Nur wenige Schritte trennen an diesem Abend die intakte, lebensfrohe Hitparadenwelt von der Hölle der künstlerischen Selbstzerfleischung. Nebenan, im großen Zenith, wird der höchstens ein bisschen freche Stuttgarter HipPop-Held Casper gefeiert – im ausverkauften Kesselhaus nebenan dagegen steht einer auf der Bühne, der nicht nicht umsonst immer wieder als letztes Exemplar der legendären Zerrissenheit des wahren Rock-n-Rollers zwischen Genie und Wahnsinn gedeutet wird: der so talentierte wie abgründige Pete Doherty nämlich.
Exzessives Leben
Dem hätte man auch immer mal wieder eine Maske gewünscht. Denn nach all den Jahren des exzessiven Lebens samt Heroin, Alkohol und Straffälligkeit zeichneten nicht nur entzündete Einstichlöcher seine Arme – sein eigentlich noch immer bubenhaftes Gesicht zeugt zugleich ausgezehrt und aufgedunsen vom jahrelangen Überlebenskampf. Aber eben: Hier gibt es keine Maske.
Und gerade dafür wird Doherty auch so innig verehrt, für dieses existenzielle Drama inmitten der virtuellen Plastikwelt. Und immerhin: Am Mittwoch, zwei Tage vor dem Konzert in München, feierte er 35. Geburtstags, das legendäre Verfallsdatum der selbstzerstörerischen Talente mit 27 hat er also deutlich überlebt und tanzt noch immer auf demselben Grat, den er einst an den Seite von Carl Barat mit den fabelhaften Libertines öffentlich beschritten hat.
Diesmal nicht vergeblich gewartet
Und vor allem immerhin: Diesmal wartet München nicht vergeblich auf das Erscheinen des Renegaten, wie bei der letzten Tour, der zu seinem genialischen Solo-Songwriter-Album „Grace/Wastelands“, als die Zuschauer am Abend des Konzerts per Magephon wieder heimgeschickt wurde mit der Begründung, Herr Doherty sei nicht in der Lage aufzutreten – wie so oft auch schon den Babyshambles.
Nun also tritt Pete tatsächlich mit der Band auf die Bühne, die er einst nach dem drogenbedingten Rausschmiss bei den Libertines gegründet hat. Und dass er die Haare jetzt kurzrasiert trägt, vermittelt kurzzeitig einen erstaunlichen Eindruck, einen seltsam aufgeräumten nämlich. Und hatte das sehr facettenreich gelungene und ja quasi wieder ausschließlich von ihm komponierte Album der Band „Sequel to the Prequel“ nach sechs Jahren Pause nicht einen ebensolchen Eindruck vermittelt? Ja, er lebt wohl in Paris im Rausch feinsten Heroins – aber entfaltet sich darin das große Talent des Herrn Doherty nicht ganz neu und eben: aufgeräumter?
Bereits bei Betreten der Bühne prall
Der zweite Blick aber bereits genügte festzustellen: Pete war bereits bei Betreten der Bühne prall, kaum in der Lage, Gitarre zu spielen, pichelte auch unentwegt ordentlich weiter, wankend und lallend – und sah dabei eben auch scheiße aus. Für die Feinheiten der Platte brauchte es ja aber auch Timing und Bewusstsein. Wie also sollte das gutgehen?
Nun, es ging eben nicht gut. Und war dadurch fast schon wieder großartig. Denn natürlich ist Pete bei diesem Bedröhnungslevel nicht in der Lage, auch noch den Entertainer zu geben, wischt also die Herausforderungen zum Geplänkel aus den vorderen Zuschauerreihen einfach lallend weg mit dem Hinweis, man habe hier einen strikten Fahrplan einzuhalten. Der lautete für ihn nämlich: irgendwie eine Stunde durchhalten, dann schnell weg, keine Zugabe.
Besorgte Begleiter
Und natürlich wirken seine drei Begleiter immer ein bisschen besorgt, ob er nicht doch einfach umkippt oder versehentlich die Gitarre nicht lässig über Meter hinweg vorbei am wartenden Roadie schmeißt. Und natürlich bleibt den Babyshambles mit einem solchen Doherty nichts anderes übrig, als es einfach knallen zu lassen, sodass auch die an sich schöne Ballade „Nothing comes to Nothing“ zum Indie-Brüller aufgeschraubt serviert wird und die Country-Basis im an sich eher schwingenden „Fall from Grace“ räudig zerschrubbt als Mitgröler daherkommt. Denn ursprünglich stimmig sind in diesem Taumel eben nur nach torkelnde Reggaes wie „Dr. No“ oder Punk-Feuerwerke wie „Fireman“.
Aber was macht das schon? Ein solcher Pete Doherty muss kein innig schmerzliches „Picture me in a Hospital“ oder „Stranger in my own skin“ singen. Und er muss auch nicht, wie bei anderen Konzerten der Tour, nochmal auf die Bühne kommen, um solo (!) „Bonnie & Clyde“ oder ein schwelgendes „Albion“ aufzuführen. Der ganze selbstzerstörerische Wahn, der ganze morbide Zauber der Hinfälligkeit ist in der Haltlosigkeit dieses Abends bestens verwahrt.
Ein Desaster. Eine Wucht. Ein Abgrund
Und so bleibt zum Schluss nichts anderes als die furiose Babyshambles-Hymne „Fuck Forever“ und der Abgang. Pete winkt ein letztes Mal, lallt „Thank you“ und torkelt von dannen. Das Publikum bleibt aufgelöst und in plötzlicher Stille zurück, kaum einer murrt wegen der schnöden Stunde, denn: Was hatte man erwartet? Dass Pete Doherty plötzlich funktioniert? Als Gestalter eines hübsch getakteten, facettenreichen, jedenfalls rationalen Konzertabends? Eine Maskerade? Solcherlei fand ein paar Schritte weiter statt. Hier war der noch immer irgendwie lebende Pete Doherty irgendwie zu erleben. Keine Hitparade. Kein Vergnügen. Kein Schauspiel. Ein Desaster. Eine Wucht. Ein Abgrund. Danke dafür.