Startseite
Icon Pfeil nach unten
Bayern
Icon Pfeil nach unten

Augsburg: Opfer von Kinderarzt Harry S.: "Man fühlt sich einfach leer"

Augsburg

Opfer von Kinderarzt Harry S.: "Man fühlt sich einfach leer"

    • |
    Sie vertreten einen großen Teil der Opfer im Missbrauchsprozess gegen den Augsburger Kinderarzt Harry S.: die Anwälte Marion Zech, Bernd Scharinger und Florian Engert. Im Hintergrund setzt sich der Mediziner auf die Anklagebank.
    Sie vertreten einen großen Teil der Opfer im Missbrauchsprozess gegen den Augsburger Kinderarzt Harry S.: die Anwälte Marion Zech, Bernd Scharinger und Florian Engert. Im Hintergrund setzt sich der Mediziner auf die Anklagebank. Foto: Ulrich Wagner

    Er hat Harry S. seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen. Es ist das erste Aufeinandertreffen, seit Thomas*, heute 18 Jahre alt, weiß, dass er als Kind von S. betäubt und missbraucht wurde. Thomas setzt sich auf dem schwarzen Zeugenstuhl in der Mitte des Gerichtssaals. Er vermeidet den Blickkontakt zu dem Mann, der für ihn lange Zeit wie ein Vater war. Er wirkt äußerlich ganz gefasst, als er die Fragen der Richter beantwortet. Wie es im Inneren des jungen Mannes aussieht, das kann man nur erahnen.

    Thomas ist das erste Opfer, das am dritten Tag im Missbrauchsprozess gegen den Augsburger Kinderarzt Dr. Harry S., 40, zu Wort kommt. Der Angeklagte hat zugeben, dass er 21 Kinder missbraucht hat. Er räumt auch ein, dass er sich im Jahr 2008 zweimal an dem damals zehnjährigen Thomas vergangen hat – bei Hotelübernachtungen in Nürnberg und München. S. hatte den Jungen mit dem Beruhigungsmittel Tavor betäubt. Vor der Jugendkammer des Landgerichts sagt Thomas, er sei „in ein Loch“ gefallen, als er von dem Missbrauch erfuhr. „Man fühlt sich einfach leer“, erzählt er. „Und man weiß nicht mehr, ob man noch jemandem trauen kann.“

    Harry S. lernt im Jahr 2007 über das Rote Kreuz in Augsburg Andrea F.* kennen, die sich zu der Zeit entscheidet, sich von ihrem Mann zu trennen. S. wird zu einem wichtigen Freund für die Mutter zweier Jungen. Auch zu Sohn Thomas entwickelt S. bald ein enges Verhältnis, sie unternehmen Ausflüge. Thomas spricht selbst davon, dass Harry S. ihm ein „Ersatzvater“ war.

    Er hat von dem Missbrauch in den Hotelzimmern nichts geahnt und selbst nach der Verhaftung von S. im Herbst vorigen Jahres noch an dessen Unschuld geglaubt. Erst rund zwei Monate später, als Kripobeamte ihm Fotos von dem Missbrauch zeigten, wusste er, wie sehr er sich in S. getäuscht hat.

    Harry S. machte Fotos von seinen Taten

    Der Fall wäre womöglich nie ans Licht gekommen, hätte Dr. S. nicht viele seiner Taten fotografiert und gefilmt. Als Beamte seine Wohnungen in Augsburg und Hannover durchsuchten, nahmen sie Computer und Festplatten mit, auf denen Experten die Dateien entdeckten. Andrea F., 43, sagt über den Angeklagten, sie habe „noch nie einen Menschen so geliebt“. Sie beschreibt ihn als aufmerksamen, liebevollen Mann. Aus der Freundschaft sei eine Beziehung geworden, jedoch ohne Sex. Das habe sie nach einiger Zeit akzeptiert. S. habe ihr erklärt, er habe einen psychologischen Test gemacht und sei „asexuell“. Tatsächlich, das gibt S. heute zu, war er nie beim Psychologen.

    Mutter und Sohn machen seit Monaten eine Therapie, um den Vertrauensbruch zu verarbeiten. Die Frau sagt, sie bekomme die Bilder, wie sich S. an ihrem Jungen vergeht, nicht mehr aus dem Kopf. Sie mache sich Vorwürfe, dass sie nichts bemerkt habe. Andrea F. spricht mehrfach distanziert von „Herrn S.“, dann nennt sie ihn doch wieder „Harry“. Als Staatsanwältin Maiko Hartmann wissen will, wie sie heute über den Angeklagten denkt, senkt sie lange den Blick und schüttelt dann den Kopf. Sie kann das alles nur schwer in Worte fassen.

    Kinderarzt Harry S. entschuldigt sich bei den Opfern

    Harry S. bittet unter Tränen um Vergebung. „Was ich euch angetan habe, ist nicht zu entschuldigen“, sagt er mit gebrochener Stimme. Und er gibt zu: „Ich habe dich in manchen Punkten schamlos angelogen.“ Thomas wird er ein Schmerzensgeld von 16000 Euro zahlen.

    Auch bei weiteren Opfern, die im Prozess aussagen, entschuldigt sich S. Ein Jugendlicher, der im Kindergartenalter von dem Angeklagten in einen Keller gelockt und missbraucht wurde, erzählt, der Mann habe gesagt, er sei Arzt und müsse ihn und seinen Freund untersuchen. Ein anderer Junge berichtet, der Angeklagte sei nett gewesen und habe gebeten, bei der Suche nach einem Mann zu helfen. In einem Keller habe ihn der Fremde dann aufgefordert, die Hose runterzuziehen. Das Gericht will auf die Befragung mehrerer Opfer nicht verzichten, obwohl S. inzwischen ein umfassendes Geständnis abgelegt hat.

    Die Richter wollen sich ein genaues Bild seines Verhaltens und seiner Persönlichkeit machen. Diese Fragen spielen eine Rolle, weil ein Gutachter am Ende des Prozesses darüber befinden muss, wie krank S. ist und welche Aussichten eine Therapie hat. Es geht auch um die Frage, ob er wegen seiner Pädophilie vermindert schuldfähig ist oder nicht. Davon hängt das Strafmaß ab, das im Urteil festgelegt wird. Dem Kinderarzt droht nicht nur eine lange Haftstrafe, sondern auch die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. *Name geändert

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden