehlen ein seelischer Anker, ein Ausgleich zum Pflegealltag oder schlichtweg Zeit. Das zeigte im Jahr 2015 auch eine repräsentative Studie der Krankenkasse DAK. Anhand von Versichertendaten kam sie zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent aller pflegenden Angehörigen schon unter Depressionen gelitten haben. Auch Angst- oder Schlafstörungen kamen gehäuft vor. Der Pflegebeauftragte Imhof sagt: "Einige überschreiten in der Pflege ihre eigenen Grenzen. Wir müssen überlegen, wie wir sie stärken können. Ohne pflegende Angehörige würde das System zusammenbrechen."
Weniger Zeit für Pflege - in Familien arbeiten heute oft beide Partner
Diese Einschätzung teilt die Münchnerin Brigitte Bührlen. Über 20 Jahre hinweg hat die heute 67-Jährige ihre Mutter im Alter begleitet, sie sieben Jahre lang zu Hause gepflegt – und sich oft gewundert, wie wenig Mitspracherechte Pflegebedürftige und deren Angehörige bekämen. Bührlen mahnt: "Die Zeit der stillen Helden geht zu Ende." Mit dem Pflegesystem konnte es ihrer Meinung nach nur so lange gut gehen, weil bis jetzt vor allem die Kriegsgeneration gepflegt habe, die traditionsbewusster gewesen sei.
Nun aber sei die Nachkriegsgeneration an der Reihe – und die verstehe Pflege als Wirtschaftssegment. "Mittlerweile arbeiten in den meisten Familien beide Partner. Sie werden weniger Zeit für Pflege aufwenden, weil sie sie schlicht nicht mehr haben." Das Pflegesystem werden sie dann auch stärker hinterfragen, glaubt Bührlen: "Wenn sie für eine Dienstleistung bezahlen, wollen sie wissen, was dabei herauskommt."
Stiftung macht sich für die Rechte pflegender Angehöriger stark
Bührlen selbst gibt sich nicht damit zufrieden, den Generationenwandel nur zu beobachten. 2010 hat sie in München die Initiative "Wir! Stiftung pflegender Angehöriger" gegründet, um deren Rechte in Politik und Gesellschaft zu stärken. "Immer noch wird zu viel für oder über pflegende Angehörige gesprochen, zu selten werden sie selbst mit ihren Anliegen gehört", beklagt sie. Dabei nimmt sie auch die Betroffenen in die Pflicht. Die sollten nicht auf Angebote von Staat oder Wirtschaft warten, sondern selbst Bedarf melden und Verbesserungen einfordern. Und das beginne schon auf ganz kleiner Ebene, sagt Bührlen: "Wir müssen klar sagen, was wir brauchen – sei es in Heimbeiräten, Bürgersprechstunden oder in Gruppen mit anderen Pflegenden."
Bührlen selbst vertritt die Rechte pflegender Angehöriger nicht mehr nur als Stiftungsgründerin, sondern mittlerweile auch im Beirat für Vereinbarkeit von Pflege und Beruf des Bundesfamilienministeriums. Aber natürlich, fügt sie an, sei dieses Engagement auch eine Zeitfrage. "Das kann nicht jeder leisten." Pflegende Angehörige hätten meist genug zu tun. Bewusst habe sie ihre Stiftung erst gegründet, als ihre Mutter gestorben war. "Doch wenn nur ein paar Menschen ihre Stimme erheben, werden wir auch gehört."