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Bayern: Die Schattenseiten von Homeschooling: Wenn Schüler einfach abtauchen

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Die Schattenseiten von Homeschooling: Wenn Schüler einfach abtauchen

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    Einmal weg von der Schule, kommt es beim Lernen auf Eigeninitiative an. Mancher Schüler ist für seine Lehrkraft dann kaum mehr greifbar.
    Einmal weg von der Schule, kommt es beim Lernen auf Eigeninitiative an. Mancher Schüler ist für seine Lehrkraft dann kaum mehr greifbar. Foto: Armin Weigel, dpa

    Sie hat so lange angerufen, bis bei den Schülern zu Hause jemand abgenommen hat. Sie fuhr mit dem Fahrrad Arbeitsblätter aus und warf sie in Briefkästen, weil weder Kinder noch Eltern auf Kontaktversuche reagiert hatten. Immer wieder hat eine Augsburger Grundschullehrerin das in den Wochen des Lockdown erlebt. Eine Reihe weiterer Lehrer schildert gegenüber unserer Redaktion ähnliche Erlebnisse. Seit Mitte März der reguläre Unterricht ausgesetzt wurde, waren manche Schüler für die Lehrer einfach nicht mehr greifbar. Manche sind es immer noch nicht. Lehrer an Grund- und Mittelschulen erleben das genauso wie ihre Kollegen an Realschulen und Gymnasien.

    Die Erzählungen hinterlassen alle denselben Eindruck: Es liegt vor allem an der Beharrlichkeit der Lehrkraft, ob der Kontakt zu einem Schüler beim Lernen daheim bestehen bleibt oder nicht. "Bei einem Schüler bin ich vier Mal vorbeigefahren, bis ich ihn angetroffen habe", sagt ein Augsburger Mittelschullehrer, der wie seine Kollegen anonym bleiben möchte. In seiner Klasse seien rund 15 Prozent nur noch schwer zu erreichen.

    Dass sie wenig für die Schule tun, begründen die Schüler demnach häufig mit technischen Problemen. Coronabedingt finden die Lerneinheiten gerade meist digital statt. „Sie erklären, dass sie kein WLAN haben oder ihr Datenvolumen am Handy aufgebraucht ist“, sagt eine weitere schwäbische Mittelschullehrerin. Ob das stimmt oder ein Vorwand ist, sie weiß es nicht. „Ich telefoniere diesen Familien so lange hinterher, bis ich jemanden erreiche.“

    Augsburger Lehrer sagt: "Für manche ist das Schuljahr schon verloren"

    Vor allem die Schüler aus benachteiligten sozialen Verhältnissen und jene, die auch schon vor Corona Probleme im Unterricht hatten, drohen nun abgehängt zu werden. Dem Kultusministerium ist „bewusst, dass die häuslichen Rahmenbedingungen für das Lernen zu Hause sehr unterschiedlich sind“, sagt ein Sprecher auf Nachfrage. Um das Problem der technischen Ausstattung zu lösen, können sich Schüler die digitalen Endgeräte ihrer Schulen mittlerweile ausleihen. Wenn es nicht genügend gibt, stehen Mittel aus einem speziellen Digitalbudget zur Verfügung, mit denen die Schulträger weitere beschaffen können.

    Darüber hinaus liegt es laut Kultusministeriums an den Lehrkräften, dass Schüler aus benachteiligten sozialen Verhältnissen den Anschluss halten können. „Stellen Lehrkräfte fest, dass Schüler die Angebote des Lernens zu Hause nicht im angemessenen Umfang wahrnehmen (können), nehmen sie Kontakt mit den Erziehungsberechtigten auf, um Lösungen zu finden.“ Wenn das nur immer so einfach wäre. „An manche Schüler kommt man einfach nicht mehr ran. Für sie ist das Schuljahr jetzt schon verloren“, meint der Augsburger Mittelschullehrer.

    Grüne fordern Angebot für benachteiligte Schüler

    Die Grünen im Landtag fordern, für benachteiligte Schüler ein Präsenzangebot an Schulen zu schaffen. Die Lehrkraft solle entscheiden, wer dort gut aufgehoben ist. Auf diesen Vorschlag angesprochen, erläutert der Sprecher des Ministeriums: „Eine vorrangige Berücksichtigung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher bei einer gestaffelten Wiederaufnahme des Präsenzbetriebs oder eine generelle Öffnung der Notbetreuung für diese Zielgruppe würde diese stigmatisieren.“

    Jugendämter hingegen haben die Möglichkeit, ein Kind in die Schule zu schicken – genauer gesagt in die Notbetreuung. Eigentlich ist sie für Schüler da, deren Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten. Im Kreis Augsburg wurden zuletzt 59 Kinder auf Rat des Amts und in Absprache mit den Eltern in der Schule statt daheim betreut. „Mindestens ein Drittel sind Kinder von Alleinerziehenden, die wir als Jugendamt betreuen, die oft mehrere Kinder haben und mit der Situation komplett überfordert sind.“ Weitere Gründe seien „psychische Probleme der Eltern oder Verhaltensauffälligkeiten der Kinder.“ Nicht alle kämen aus sozial schwachen Familien. „Überlastung und psychische Probleme sind gesamtgesellschaftliche Phänomene.“

    Das Jugendamt darf nicht immer eingreifen

    Im Kreis Dillingen sind 16 Kinder in der Notbetreuung, im Kreis Donau-Ries drei. Aus dem Landratsamt heißt es, die Entscheidung werde, wann immer möglich, mit der Lehrkraft abgesprochen. In der Stadt Augsburg werden 28 Kinder auf Anraten des Jugendamts in der Schule betreut. Die pädagogische Leiterin Inka Wischmeier zählt die Vorteile auf: „Die Kinder kommen wieder mit ihren Freunden zusammen, sie erhalten Spiel- und Bildungsangebote, sind unter Beobachtung von pädagogischen Fachkräften.“ Kurz zusammengefasst: „Eskalierende Situationen in den Familien können frühzeitig wahrgenommen werden.“

    Bei Hannes Neumeier vom Jugendamt Augsburg-Land klingelt das Telefon gerade öfter als sonst. In der Leitung sind überforderte Mütter und Väter, die er nicht kennt. „Sie sind verzweifelt. Sie sagen: ,Wenn ich keine verlässliche Betreuung für meine Kinder habe, verliere meinen Arbeitsplatz.‘ Aber für diese Familien haben wir in der Regel keine Lösung parat.“ Das Amt darf nur eingreifen, wenn eine Familie vor Corona schon Hilfe hatte. „Es wäre für die Familien ein Segen, wenn sie irgendeine Perspektive hätten, wie es an Schulen und Kitas weitergeht. Nicht nur mit Blick auf die folgende Woche, sondern langfristiger.“

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